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2. Das rein Psychische der Selbsterfahrung und Gemeinschaftserfahrung. Die universale Deskription intentionaler Erlebnisse

Für eine Begründung und Entfaltung dieser Leitidee bedarf es als ein Erstes der Klärung des Eigentümlichen der Erfahrung und insbesondere der reinen Erfahrung von Psychischem und dieses rein Psychischen selbst, das sie offenbart und das zum Thema der reinen Psychologie werden soll. Wir bevorzugen naturgemäß die unmittelbarste Erfahrung, die uns je unser eigenes Psychisches enthüllt.

Die Einstellung des erfahrenden Blickes auf unser Psychisches vollzieht sich notwendig als eine Reflexion, als Umwendung des vordem anders gerichteten Blickes. Jede Erfahrung läßt solche Reflexion zu, aber auch jede sonstige Weise, in der wir mit irgend welchen realen oder idealen Gegenständen beschäftigt sind, etwa denkend oder in der Weise des Gemüts und Willens wertend, strebend. So, geradehin uns bewußt betätigend, sind in unserem Blick ausschließlich die jeweiligen Sachen, Gedanken, Werte, Ziele, Hilfsmittel, nicht aber das psychische Erleben selbst, in dem sie als solche uns bewußt sind. Erst die Reflexion macht es offenbar. Durch sie erfassen wir statt der Sachen schlechthin, der Werte, Zwecke, Nützlichkeiten schlechthin die entsprechenden subjektiven Erlebnisse, in denen sie uns „bewußt“ werden, uns in einem allerweitesten Sinne „erscheinen“. Sie alle heißen daher auch „Phänomene“, ihr allgemeinster Wesenscharakter ist es, zu sein als „Bewußtsein von“, „Erscheinung-von“ — von den jeweiligen Dingen, Gedanken (Urteilsverhalten, Gründen, Folgen), von den Plänen, Entschlüssen, Hoffnungen usw. Daher liegt im Sinne aller Ausdrücke der Volkssprachen für psychische Erlebnisse diese Relativität beschlossen, wahrnehmen von etwas, sich erinnern oder denken an etwas, etwas hoffen, befürchten, erstreben, sich entscheiden für etwas usw. Erweist sich dieses Reich der „Phänomene“ als mögliches Feld einer reinen, ausschließlich auf sie bezogenen psychologischen Disziplin, so versteht sich nun deren Kennzeichnung als phänomenologische Psychologie. Der terminologisch aus der Scholastik herstammende Ausdruck für jenen Grundcharakter des Seins als Bewußtsein, als Erscheinung von etwas ist Intentionalität. In dem unreflektierten Bewußthaben irgendwelcher Gegenstände sind wir auf diese „gerichtet“, unsere „intentio“ geht auf sie hin. Die phänomenologische Blickwendung zeigt, daß dieses Gerichtetsein ein den betreffenden Erlebnissen immanenter Wesenszug ist, sie sind „intentionale“ Erlebnisse.

Überaus mannigfaltige Artungen und Besonderungen fallen unter die Allgemeinheit dieses Begriffs. Bewußtsein von etwas ist nicht ein leeres Haben dieses Etwas, jedes Phänomen hat seine eigene intentionale Gesamtform, zugleich aber einen Aufbau, der in der intentionalen Analyse immer wieder auf Komponenten führt, die selbst intentionale sind. So führt z. B. die im Ausgang von einer Wahrnehmung (etwa eines Würfels) geübte phänomenologische Reflexion auf eine vielfältige und doch synthetisch vereinheitlichte Intentionalität. Es treten die kontinuierlich sich abwandelnden Unterschiede in den Erscheinungsweisen wechselnder „Orientierung“ hervor, des Rechts und Links, der Nähe und Ferne mit den zugehörigen Unterschieden der „Perspektive“. Ferner Erscheinungsunterschiede zwischen der jeweils „eigentlich gesehenen Vorderseite“ und der „unanschaulichen“ und relativ „unbestimmten“, jedoch „mitgemeinten“ Rückseite. Im Achten auf das Strömen der Erscheinungsweisen und die Art ihrer „Synthesis“ zeigt sich, daß jede Phase und Strecke schon für sich „Bewußtsein-von“ ist, aber so, daß sich im stetigen Auftreten neuer Phasen das synthetisch einheitliche Bewußtsein von dem einen und selben Gegenstand herstellt. Der intentionale Aufbau eines Wahrnehmungsverlaufes hat seine feste Wesenstypik, die in ihrer außerordentlichen Komplikation notwendig verwirklicht werden muß, wenn ein körperliches Ding schlicht wahrgenommen sein soll. Ist das selbe Ding in anderen Weisen anschaulich, z. B. in der Weise der Wiedererinnerung, der Phantasie, der abbildlichen Darstellung, so kehren gewissermaßen alle intentionalen Gehalte der Wahrnehmung wieder, aber alle in entsprechenden Weisen eigentümlich abgewandelt. Auch für jede sonstige Gattung psychischer Erlebnisse gilt Ähnliches: das urteilende, das wertende, das strebende Bewußtsein ist nicht ein leeres Bewußthaben der jeweiligen Urteile, Werte, Ziele, Mittel. Sie konstituieren sich vielmehr in einer strömenden Intentionalität mit einer ihnen entsprechenden und festen Wesenstypik. — Für die Psychologie eröffnet sich hier die universale Aufgabe: die typischen Gestalten der intentionalen Erlebnisse, ihrer möglichen Abwandlungen, ihrer Synthesen zu neuen Gestalten, ihres strukturellen Aufbaus aus elementaren Intentionalitäten systematisch zu durchforschen und von da aus zu einer deskriptiven Erkenntnis des Ganzen der Erlebnisse, des Gesamttypus eines Lebens der Seele fortzuschreiten. — Offenbar liefert die konsequente Verfolgung dieser Aufgabe Erkenntnisse, die nicht nur für das eigene seelische Sein des Psychologen Gültigkeit haben.

Seelenleben ist uns nicht nur zugänglich durch Selbsterfahrung sondern auch durch Fremderfahrung. Diese neuartige Erfahrungsquelle bietet nicht nur Gleichartiges mit der Selbsterfahrung sondern auch Neues, sofern sie die Unterschiede des „Eigenen“ und „Fremden“, sowie die Eigenheiten des Gemeinschaftslebens für uns alle bewußtseinsmäßig und zwar als Erfahrung begründet. Eben damit ergibt sich die Aufgabe, auch das Gemeinschaftsleben phänomenologisch nach all den zugehörigen Intentionalitäten verständlich zu machen.