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Siebentes Kapitel

Seit jener Nacht, in der er ohne augenscheinliche Ursache die melancholische Erinnerung an Auguste Langlois wachgerufen hatte, lebte sein ganzes früheres Leben wieder in ihm auf.

Er war unfähig, ein Wort der Bücher zu verstehn, die er zu Rate zog; selbst seine Augen lasen nicht mehr; es war ihm, als wenn sein Geist, von Literatur und Kunst übersättigt, sich weigerte, mehr in sich aufzunehmen.

Er lebte nur noch in sich selbst, nährte sich von seinem eignen Mark, gleich Tieren während des Winterschlafes; denn die Einsamkeit hatte wie ein Schlaftrunk auf sein Gehirn gewirkt. Nachdem sie ihn anfangs entkräftet und hingehalten hatte, brachte sie schließlich eine Empfindungslosigkeit mit unbestimmten Träumereien in ihm hervor; sie vernichtete seine Absichten, brach seinen Willen, führte ihm eine Reihe von Träumen vor, die er passiv ertrug, ohne auch nur zu versuchen, sich ihnen zu entziehn.

Die verworrne und ungeregelte Lektüre, das künstliche Denken, dem er sich seit seiner Zurückgezogenheit hingegeben hatte, glich einem Damm, mit dem er seine alten Erinnerungen umgab; dieser Damm war plötzlich gewaltsam durchbrochen, die Flut setzte sich in Bewegung, riß Gegenwart und Zukunft mit sich, um alles gleichsam unter Wasser zu setzen und seinen Geist mit einer unendlichen Traurigkeit zu erfüllen, auf der unbedeutende Ereignisse seines Lebens und alberne Nichtigkeiten wie Strandgut umherschwammen.

Das Buch, das er in der Hand hielt, fiel oft achtlos auf den Boden; er ließ sich gehn, ließ voll Widerwillen und Scham die Jahre seines vergangnen Lebens an sich vorüberziehn.

Was war das für eine Epoche!

Er versetzte sich in die Zeit der vornehmen Abendgesellschaften, der Rennen, des Spiels, seiner Liebeleien. Er erinnerte sich der Gesichter, der Mienen, der nichtssagenden Worte, die ihn mit der Hartnäckigkeit trivialer Melodien verfolgten, die man wohl gegen seinen Willen summt, die sich aber schließlich mit einemmal, und ohne daß man daran denkt, wieder verlieren. Diese Periode war von kurzer Dauer. Es trat darauf Gedächtnisruhe ein; er versenkte sich aufs neue in seine lateinischen Studien, um die Rückblicke selbst bis zum Eindruck zu verwischen.

Doch der Reigen war eröffnet, fast unmittelbar folgte eine zweite Phase, nämlich die Erinnerungen seiner Kindheit, besonders an die Jahre, die er bei den Jesuiten zugebracht hatte.

Diese Erinnerungen waren die entferntesten und doch klarsten seines Gedächtnisses, ihm scharf und tief eingegraben: der schattige Park, die langen Alleen, die Blumenbeete, die Bänke — alle die kleinen Einzelheiten stiegen in seiner Einsamkeit vor ihm auf. Er sah die Gärten sich beleben, hörte das Geschrei der Schüler, das Lachen der Lehrer, die sich während der Erholungsstunden unter die Schüler mischten und sich, den hochgeschürzten Priesterrock zwischen den Knien haltend, dem Ballspiel hingaben oder auch mit den jungen Leuten ganz ungezwungen wie Kameraden unter den Bäumen plauderten.

Die Jesuiten erlangten durch diese Methode einen wirklichen Einfluß auf das Kind, brachten es dahin, die geistigen Gaben, die sie kultivierten, gewissermaßen zu kneten, sie in eine bestimmte Richtung zu lenken, sie gleichsam mit besondern Ideen zu pfropfen, ihre Gedankenzunahme durch eine eindringlich einschmeichelnde Methode zu fördern, indem sie sich bemühten, ihren Schülern später, beim Eintritt in die Welt, zu folgen und sie zu unterstützen, indem sie ihnen liebevolle Briefe sandten, wie sie der Dominikaner Lacordaire an seine ehemaligen Zöglinge zu schreiben verstand.

