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§ 1. Descartes’ Meditationen als Urbild der philosophischen Selbstbesinnung

An dieser ehrwürdigen Stätte französischer Wissenschaft über die transzendentale Phänomenologie sprechen zu dürfen, erfüllt mich aus besonderen Gründen mit Freudigkeit. Denn Frankreichs größter Denker, René Descartes, hat ihr durch seine Meditationen neue Impulse gegeben, ihr Studium hat ganz direkt auf die Umgestaltung der schon im Werden begriffenen Phänomenologie zu einer neuen Form der Transzendentalphilosophie eingewirkt. Fast könnte man sie danach einen Neu-Cartesianismus nennen, wie sehr sie, und gerade durch die radikale Entfaltung Cartesianischer Motive, genötigt ist, fast den ganzen bekannten Lehrgehalt der Cartesianischen Philosophie abzulehnen.

Bei dieser Sachlage darf ich wohl im voraus Ihres Anteils sicher sein, wenn ich an diejenigen Motive der Meditationes de prima philosophia anknüpfe, denen, wie ich glaube, eine Ewigkeitsbedeutung zukommt, und wenn ich daran anschließend die Umbildungen und Neubildungen kennzeichne, in welchen die transzendental-phänomenologische Methode und Problematik entspringt.

Jeder Anfänger der Philosophie kennt den merkwürdigen Gedankenzug der Meditationes. Vergegenwärtigen wir uns seine leitende Idee. Ihr Ziel ist eine völlige Reform der Philosophie zu einer Wissenschaft aus absoluter Begründung. Das beschließt für Descartes eine entsprechende Reform für alle Wissenschaften. Denn sie sind nach ihm nur unselbständige Glieder der einen universalen Wissenschaft, und das ist der Philosophie. Nur in ihrer systematischen Einheit können sie zu echten Wissenschaften werden. So wie sie aber historisch geworden sind, fehlt ihnen diese Echtheit, die der durchgängigen und letzten Begründung aus absoluten Einsichten — Einsichten, hinter die nicht zurückgegangen werden kann. Es bedarf daher eines radikalen Neubaues, der der Idee der Philosophie — als universaler Einheit der Wissenschaften in der Einheit solcher absolut rationaler Begründung — genugtut1. Diese Forderung des Neubaus wirkt sich bei Descartes in einer subjektiv gewendeten Philosophie aus. In zwei bedeutsamen Stufen vollzieht sich diese subjektive Wendung. Fürs erste: Jeder, der ernstlich Philosoph werderi will, muß sich „einmal im Leben“ auf sich selbst zurückziehen und in sich den Umsturz aller ihm bisher geltenden Wissenschaften und ihren Neubau versuchen. Philosophie — Weisheit (sagesse) — ist eine ganz persönliche Angelegenheit des Philosophierenden. Sie soll als seine Weisheit werden, als sein selbsterworbenes, universal fortstrebendes Wissen, das er von Anfang an und in jedem Schritte verantworten kann aus seiner absoluten Einsicht. Habe ich den Entschluß gefaßt, diesem Ziele entgegenzuleben, also den Entschluß, der allein mich in ein philosophisches Werden bringen kann, so habe ich damit den Anfang der absoluten Erkenntnisarmut erwählt. In ihm ist es offenbar ein erstes, mich zu besinnen, wie ich eine Methode des Fortgangs finden könnte, der zu echtem Wissen führen könnte. Die Cartesianischen Meditationen wollen also nicht eine bloß private Angelegenheit des Philosophen Descartes sein, geschweige denn eine bloße eindrucksvolle literarische Form für eine Darstellung erster philosophischer Begründungen. Sie zeichnen vielmehr das Urbild der notwendigen Meditationen eines jeden anfangenden Philosophen, aus denen allein eine Philosophie ursprünglich erwachsen kann.2

Wenden wir uns dem uns Heutigen so befremdlichen Inhalt der Meditationen zu, so vollzieht sich darin ein Rückgang auf das philosophierende Ich in einem zweiten und tieferen Sinne, auf das Ego der reinen cogitationes. Diesen Rückgang vollzieht der Meditierende in der bekannten, sehr merkwürdigen Zweifelsmethode. Er versagt sich, in radikaler Konsequenz auf das Ziel absoluter Erkenntnis gerichtet, etwas als seiend gelten zu lassen, das nicht vor jeder erdenklichen Möglichkeit, daß es zweifelhaft werde, bewahrt bleibt. Er vollzieht daher eine methodische Kritik des im natürlichen Erfahrungs- und Denkleben Gewissen in Hinsicht auf seine Zweifelsmöglichkeit und sucht durch Ausschluß von allem, was noch Möglichkeiten des Zweifels offen läßt, einen evt. Bestand von absolut Evidentem zu gewinnen. In dieser Methode hält die sinnliche Erfahrungsgewißheit, in der die Welt im natürlichen Leben gegeben ist, der Kritik nicht stand, demgemäß muß das Sein der Welt in diesem Stadium des Anfangs außer Geltung bleiben. Nur sich selbst, als reines Ego seiner cogitationes, behält der Meditierende als absolut zweifellos, als unaufhebbar, auch wenn diese Welt nicht wäre. Das so reduzierte Ego vollzieht nun eine Art solipsistischen Philosophierens. Es sucht apodiktisch gewisse Wege, durch die sich in seiner reinen Innerlichkeit eine objektive Äußerlichkeit erschließen kann. Das geschieht in der bekannten Weise, daß zunächst Gottes Existenz und veracitas erschlossen wird und dann mittels ihrer die objektive Natur, der Dualismus der endlichen Substanzen, kurz der objektive Boden der Metaphysik und der positiven Wissenschaften und diese selbst. Alle Schlußweisen erfolgen, wie sie es müssen, am Leitfaden von Prinzipien, die dem reinen Ego immanent, ihm eingeboren sind.


  1. Am Rande Bemerkung: Einlage. Der Text der Einlage lautet: ad 4. Wendet man ein, daß doch Wissenschaft, Philosophie, in Zusammenarbeit der wissenschaftlichen Gemeinschaft der Philosophierenden erwächst und in jeder Stufe da allein ihre Vollkommenheit gewinnt, so wäre darauf wohl Descartes’ Antwort: den anderen mag ich, der einsam oder einzeln Philosophierende, vieles verdanken, aber was ihnen als wahr gilt, was sie mir als angeblich von ihnen einsichtig begründet darbieten, ist für mich nur eine Zumutung. Soll ich es übernehmen, so muss ich es aus eigener vollkommener Einsicht rechtfertigen. Darin besteht meine theoretische Autonomie — meine und eines jeden echten Wissenschaftlers.
  2. Zur Bestätigung dieser Interpretation vgl. die Lettre de l’auteur an den Übersetzer der Principia (Descartes, Werke).