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V. George Sand

Paris, den 30. April 1840

Gestern abend, nach langem Erwarten von Tag zu Tag, nach einem fast zweimonatlichen Hinzögern, wodurch die Neugier, aber auch die Geduld des Publikums überreizt wurde – endlich gestern abend ward „Cosima“, das Drama von George Sand, im Théâtre Français aufgeführt. Man hat keinen Begriff davon, wie seit einigen Wochen alle Notabilitäten der Hauptstadt, alles, was hier hervorragt durch Rang, Geburt, Talent, Laster, Reichtum, kurz, durch Auszeichnung jeder Art, sich Mühe gab, dieser Vorstellung beiwohnen zu können. Der Ruhm des Autors ist so groß, daß die Schaulust aufs höchste gespannt war; aber nicht bloß die Schaulust, sondern noch ganz andere Interessen und Leidenschaften kamen ins Spiel. Man kannte im voraus die Kabalen, die Intrigen, die Böswilligkeiten, die sich gegen das Stück verschworen und mit dem niedrigsten Metierneid gemeinschaftliche Sache machten. Der kühne Autor, der durch seine Romane bei der Aristokratie und bei dem Bürgerstand gleich großes Mißfallen erregte, sollte für seine „irreligiösen und immoralischen Grundsätze“ bei Gelegenheit eines dramatischen Debüts öffentlich büßen; denn, wie ich Ihnen dieser Tage schrieb, die französische Noblesse betrachtet die Religion als eine Abwehr gegen die herandrohenden Schrecknisse des Republikanismus und protegiert sie, um ihr Ansehen zu befördern und ihre Köpfe zu schützen, während die Bourgeoisie durch die antimatrimonialen Doktrinen eines George Sand ebenfalls ihre Köpfe bedroht sieht, nämlich bedroht durch einen gewissen Hornschmuck, den ein verheirateter Bürgergardist ebensogern entbehrt, wie er gern mit dem Kreuze der Ehrenlegion geziert zu werden wünscht.

Der Autor hatte sehr gut seine mißliche Stellung begriffen und in seinem Stück alles vermieden, was die adeligen Ritter der Religion und die bürgerlichen Schildknappen der Moral, die Legitimisten der Politik und der Ehe, in Harnisch bringen konnte; und der Vorfechter der sozialen Revolution, der in seinen Schriften das Wildeste wagte, hatte sich auf der Bühne die zahmsten Schranken gesetzt, und sein nächster Zweck war, nicht auf dem Theater seine Prinzipien zu proklamieren, sondern vom Theater Besitz zu nehmen. Daß ihm dies gelingen könne, erregte aber eine große Furcht unter gewissen kleinen Leuten, denen die angedeuteten religiösen, politischen und moralischen Differenzen ganz fremd sind und die nur den gemeinsten Handwerksinteressen huldigen. Das sind die sogenannten Bühnendichter, die in Frankreich ebenso wie bei uns in Deutschland eine ganz abgesonderte Klasse bilden und wie mit der eigentlichen Literatur selbst, so auch mit den ausgezeichneten Schriftstellern, deren die Nation sich rühmt, nichts gemein haben. Letztere, mit wenigen Ausnahmen, stehen dem Theater ganz fern, nur daß bei uns die großen Schriftsteller mit vornehmer Geringschätzung sich eigenwillig von der Bretterwelt abwenden, während sie in Frankreich sich herzlich gern darauf produzieren möchten, aber durch die Machinationen der erwähnten Bühnendichter von diesem Terrain zurückgetrieben werden. Und im Grunde kann man es den kleinen Leuten nicht verdenken, daß sie sich gegen die Invasion der Großen soviel als möglich wehren. „Was wollt ihr bei uns“, rufen sie, „bleibt in eurer Literatur und drängt euch nicht zu unsern Suppentöpfen! Für euch der Ruhm, für uns das Geld! Für euch die langen Artikel der Bewunderung, die Anerkenntnis der Geister, die höhere Kritik, die uns arme Schelme ganz ignoriert! Für euch der Lorbeer, für uns der Braten! Für euch der Rausch der Poesie, für uns der Schaum des Champagners, den wir vergnüglich schlürfen in Gesellschaft des Chefs der Claqueure und der anständigsten Damen. Wir essen, trinken, werden applaudiert, ausgepfiffen und vergessen, während ihr in den Revuen ‚beider Welten‘ gefeiert werdet und der erhabensten Unsterblichkeit entgegenhungert!“

In der Tat, das Theater gewährt jenen Bühnendichtern den glänzendsten Wohlstand; die meisten von ihnen werden reich, leben in Hülle und Fülle, statt daß die größten Schriftsteller Frankreichs, ruiniert durch den belgischen Nachdruck und den bankerotten Zustand des Buchhandels, in trostloser Armut dahindarben. Was ist natürlicher, als daß sie manchmal nach den goldenen Früchten schmachten, die hinter den Lampen der Bretterwelt reifen, und die Hand darnach ausstrecken, wie jüngst Balzac tat, dem solches Gelüst so schlecht bekam! Herrscht schon in Deutschland ein geheimes Schutz- und Trutzbündnis zwischen den Mittelmäßigkeiten, die das Theater ausbeuten, so ist das in weit schnöderer Weise der Fall zu Paris, wo all diese Misere zentralisiert ist. Und dabei sind hier die kleinen Leute so aktiv, so geschickt, so unermüdlich in ihrem Kampf gegen die Großen und ganz besonders in ihrem Kampf gegen das Genie, das immer isoliert steht, auch etwas ungeschickt ist und, im Vertrauen gesagt, auch gar zu träumerisch träge ist.

