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5. Die prinzipielle Funktion der rein phänomenologischen Psychologie für eine exakte empirische Psychologie

Die phänomenologisch reine Psychologie ist das unbedingt notwendige Fundament für den Aufbau einer „exakten“ empirischen Psychologie, die nach dem Vorbild der exakten rein physischen Naturwissenschaft seit deren neuzeitlichen Anfängen gesucht worden ist. Der prinzipielle Sinn der Exaktheit dieser Naturwissenschaft liegt in ihrer Fundierung auf das apriorische, in eigenen Disziplinen (reine Geometrie, reine Zeitlehre, Bewegungslehre usw.) entfaltete Formensystem einer denkmöglichen Natur überhaupt. Durch die Verwertung dieses apriorischen Formensystems für die faktische Natur gewinnt die vage induktive Empirie Anteil an der Wesensnotwendigkeit und die empirische Naturwissenschaft selbst den neuen methodischen Sinn, für alle vagen Begriffe und Regeln die diesen notwendig zu unterlegenden rationalen Begriffe und Gesetze zu erarbeiten. So wesentlich naturwissenschaftliche und psychologische Methode auch unterschieden bleiben, darin besteht ihre notwendige Gemeinsamkeit, daß auch die Psychologie, wie jede Wissenschaft, ihre „Strenge“ („Exaktheit“) nur schöpfen kann aus der Rationalität des „Wesensmäßigen“. Die Enthüllung der apriorischen Typik, ohne die Ich, bzw. Wir, Bewußtsein, Bewußtseinsgegenständlichkeit und somit seelisches Sein überhaupt undenkbar wäre — mit all den wesensnotwendigen und wesensmöglichen Formen von Synthesen, die von der Idee einer einzelseelischen und gemeinschaftsseelischen Ganzheit unabtrennbar sind — schafft ein ungeheures Feld der Exaktheit, das sich, und hier sogar unmittelbar (ohne das Zwischenglied der Limes-Idealisierung), in die empirische Seelenforschung überträgt. Allerdings ist das phänomenologische Apriori nicht das vollständige der Psychologie, sofern der psychophysische Zusammenhang als solcher sein eigenes Apriori hat. Es ist aber klar, daß dieses Apriori das der rein phänomenologischen Psychologie voraussetzt, wie nach der anderen Seite das reine Apriori einer physischen (und speziell organischen) Natur überhaupt.

Der systematische Aufbau einer phänomenologisch reinen Psychologie erfordert:

1) die Deskription der zum Wesen eines intentionalen Erlebnisses überhaupt gehörigen Einheiten, wozu auch das allgemeinste Gesetz der Synthesis gehört: jede Verknüpfung von Bewußtsein mit Bewußtsein ergibt ein Bewußtsein.

2) die Erforschung der Einzelgestalten intentionaler Erlebnisse, die in einer Seele überhaupt in Wesensnotwendigkeit auftreten müssen oder auftreten können; in eins damit die Erforschung der Wesenstypik der zugehörigen Synthesen, der kontinuierlichen und diskreten, der endlich geschlossenen oder in offener Unendlichkeit fortzusetzenden.

3) die Aufweisung und Wesensdeskription der Gesamtgestalt eines Seelenlebens überhaupt, also die Wesensart eines universalen „Bewußtseinsstromes“.

4) eine neue Untersuchungsrichtung bezeichnet der Titel „Ich“ (noch unter Abstraktion von dem sozialen Sinn dieses Wortes) hinsichtlich der ihm zugehörigen Wesensformen der „Habitualität“, also das Ich als Subjekt bleibender „Überzeugungen“ (Seinsüberzeugungen, Wertüberzeugungen, Willensentscheidungen usw.), als personales Subjekt von Gewohnheiten, von wohlgebildetem Wissen, von Charaktereigenschaften.

Überall führt schließlich diese „statische“ Wesensdeskription zu Problemen der Genesis und zu einer universalen nach eidetischen Gesetzen das ganze Leben und die Entwicklung des personalen Ich durchherrschenden Genesis. So baut sich auf die erste „statische Phänomenologie“ in höherer Stufe die dynamische oder genetische Phänomenologie. Sie behandelt als erste fundierende Genesis die der Passivität, in der das Ich als aktives unbeteiligt ist. Hier liegt die neue Aufgabe einer universalen eidetischen Phänomenologie der Assoziation, eine späte Rehabilitation der großen Vorentdeckungen D. Humes, mit dem Nachweis der apriorischen Genesis, aus der für eine Seele eine reale Raumwelt in habitueller Geltung sich konstituiert. Es folgt die Wesenslehre der Entwicklung personaler Habitualität, in der das rein seelische Ich innerhalb invarianter Strukturformen als personales Ich ist und seiner in habitueller Fortgeltung bewußt ist als sich immerzu fortbildendes. Eine besondere zusammenhängende Untersuchungsschicht höherer Stufe bildet die statische und dann die genetische Phänomenologie der Vernunft.