Herzog Jean gab sich von dem Erziehungsverfahren Rechenschaft, das er, wie er sich einbildete, ohne Resultat hatte über sich ergehn lassen; sein Charakter, der allen Ratschlägen gegenüber rebellisch, spitzfindig, argwöhnisch und zum Widerspruch geneigt war, hatte ihn verhindert, durch ihre Zucht gebildet, ihren Lehren unterworfen zu werden. Einmal dem Kollegium entwachsen, hatte sein Skeptizismus nur noch zugenommen; sein Weg durch eine legitimistisch-unduldsame und beschränkte Welt, die Unterhaltung mit unwissenden Kirchenvorstehern und niedrigen Geistlichen, deren Ungeschicktheit den Schleier zerrissen hatte, der so kunstgerecht von den Jesuiten gewebt war, bestärkten nur noch seinen unabhängigen Geist und vermehrten sein Mißtrauen gegen jeden Glauben.

Er erachtete sich im ganzen genommen frei von jedem Band, von jedem Zwang; er hatte einfach, anders als alle andern, die im Lyzeum oder in weltlichen Pensionaten erzogen waren, der Anstalt und seinen Lehrern ein vortreffliches Andenken bewahrt; und jetzt, wo er mit sich zu Rate ging, kam er dahin, sich zu fragen, ob der Same, bislang auf unfruchtbaren Boden gefallen, nicht anfinge aufzugehn.

Und wirklich, seit einigen Tagen befand er sich in einem unbeschreiblichen Seelenzustand. Während eines Augenblicks glaubte er sich instinktmäßig der Religion zugeführt; bei der geringsten Beweisführung aber verflog seine Hinneigung zum Glauben; trotzdem blieb er voll Unruhe und Verwirrung.

Er wußte indessen wohl, indem er in sich ging, daß er niemals den Geist der wahrhaft christlichen Demütigung und Reue hätte; er wußte, daß der Augenblick, von dem der Pater Lacordaire spricht, dieser Augenblick der Gnade, „wo der letzte Lichtstrahl in die Seele dringt und die dort zerstreuten Wahrheiten in einem gemeinsamen Zentrum wieder fixiert,“ für ihn niemals käme; er fühlte nicht das Bedürfnis der Demütigung und des Gebetes, ohne die nach der Wahrheit der Priester keine Bekehrung möglich ist; er empfand nicht den Wunsch, Gott anzuflehn, dessen Barmherzigkeit ihm am wenigsten wahrscheinlich schien; und doch brachte es die Sympathie, die er für seine ehemaligen Lehrer bewahrte, dahin, ihn für sie und ihre Doktrinen zu interessieren. Diese unnachahmliche Sprache der Überzeugung, diese begeisternden Stimmen höherer Intelligenz fielen ihm wieder ein und hatten zur Folge, daß er an seinem Geist und seinen Kräften zweifelte. In seiner Einsamkeit, ohne neue Nahrung, ohne frisch empfundne Eindrücke, ohne Erneuerung der Gedanken und Austausch von Empfindungen, die von außen kommen, in dieser unnatürlichen Verbannung, in der er eigensinnig verharrte, stellten sich alle Streitfragen, die er während seines Aufenthaltes in Paris vergessen hatte, von neuem wie aufregende Rätsel vor seinem Geist dar.

Die Lektüre der lateinischen Werke, die ihm sonst angenehm war, Werke meist von Bischöfen und Mönchen verfaßt, hatte ohne Zweifel zu dieser Krisis beigetragen. Eingehüllt in eine Klosteratmosphäre, in einen Duft von Weihrauch, der ihm den Kopf benahm, hatten sich die Nerven aufgeregt; durch eine Ideenverbindung hatten diese Bücher die Erinnerungen an seine Jugendzeit bei den Jesuiten wieder ans Licht gefördert.

„Die Sache ist klar,“ sagte sich der Herzog Jean, indem er vernünftig nachzudenken und dem Gang dieser Einführung des Jesuitenelements in Fontenay zu folgen versuchte — „ich habe seit meiner Kindheit, und ohne es je gewußt zu haben, diesen Stoff, der noch nicht gegärt hatte, in mir selbst; diese Vorliebe, die ich immer für alle religiösen Sachen gehabt habe, ist vielleicht ein Beweis dafür.“

Dennoch versuchte er sich vom Gegenteil zu überzeugen; unzufrieden, nicht mehr unumschränkter Herr über sich selbst zu sein, holte er Gründe herbei. Er hatte sich notgedrungen der Geistlichkeit zuwenden müssen, da die Kirche allein die verloren gegangene Kunst und Form der Jahrhunderte gesammelt hatte; sie hat selbst bis zu den gewöhnlichen modernen Erzeugnissen herab die Formen der Goldschmiedekunst bewahrt, den Zauber der schlanken Kelche und der Hostiengefäße in ihrer edeln Rundung auf uns gebracht, sie hat sogar in dem modernen Aluminium, in unedeln Metallen, in farbigem Glas die Grazie der mittelalterlichen Formen beibehalten.

