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§ 38. Aktive und passive Genesis

Fragen wir nun zunächst für uns als mögliche weltbezogene Subjekte nach universal bedeutsamen Prinzipien der konstitutiven Genesis, so scheiden sie sich nach zwei Grundformen in Prinzipien der aktiven und der passiven Genesis. In der ersteren fungiert das Ich als durch spezifische Ichakte, als erzeugende, konstituierendes. Hierher gehören alle Leistungen der in einem weitesten Sinne praktischen Vernunft. In diesem Sinne ist auch die logische Vernunft praktisch. Das Charakteristische ist, daß Ich-Akte, in der Sozialität (deren transzendentaler Sinn allerdings erst herauszustellen ist) durch Vergemeinschaftung verbunden, sich in vielfältigen Synthesen der spezifischen Aktivität verbindend und auf dem Untergrunde schon vorgegebener Gegenstände (in vorgebenden Bewußtseinsweisen) neue Gegenstände ursprünglich konstituieren. Diese treten dann bewußtseinsmäßig als Erzeugnisse auf. So im Kolligieren die Menge, im Zählen die Zahl, im Teilen der Teil, im Prädizieren das Prädikat bzw. der prädikative Sachverhalt, im Schließen der Schluß usw. Auch das ursprüngliche Allgemeinheitsbewußtsein ist eine Aktivität, in der das Allgemeine sich gegenständlich konstituiert. Auf Seiten des Ich konstituiert sich als Folge eine Habitualität der Fortgeltung, die mitgehört zur Konstitution der Gegenstände als schlechthin für das Ich seiender, auf die also immer wieder zurückgegriffen werden kann, sei es in Wiedererzeugungen mit dem synthetischen Bewußtsein derselben Gegenständlichkeit als in kategorialer Anschauung wieder gegebener, sei es in einem synthetisch zugehörigen vagen Bewußtsein. Die transzendentale Konstitution von derartigen Gegenständen mit Beziehung auf intersubjektive Aktivitäten (wie die der Kultur) setzt die vorangehende Konstitution einer transzendentalen Intersubjektivität voraus, worüber erst nachher zu sprechen sein wird.

Die höherstufigen Gestalten von derartigen Aktivitäten der Vernunft in einem spezifischen Sinne und korrelativ von Vernunfterzeugnissen, die insgesamt den Charakter der Irrealität haben (der idealen Gegenstände), können wir, wie schon erwähnt wurde, nicht ohne weiteres als jedem konkreten Ego als solchem zugehörig ansehen (wie schon die Erinnerung an unsere Kinderzeit zeigt). Allerdings mit den niedersten Stufen, wie dem erfahrend Erfassen, das Erfahrene in seine Sondermomente Auslegen, Zusammenfassen, Beziehen und dgl., wird es sich schon anders verhalten.

Jedenfalls aber setzt jeder Bau der Aktivität notwendig als unterste Stufe voraus eine vorgebende Passivität, und dem nachgehend stoßen wir auf die Konstitution durch passive Genesis. Was uns im Leben sozusagen fertig entgegentritt als daseiendes bloßes Ding (von allen geistigen Charakteren abgesehen, die es z. B. als Hammer, als Tisch, als ästhetisches Erzeugnis kenntlich machen), das ist in der Ursprünglichkeit des es selbst in der Synthesis passiver Erfahrung gegeben. Als das ist es vorgegeben den mit dem aktiven Erfassen einsetzenden geistigen Aktivitäten.

Während diese ihre synthetischen Leistungen vollziehen, ist die ihnen alle Materie beistellende passive Synthesis immer weiter im Gang. Das in passiver Anschauung vorgegebene Ding erscheint weiter in einheitlicher Anschauung, und wieviel dabei auch ‹durch› die Aktivität der Explikation, des Einzelerfassens nach Teilen und Merkmalen modifiziert sein mag, es ist auch während und in dieser Aktivität stehende Vorgegebenheit, es verlaufen die mannigfaltigen Erscheinungsweisen, die einheitlichen visuellen oder taktuellen Wahrnehmungsbilder, in deren offenbar passiver Synthesis das eine Ding, daran die eine Gestalt usw., erscheint. Doch eben diese Synthesis hat als Synthesis dieser Form ihre sich in ihr selbst bekundende Geschichte. Es liegt an einer wesensmäßigen Genesis, daß ich, das Ego, und schon im ersten Blick, ein Ding erfahren kann. Das gilt übrigens wie für die phänomenologische so für die im gewöhnlichen Sinn psychologische Genesis. Mit gutem Grunde heißt es, daß wir in früher Kinderzeit das Sehen von Dingen überhaupt erst lernen mußten, wie auch, daß dergleichen allen anderen Bewußtseinsweisen von Dingen genetisch vorangehen mußte. Das vorgebende Wahrnehmungsfeld in der frühen Kindheit enthält also noch nichts, was in bloßem Hinsehen als Ding expliziert werden könnte. Doch ohne uns auf den Boden der Passivität zurückzuversetzen oder gar von der psychophysischen Außenbetrachtung der Psychologie Gebrauch zu machen, können wir, kann das meditierende Ego durch Eindringen in den intentionalen Gehalt der Erfahrungsphänomene selbst, der dingerfahrenden und aller sonstigen Phänomene, intentionale Verweisungen finden, die auf eine Geschichte führen, also diese Phänomene als Nachgestalten anderer, ihnen wesensmäßig vorangehender (wenn auch nicht gerade auf denselben konstituierten Gegenstand beziehbarer) Vorgestalten kenntlich machen. Da aber stoßen wir bald auf Wesensgesetzmäßigkeiten einer passiven, teils aller Aktivität voranliegenden, teils alle Aktivität selbst wieder umgreifenden Bildung von immer neuen Synthesen, auf eine passive Genesis der mannigfaltigen Apperzeptionen als in einer eigenen Habitualität verharrender Gebilde, die für das zentrale Ich geformte Vorgegebenheiten scheinen, wenn sie aktuell werden, affizieren und zu Tätigkeiten motivieren. Das Ich hat immerzu dank dieser passiven Synthesis (in die also auch die Leistungen der aktiven eingehen) eine Umgebung von Gegenständen. Schon daß alles mich als entwickeltes Ego Affizierende apperzipiert ist als Gegenstand, als Substrat kennenzulernender Prädikate, gehört hierher. Denn das ist eine im voraus bekannte mögliche Zielform für Möglichkeiten der Explikation als bekannt machender, als solcher, die einen Gegenstand als bleibenden Besitz, als immer wieder Zugängliches konstituieren würde: und diese Zielform ist im voraus verständlich als aus einer Genesis entsprungen. Sie weist selbst auf eine Urstiftung dieser Form zurück. Alles Bekannte verweist auf ein ursprüngliches Kennenlernen; was wir unbekannt nennen, hat doch eine Strukturform der Bekanntheit, die Form Gegenstand, des näheren die Form Raumding, Kulturobjekt, Werkzeug usw.