Musikalische Saison von 1844
Spätere Notiz.
Jenny Lind
Den vorstehenden Mitteilungen füge ich aus melancholischer Grille die folgenden Blätter hinzu, die dem Sommer 1847 angehören und meine letzte musikalische Berichterstattung bilden. Für mich hat alle Musik seitdem aufgehört, und ich ahnte nicht, als ich das Leidensbild Donizettis krayonnierte, daß eine ähnliche und weit schmerzlichere Heimsuchung mir nahete. Die kurze Kunstnotiz lautet wie folgt:
Seit Gustav Adolf, glorreichen Andenkens, hat keine schwedische Reputation soviel Lärm in der Welt gemacht wie Jenny Lind. Die Nachrichten, die uns darüber aus England zukommen, grenzen ans Unglaubliche. In den Zeitungen klingen nur Posaunenstöße, Fanfaren des Triumphes; wir hören nur Pindarsche Lobgesänge. Ein Freund erzählte mir von einer englischen Stadt, wo alle Glocken geläutet wurden, als die schwedische Nachtigall dort ihren Einzug hielt; der dortige Bischof feierte dieses Ereignis durch eine merkwürdige Predigt. In seinem anglikanischen Episkopalkostüme, welches der Leichenbittertracht eines Chef des pompes funèbres nicht unähnlich, bestieg er die Kanzel der Hauptkirche und begrüßte die Neuangekommene als einen Heiland in Weibskleidern, als eine Frau Erlöserin, die vom Himmel herabgestiegen, um unsre Seelen durch ihren Gesang von der Sünde zu befreien, während die andern Cantatricen ebenso viele Teufelinnen seien, die uns hineintrillern in den Rachen des Satanas. Die Italienerinnen Grisi und Persiani müssen vor Neid und Ärger jetzt gelb werden wie Kanarienvögel, während unsre Jenny, die schwedische Nachtigall, von einem Triumph zum andern flattert. Ich sage unsre Jenny, denn im Grunde repräsentiert die schwedische Nachtigall nicht exklusive das kleine Schweden, sondern sie repräsentiert die ganze germanische Stammesgenossenschaft, die der Zimbern ebensosehr wie die der Teutonen, sie ist auch eine Deutsche, ebensogut wie ihre naturwüchsigen und pflanzenschläfrigen Schwestern an der Elbe und am Neckar, sie gehört Deutschland, wie, der Versicherung des Franz Horn gemäß, auch Shakespeare uns angehört und wie gleicherweise Spinoza, seinem innersten Wesen nach, nur ein Deutscher sein kann – und mit Stolz nennen wir Jenny Lind die Unsre! Juble, Uckermark, auch du hast teil an diesem Ruhme! Springe, Maßmann, deine vaterländisch freudigsten Sprünge, denn unsre Jenny spricht kein römisches Rotwelsch, sondern gotisch, skandinavisch, das deutscheste Deutsch, und du kannst sie als Landsmännin begrüßen; nur mußt du dich waschen, ehe du ihr deine deutsche Hand reichst. Ja, Jenny Lind ist eine Deutsche, schon der Name Lind mahnt an Linden, die grünen Muhmen der deutschen Eichen, sie hat keine schwarzen Haare wie die welschen Primadonnen, in ihren blauen Augen schwimmt nordisches Gemüt und Mondschein, und in ihrer Kehle tönt die reinste Jungfräulichkeit! Das ist es. „Maidenhood is in her voice“ – das sagten alle old spinsters von London, alle prüden ladies und frommen gentlemen sprachen es augenverdrehend nach, die noch lebende mauvaise queue von Richardson stimmte ein, und ganz Großbritannien feierte in Jenny Lind das singende Magdtum, die gesungene Jungferschaft. Wir wollen es gestehen, dieses ist der Schlüssel der unbegreiflichen, rätselhaft großen Begeisterung, die Jenny in England gefunden und, unter uns gesagt, auch gut auszubeuten weiß. Sie