Die meisten der kostbaren Gegenstände, die im Museum von Cluny klassifiziert und wie durch Wunder der gemeinen Raubgier der Sansculotten entgangen sind, stammen aus den alten Abteien Frankreichs her. Ebenso wie die Kirche im Mittelalter die Philosophie, die Geschichte und Sprache vor dem Verfall geschützt hat, so hat sie auch die plastische Kunst hinübergerettet.

Bis zu unsern Tagen haben sich jene wunderbaren Muster von Geweben und Goldschmiedekunst erhalten, die die Fabrikanten kirchlicher Gegenstände verhunzen, ohne ganz auf die ursprüngliche entzückende Form verzichten zu können. Es war daher durchaus nicht überraschend, daß er hinter antiken Nippsachen hergejagt, daß er mit Hilfe zahlreicher Sammler die Reliquien bei den Antiquitätenhändlern in Paris und den Trödlern auf dem Lande aufgestöbert hatte.

Aber vergebens berief er sich auf diese Gründe; es gelang ihm nicht, sich vollständig zu beruhigen. Gewiß, indem er alles kurz zusammenfaßte, beharrte er dabei, die Religion als eine herrliche Legende, als eine großartige Betrügerei zu betrachten, und doch trotz all seiner Auslegungen fing sein Skeptizismus an zu wanken.

Die seltsame Tatsache bestand: er war jetzt weniger sicher als in seiner Kindheit, wo die Fürsorge der Jesuiten unmittelbar auf ihn gewirkt hatte, als er in ihren Händen, ohne Familienbande, ohne Einfluß von außen her, ihnen sozusagen mit Körper und Geist angehörte. Sie hatten ihm ebenfalls einen gewissen Geschmack für das Wunderbare eingeflößt, der sich langsam und unbemerkt in seiner Seele verzweigt hatte und der jetzt in der Einsamkeit aufblühte.

Beim Prüfen dieser seiner Gedanken, beim Suchen, ihre Fäden zu verbinden, die Quellen und Ursachen zu entdecken, kam er zu der Überzeugung, daß seine Handlungsweise während seines gesellschaftlichen Lebens von seiner Erziehung herrührte. Waren nicht seine Neigungen für das Verkünstelte, sein Verlangen nach dem Exzentrischen die Resultate besondrer Studien und Raffiniertheit? Gewissermaßen theologische Forschungen? Es waren im Grunde Erregungen und Begeisterungen zum Idealen, zum unbekannten Weltall, zu einer fern ersehnten Glückseligkeit, wie die, die uns die heilige Schrift verspricht.

Er hielt plötzlich an und brach den Faden seiner Betrachtungen ab.

„Mir scheint,“ murmelte er verdrießlich, „daß ich noch mehr getroffen bin, als ich glaubte, da ich mich selbst mit Worten, wie ein Kasuist, bekämpfe.“

Er verblieb nachdenklich, von einer unbestimmten Furcht bewegt.

„Ach! ich werde stumpfsinnig,“ sagte sich der herzogliche Einsiedler; „die Furcht vor dieser Krankheit wird, wenn das so weitergeht, schließlich die Krankheit selbst herbeiführen.“

Es gelang ihm, diesen Einfluß etwas abzuschütteln; seine Erinnerungen ließen nach, aber andre krankhafte Symptome machten sich bemerkbar; jetzt waren es die Gegenstände der Streitigkeiten allein, die ihn heimsuchten. Der Park, die Lehrer, die Jesuiten waren entschwunden. Er war gänzlich vom Abstrakten beherrscht; gegen seinen Willen dachte er an die widersprechenden Auslegungen der Glaubenssätze, an die verloren gegangnen Lossagungen von den Klostergelübden, die Pater Labbe in dem Werk über die Konzilien erwähnt. Brocken von diesen Kirchenspaltungen, Überbleibsel dieser Ketzereien, die während mehrerer Jahrhunderte die Kirchen des Westens und des Ostens trennten, fielen ihm wieder ein. Hier war es Nestorius, der der Jungfrau Maria den Titel Muttergottes streitig machte, weil im Mysterium der Inkarnation nicht Gott, sondern nur die menschliche Kreatur vorhanden war, die sie in ihrem Leibe getragen habe; da war es Eutyches, der da erklärte, daß das Bildnis Christi nicht dem der andern Menschen gleichen könnte, da die Gottheit, in seinem Körper domizilierend, die Form ganz und gar verändert habe; dann waren es wieder andre Zänker, die behaupteten, daß der Erlöser gar keinen Körper gehabt habe, daß dieser Ausdruck der heiligen Schrift nur bildlich zu nehmen sei; während sich Tertullian in seinem berühmten, beinahe materialistischen Axiom äußert: „Nichts, das ist, ist unverkörpert; alles was ist, hat einen Körper, der ihm eigen ist;“ und schließlich diese alte, während langer Jahre erörterte Frage: „Ist Christus allein ans Kreuz geschlagen worden, oder hat die Dreieinigkeit, eins in drei Personen, in ihrer dreifachen Persönlichkeit am Kreuze Golgathas gelitten?“