Welche Aufnahme fand nun das Drama von George Sand, des größten Schriftstellers, den das neue Frankreich hervorgebracht, des unheimlich einsamen Genius, der auch bei uns in Deutschland gewürdigt worden? War die Aufnahme eine entschieden schlechte oder eine zweifelhaft gute? Ehrlich gestanden, ich kann diese Frage nicht beantworten. Die Achtung vor dem großen Namen lähmte vielleicht manches böse Vorhaben. Ich erwartete das Schlimmste. Alle Antagonisten des Autors hatten sich ein Rendezvous gegeben in dem ungeheuren Saale des Théâtre Français, der über zweitausend Personen faßt. Etwa einhundertvierzig Billette hatte die Administration zur Verfügung des Autors gestellt, um sie an die Freunde zu verteilen; ich glaube aber, verzettelt durch weibliche Laune, sind davon nur wenige in die rechten, applaudierenden Hände geraten. Von einer organisierten Claque war gar nicht die Rede; der gewöhnliche Chef derselben hatte seine Dienste angeboten, fand aber kein Gehör bei dem stolzen Verfasser der „Lélia“. Die sogenannten Römer, die in der Mitte des Parterres unter dem großen Leuchter so tapfer zu applaudieren pflegen, wenn ein Stück von Scribe oder Ancelot aufgeführt wird, waren gestern im Théâtre Français nicht sichtbar.

Über die Darstellung des bestrittenen Dramas kann ich leider nur das Schlimmste berichten. Außer der berühmten Dorval, die gestern nicht schlechter, aber auch nicht besser als gewöhnlich spielte, trugen alle Akteure ihre monotone Mittelmäßigkeit zur Schau. Der Hauptheld des Stücks, ein Monsieur Beauvallet, spielte, um biblisch zu reden, „wie ein Schwein mit einem goldenen Nasenring“. George Sand scheint vorausgesehn zu haben, wie wenig sein Drama, trotz aller Zugeständnisse, die er den Kapricen der Schauspieler machte, von den mimischen Leistungen derselben zu erwarten hatte, und im Gespräch mit einem deutschen Freunde sagte er scherzhaft: „Sehen Sie, die Franzosen sind alle geborne Komödianten, und jeder spielt in der Welt mehr oder minder brillant seine Rolle; diejenigen aber unter meinen Landsleuten, die am wenigsten Talent für die edle Schauspielkunst besitzen, widmen sich dem Theater und werden Akteure.“

Ich habe selbst früher bemerkt, daß das öffentliche Leben in Frankreich, das Repräsentativsystem und das politische Treiben, die besten schauspielerischen Talente der Franzosen absorbiert und deshalb auf dem eigentlichen Theater nur die Mediokritäten zu finden sind. Dieses gilt aber nur von den Männern, nicht von den Weibern; die französische Bühne ist reich an Schauspielerinnen vom höchsten Wert, und die jetzige Generation überflügelt vielleicht die frühere. Große, außerordentliche Talente bewundern wir, die sich hier um so zahlreicher entfalten konnten, da die Frauen durch eine ungerechte Gesetzgebung, durch die Usurpation der Männer, von allen politischen Ämtern und Würden ausgeschlossen sind und ihre Fähigkeiten nicht auf den Brettern des Palais Bourbon und des Luxembourg geltend machen können. Ihrem Drang nach Öffentlichkeit stehen nur die öffentlichen Häuser der Kunst und der Galanterie offen, und sie werden entweder Aktricen oder Loretten oder auch beides zugleich, denn hier in Frankreich sind diese zwei Gewerbe nicht so streng geschieden wie bei uns in Deutschland, wo die Komödianten oft zu den reputierlichsten Personen gehören und nicht selten sich durch bürgerlich gute Aufführung auszeichnen: sie sind bei uns nicht durch die öffentliche Meinung wie Parias ausgestoßen aus der Gesellschaft, und sie finden vielmehr in den Häusern des Adels, in den Soireen toleranter jüdischer Bankiers und sogar in einigen honetten bürgerlichen Familien eine zuvorkommende Aufnahme. Hier in Frankreich im Gegenteil, wo so viele Vorurteile ausgerottet sind, ist das Anathema der Kirche noch immer wirksam in bezug auf die Schauspieler; sie werden noch immer als Verworfene betrachtet, und da die Menschen immer schlecht werden, wenn man sie schlecht behandelt, so bleiben mit wenigen Ausnahmen die Schauspieler hier im verjährten Zustande des glänzend schmutzigen Zigeunertums. Thalia und die Tugend schlafen hier selten in demselben Bette, und sogar unsere berühmteste Melpomene steigt manchmal von ihrem Kothurn herunter, um ihn mit den liederlichen Pantöffelchen einer Philine zu vertauschen.