singe nur, hieß es, um das weltliche Singen recht bald wieder aufgeben zu können und, versehen mit der nötigen Aussteuersumme, einen jungen protestantischen Geistlichen, den Pastör Swenske, zu heiraten, der unterdessen ihrer harre daheim in seinem idyllischen Pfarrhaus hinter Upsala, links um die Ecke. Seitdem freilich will verlauten, als ob der junge Pastör Swenske nur ein Mythos und der wirkliche Verlobte der hohen Jungfrau ein alter abgestandener Komödiant der Stockholmer Bühne sei – aber das ist gewiß Verleumdung. Der Keuschheitssinn dieser Primadonna immaculata offenbart sich am schönsten in ihrem Abscheu vor Paris, dem modernen Sodom, den sie bei jeder Gelegenheit ausspricht, zur höchsten Erbauung aller Dames patronesses der Sittlichkeit jenseits des Kanals. Jenny hat aufs bestimmteste gelobt, nie auf den Lasterbrettern der Rue Lepelletier ihre singende Jungferschaft dem französischen Publiko preiszugeben; sie hat alle Anträge, welche ihr Herr Léon Pillet durch seine Kunstruffiani machen ließ, streng abgelehnt. Diese rauhe Tugend macht mich stutzen – wurde der alte Paulet sagen. Ist etwa die Volkssage gegründet, daß die heutige Nachtigall in frühern Jahren schon einmal in Paris gewesen und im hiesigen sündhaften Conservatoire Musikunterricht genossen habe, wie andre Singvögel, welche seitdem sehr lockere Zeisige geworden sind? Oder fürchtet Jenny jene frivole Pariser Kritik, die bei einer Sängerin nicht die Sitten, sondern nur die Stimme kritisiert und Mangel an Schule für das größte Laster hält? Dem sei, wie ihm wolle, unsre Jenny kommt nicht hierher und wird die Franzosen nicht aus ihrem Sündenpfuhl heraussingen. Sie bleiben verfallen der ewigen Verdammnis.
Hier in der Pariser musikalischen Welt ist alles beim alten; in der Académie royale de musique ist noch immer grauer, feuchtkalter Winter, während draußen Maisonne und Veilchenduft. Im Vestibül steht noch immer wehmütig trauernd die Bildsäule des göttlichen Rossini; er schweigt. Es macht Herrn Léon Pillet Ehre, daß er diesem wahren Genius schon bei Lebzeiten eine Statue gesetzt. Nichts ist possierlicher, als die Grimasse zu sehen, womit Scheelsucht und Neid sie betrachten. Wenn Signor Spontini dort vorbeigeht, stößt er sich jedesmal an diesem Steine. Da ist unser großer Maestro Meyerbeer viel klüger, und wenn er des Abends in die Oper ging, wußte er jenem Marmor des Anstoßes immer vorsichtig auszuweichen, er suchte sogar den Anblick desselben zu vermeiden; in derselben Weise pflegen die Juden zu Rom, selbst auf ihren eiligsten Geschäftsgängen, immer einen großen Umweg zu machen, um nicht jenem fatalen Triumphbogen des Titus vorbeizukommen, der zum Gedächtnis des Untergangs von Jerusalem errichtet worden. Über Donizettis Zustand werden die Berichte täglich trauriger. Während seine Melodien freudegaukelnd die Welt erheitern, während man ihn überall singt und trillert, sitzt er selbst, ein entsetzliches Bild des Blödsinns, in einem Krankenhause bei Paris. Nur für seine Toilette hatte er vor einiger Zeit noch ein kindisches Bewußtsein bewahrt, und man mußte ihn täglich sorgfältig anziehen, in vollständiger Gala, der Frack geschmückt mit allen seinen Orden; so saß er bewegungslos, den Hut in der Hand, vom frühesten Morgen bis zum späten Abend. Aber das hat auch aufgehört, er erkennt niemand mehr; das ist Menschenschicksal.