Alles das trieb ihn an, drängte ihn — und mechanisch wie eine einmal gelernte Aufgabe stellte er sich selber Fragen und suchte sie zu beantworten. —

Während einiger Tage war es in seinem Gehirn wie ein Wimmeln von Paradoxen, wie ein Flug von Haarspaltereien. Dann verwischte sich aber die abstrakte Seite und eine ganz plastische folgte ihr unter der Wirkung der Gustav Moreauschen Bilder, die an den Wänden aufgehängt waren.

Er sah eine ganze Prozession von Prälaten an sich vorüberziehn: Archimandriten, Patriarchen, die ihre goldbekleideten Arme emporheben, um die kniende Menge zu segnen, und ihre weißen Bärte beim Lesen und Gebeteleiern schütteln; er sah ganze Züge schweigender Büßer in die dunkeln Totengrüfte hinabsteigen, dann wieder sich unermeßliche Dome erheben, in denen weiß gekleidete Mönche von der Kanzel herunter donnerten.

Nach und nach verschwanden schließlich diese Gesichte. Er sah von der Höhe seines Geistes herab das Panorama der Kirche wie ihren erblichen Einfluß auf die Menschheit seit Jahrhunderten; er stellte sie sich verzweifelnd und großartig vor, wie sie dem Menschen das Schreckliche des Lebens und die Unfreundlichkeit des Schicksals dartue, Geduld, Reue und Aufopferung predige, versuche, die Schmerzen zu heilen durch den Hinweis auf die blutenden Wunden Christi, göttliche Vorrechte versichre, den Betrübten den besten Teil des Paradieses verspreche, die menschliche Kreatur zum Leiden ermahne, damit der Mensch Gott seine Trübsale und Sünden, seine Mißgeschicke und seine Sorgen als Sühnopfer darbringe.

Hier faßte Herzog Jean wieder Fuß. Gewiß war er durch dieses Geständnis der sozialen Schändlichkeit befriedigt, wieder aber empörte ihn das unbestimmte Heilmittel der Hoffnung auf ein beßres Leben.

Schopenhauer war ehrlicher, seine Doktrinen und die der Kirche gingen von einem gemeinschaftlichen Standpunkt aus; er stützte sich ebenfalls auf die Ungerechtigkeit und Schändlichkeit der Welt, er stieß auch mit seiner „Nachfolge Jesu Christi“ den schmerzlichen Ruf aus: „Es ist wirklich ein Elend, auf der Welt zu sein!“ Er predigte auch die Erbärmlichkeit der Existenz, die Vorteile der Zurückgezogenheit, warnte die Menschheit, daß, was sie auch tun möge und nach welcher Seite sie sich auch drehe, sie immer nur unglücklich bleibe: arm wegen der Leiden, die aus den Entbehrungen hervorgehn, reich im Verhältnis zu der unbesiegbaren Langeweile, die der Überfluß erzeugt; aber er pries kein Universalmittel an, vertröstete mit keinem Köder, um dem unvermeidlichen Übel abzuhelfen.

Er unterstützt nicht das empörende System der Erbsünde; versucht nicht zu beweisen, daß der ein allgütiger Gott sei, der die Spitzbuben beschützt, der den Dummköpfen hilft, die Kindheit vernichtet, das Alter verdummt und die Unschuldigen bestraft; er rühmt nicht die Wohltaten einer Vorsehung, die diese nutzlose, unverständliche, ungerechte und alberne Abscheulichkeit, das physische Leiden, erfunden hat; er versucht keineswegs wie die Kirche die Notwendigkeit der Qualen und Prüfungen zu rechtfertigen. Ruft er doch in seiner empörten Barmherzigkeit aus: „Wenn ein Gott diese Welt gemacht hat, so möchte ich nicht dieser Gott sein; das menschliche Elend bräche mir das Herz!“

Ach! er allein hatte das Richtige getroffen! Was waren alle die evangelischen Quacksalber neben seinen Abhandlungen von geistiger Gesundheitspflege? Er beabsichtigte nichts zu heilen, bot dem Kranken keine Entschädigung, keine Hoffnung an; aber seine Theorie des Pessimismus war im Grunde genommen die große Trösterin der auserwählten Geister, aller erhabnen Seelen. Sie offenbarte die Gesellschaft, so wie sie ist und hob die angeborne Dummheit der Frauen hervor.