Alle schöne Schauspielerinnen haben hier ihren bestimmten Preis, und die, welche um keinen bestimmten Preis zu haben, sind gewiß die teuersten. Die meisten jungen Schauspielerinnen werden von Verschwendern oder reichen Parvenüs unterhalten. Die eigentlichen unterhaltenen Frauen, die sogenannten femmes entretenues, empfinden dagegen die gewaltigste Sucht, sich auf dem Theater zu zeigen, eine Sucht, worin Eitelkeit und Kalkül sich vereinigen, da sie dort am besten ihre Körperlichkeit zur Schau stellen, sich den vornehmen Lüstlingen bemerkbar machen und zugleich auch vom größern Publikum bewundern lassen können. Diese Personen, die man besonders auf den kleinen Theatern spielen sieht, erhalten gewöhnlich gar keine Gage, im Gegenteil, sie bezahlen noch monatlich den Direktoren eine bestimmte Summe für die Vergünstigung, daß sie auf ihrer Bühne sich produzieren können. Man weiß daher selten hier, wo die Aktrice und die Kurtisane ihre Rolle wechseln, wo die Komödie aufhört und die liebe Natur wieder anfängt, wo der fünffüßige Jambus in die vierfüßige Unzucht übergeht. Diese Amphibien von Kunst und Laster, diese Melusinen des Seinestrandes bilden gewiß den gefährlichsten Teil des galanten Paris, worin so viele holdselige Monstra ihr Wesen treiben. Wehe dem Unerfahrenen, der in ihre Netze gerät! Wehe auch dem Erfahrenen, der wohl weiß, daß das holde Ungetüm in einen häßlichen Fischschwanz endet, und dennoch der Bezauberung nicht zu widerstehen vermag und vielleicht eben durch die Wollust des innern Grauens, durch den fatalen Reiz des lieblichen Verderbens, des süßen Abgrunds, desto sicherer überwältigt wird!

Die Weiber, von welchen hier die Rede, sind nicht böse oder falsch, sie sind sogar gewöhnlich von außerordentlicher Herzensgüte, sie sind nicht so betrüglich und so habsüchtig, wie man glaubt, sie sind mitunter vielmehr die treuherzigsten und großmütigsten Kreaturen; alle ihre unreinen Handlungen entstehen durch das momentane Bedürfnis, die Not und die Eitelkeit; sie sind überhaupt nicht schlechter als andere Töchter Evas, die von Kindheit auf durch Wohlhabenheit und überwachende Sippschaft oder durch die Gunst des Schicksals vor dem Fallen und dem noch tiefer Fallen geschützt werden. – Das Charakteristische bei ihnen ist eine gewisse Zerstörungssucht, von welcher sie besessen sind, nicht bloß zum Schaden eines Galans, sondern auch zum Schaden desjenigen Mannes, den sie wirklich lieben, und zumeist zum Schaden ihrer eigenen Person. Diese Zerstörungssucht ist tief verwebt mit einer Sucht, einer Wut, einem Wahnsinn nach Genuß, dem augenblicklichsten Genuß, der keinen Tag Frist gestattet, an keinen Morgen denkt und aller Bedenklichkeiten überhaupt spottet. Sie erpressen dem Geliebten seinen letzten Sou, bringen ihn dahin, auch seine Zukunft zu verpfänden, um nur der Freude der Stunde zu genügen; sie treiben ihn dahin, selbst jene Ressourcen zu vergeuden, die ihnen selber zugute kommen dürften, sie sind manchmal sogar schuld, daß er seine Ehre eskomptiert – kurz, sie ruinieren den Geliebten in der grauenhaftesten Eile und mit einer schauerlichen Gründlichkeit. Montesquieu hat irgendwo in seinem „Esprit des lois“ das Wesen des Despotismus dadurch zu charakterisieren gesucht, daß er die Despoten mit jenen Wilden verglich, die, wenn sie die Früchte eines Baumes genießen wollen, sogleich zur Axt greifen und den Baum selbst niederfällen und sich dann gemächlich neben dem Stamm niedersetzen und in genäschiger Hast die Früchte aufspeisen. Ich möchte diese Vergleichung auf die erwähnten Damen anwenden. Nach Shakespeare, der uns in der Kleopatra, die ich einst eine „reine entretenue“ genannt habe, ein tiefsinniges Beispiel solcher Frauengestalten aufgezeichnet hat, ist gewiß unser Freund Honoré de Balzac derjenige, der sie mit der größten Treue geschildert. Er beschreibt sie, wie ein Naturforscher irgendeine Tierart oder ein Pathologe eine Krankheit beschreibt, ohne moralisierenden Zweck, ohne Vorliebe noch Abscheu. Es ist ihm gewiß nie eingefallen, solche Phänomena zu verschönern oder gar zu rehabilitieren, was die Kunst ebensosehr verböte als die Sittlichkeit.