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Gerechtigkeit

Gerechtigkeit ist diejenige Tugend, welche in dem Bestreben des Menschen besteht, jedem das Seine zuteil werden zu lassen. Chr. Wolf (1679-1754) definiert: Iustitia virtus est, qua ius suum cuique tribuitur (Eth. II, § 576). Sie hat eine negative und eine positive Seite: jene zeigt sich darin, daß man den ändern nicht verletzt (neminem laede), diese darin, daß man dem anderen gibt, was ihm zukommt (suum cuique tribue). Vgl. Kant, Metaphys. d. Sitten, I. Einleitung, S. XLIII ff. Schon in der Natur kann man vielleicht einen gewissen Grad von Gerechtigkeit wahrnehmen, insofern man der Ansicht ist, dass sie jedes Ding seinem Zweck zuführt. Soweit dies der Fall ist, kann man Gerechtigkeit die Existenzform des Universums nennen. (Vgl. Schiller: „Die Natur ist ewig gerecht.“) Die Alten rechneten sie zu den vier Cardinaltugenden (s. d.), neigten aber dazu, in ihr die Summe aller Tugenden zu sehen. Schon der Dichter Theognis (um 660 T. Chr.) sagte V. 147, in der Gerechtigkeit sei alle Tugend befaßt (en de dikaiosynê syllêbdên pas’ aretê ’stin). Platon (427-347) sah in ihr die allgemeine Tugend, die nicht einem besonderen Teil der Seele angehört, sondern darin besteht, daß jeder Teil der Seele die ihm eigentümliche Aufgabe erfüllt. Bei Aristoteles (384-322) ist sie die vollkommenste unter den ethischen Tugenden (Eth. Nicomach. V. 5-6); sie umfaßt im allgemeineren Sinne alle anderen ethischen Tugenden, soweit sie sich auf den Nebenmenschen beziehen (hê men oun kata tên holên aretên tetagmenê dikaio-synê kai adikia, hê men tês holês aretês ousa chrêsis pros allon, hê de tês kakias Aristot. Eth. Nicom. V, 5 p. 1130 b 19). Im engeren Sinne ist sie die Tugend, die das Angemessene bezüglich Gewinns und Nachteils herstellt. Sie ist entweder distributiv (hen men esti eidos to en tais dianomais p. 1130b 31), sofern sie sich auf die Austeilung von Gütern und Ehren bezieht, oder kommutativ, diorthôtikon sofern sie freiwillige oder unfreiwillige Ausgleichung im Verkehr (to de loipon hen to diorthôtikon, ho gignetai en tois synallagmasin kai tois hekousiois kai tois akousiois Aristot. Eth. Nicom. V, 6 p. 1131b 25), bei Verträgen oder im Strafverfahren herstellt. Im N. T. steht ebenfalls oft Gerechtigkeit für Tugend überhaupt, z.B. Matth. 5, 17 ff. 7, 12. In neuerer Zeit faßt man sie mehr im engeren Sinne. Herbart (1776-1841) rechnet sie zu den praktischen Ideen oder Musterbegriffen und läßt sie aus dem Mißfallen am Streite hervorgehen.