Diese Betrachtungen erleichterten den Herzog von einer schweren Last. Dieser große Deutsche bannte seinen Gedankenschauer und brachte ihn durch die Berührungspunkte seiner beiden Doktrinen dahin, daß er diesen ebenso poetischen wie rührenden Katholizismus, in dem er erzogen war und von dem er in seiner Jugend die Essenz in allen Poren eingesogen hatte, nicht zu vergessen vermochte.

Diese Rückgänge zur Gläubigkeit quälten ihn, besonders seit sich Verschlimmerungen seiner Gesundheit zeigten; sie trafen mit den neu hinzugetretnen nervösen Störungen zusammen.

Seit seiner jüngsten Kindheit war er von unerklärlichen Abneigungen gemartert worden, von Schauern, die ihm den Rücken kalt hinunterliefen, ihm die Zähne zusammenpreßten, wenn er zum Beispiel nasse Wäsche sah, die von einem Mädchen ausgerungen wurde. Diese Wirkungen waren verblieben; noch heute litt er ganz besonders, wenn er einen Stoff zerreißen oder mit dem Finger auf Kreide reiben hörte, oder wenn er moirierte Seide anfaßte.

Die Ausschweifungen seines Junggesellenlebens, die übertriebnen Anstrengungen seines Gehirns hatten sein ursprüngliches Nervenleiden außerordentlich verschlimmert und das schon von seinen Vorfahren arg verbrauchte gesunde Blut nur noch verringert. In Paris hatte er bereits Kuren der Kaltwasserheilkunst durchmachen müssen, vornehmlich gegen das Zittern der Hände und gegen die entsetzlichen Schmerzen der Neuralgie, die ihm das Gesicht zerrissen, die Schläfen wie mit Hammerschlägen bearbeiteten, ihm die Augenlider wie mit Nadeln zerstachen und ihm Übelkeit erzeugten, die er nicht anders zu bekämpfen vermochte, als dadurch, daß er sich im Dunkeln auf den Rücken legte.

Diese Zufälle waren infolge seines geregeltern, ruhigern Lebens langsam verschwunden. Jetzt machten sie sich aber von neuem in andrer Form geltend, indem sie den ganzen Körper durchliefen; die Schmerzen gingen vom Schädel zum Leib und durchbohrten ihn gleichsam mit einem glühenden Eisen. Dann folgte ein nervös trockner Husten, der zu einer bestimmten Stunde anfing, eine immer gleiche Anzahl von Minuten währte, ihn aufweckte und ihn im Bett fast erstickte. Sein Appetit hörte ebenfalls auf. Nach jedem Versuch zum Essen konnte er kein zugeknöpftes Beinkleid, keine fest zugemachte Weste mehr ertragen.

Er enthielt sich aller geistigen Getränke, des Kaffees und Tees, trank nur noch Milch, nahm seine Zuflucht wieder zu den kalten Abwaschungen, stopfte sich voll Asa fœtida, Baldrian und Chinin, wollte selbst das Haus verlassen, um ein wenig im Freien zu spazieren, als eben die Regentage eintraten, die das Land schweigend und eintönig machten. Als letztes Mittel verzichtete er vorläufig auf jede Lektüre und, von Langeweile verzehrt, entschloß er sich, um sein müßiges Dasein zu ändern, ein Projekt auszuführen, das er aus Bequemlichkeit und Haß gegen jede Störung fortwährend aufgeschoben hatte, seitdem er sich in Fontenay niedergelassen hatte.

Da er sich nicht mehr an den bezaubernden Wirkungen des Stils zu berauschen vermochte, sich nicht mehr an den entzückenden Überraschungen des schönen Pathos aufregen konnte, beschloß er die Ausstattung seiner Wohnung zu vollenden, sich seltne Treibhausblumen anzuschaffen, um sich auf diese Weise eine materielle Beschäftigung zuzugestehn, die ihn zerstreuen, seine Nerven erholen, sein Gehirn ausruhen ließe. Er hoffte, daß der Anblick ihrer seltsamen und prachtvollen Schattierungen ihn etwas entschädigte für die wahrhaft wunderlichen Farben des Stils, den seine literarische Diät ihn momentan vergessen oder verlieren ließ.