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II. Badeleben und Badegäste in Barèges.
Der Herzog von Nemours

Barèges, 7. August 1846.

Über die therapeutische Bedeutung der hiesigen Bäder wage ich nicht, mich mit Bestimmtheit auszusprechen. Es läßt sich vielleicht überhaupt nichts Bestimmtes darüber sagen. Man kann das Wasser einer Quelle chemisch zersetzen und genau angeben, wie viel Schwefel, Salz oder Butter darin enthalten ist, aber niemand wird es wagen, selbst in bestimmten Fällen, die Wirkung dieses Wassers für ein ganz probates, untrügliches Heilmittel zu erklären; denn diese Wirkung ist ganz abhängig von der individuellen Leibesbeschaffenheit des Kranken, und das Bad, das bei gleichen Krankheitsymptomen dem einen fruchtet, übt auf den andern nicht den mindesten, wo nicht gar den schädlichsten Einfluß. In der Weise, wie z.B. der Magnetismus, enthalten auch die Heilquellen eine Kraft, die hinlänglich konstatiert, aber keineswegs determiniert ist, deren Grenzen und auch geheimste Natur den Forschern bis jetzt unbekannt geblieben, so daß der Arzt dieselben nur versuchsweise, wo alle andern Mittel fehlschlagen, als Medikament anzuwenden pflegt. Wenn der Sohn Äskulaps gar nicht mehr weiß, was er mit dem Patienten anfangen soll, dann schickt er uns ins Bad mit einem langen Konsultationszettel, der nichts anderes ist als ein offener Empfehlungsbrief an den Zufall!

Die Lebensmittel sind hier sehr schlecht, aber desto teurer. Frühstück und Mittagessen werden den Gästen in hohen Körben und von ziemlich klebrigen Mägden aufs Zimmer getragen, ganz wie in Göttingen. Hätten wir nur hier ebenfalls den jugendlich-akademischen Appetit, womit wir einst die gelehrt-trockensten Kalbsbraten Georgia Augustas zermalmten! Das Leben selbst ist hier so langweilig wie an den blumigen Ufern der Leine. Doch kann ich nicht umhin zu erwähnen, daß wir zwei sehr hübsche Bälle genossen, wo die Tänzer alle ohne Krücken erschienen. Es fehlte dabei nicht an einigen Töchtern Albions, die sich durch Schönheit und linkisches Wesen auszeichneten; sie tanzten, als ritten sie auf Eseln. Unter den Französinnen glänzte die Tochter des berühmten Cellarius, die – welche Ehre für das kleine Barèges – hier eigenfüßig die Polka tanzte. Auch mehre junge Tanznixen der Pariser Großen Oper, welche man Ratten nennt, unter andern die silberfüßige Mademoiselle Lelhomme, wirbelten hier ihre Entrechats, und ich dachte bei diesem Anblick wieder lebhaft an mein liebes Paris, wo ich es vor lauter Tanz und Musik am Ende nicht mehr aushalten konnte und wohin das Herz sich jetzt dennoch wieder zurücksehnt. Wunderbar närrischer Zauber! Vor lauter Pläsier und Belustigung wird Paris zuletzt so ermüdend, so erdrückend, so überlästig, alle Freuden sind dort mit so erschöpfender Anstrengung verbunden, daß man jauchzend froh ist, wenn man dieser Galeere des Vergnügens einmal entspringen kann – und kaum ist man einige Monate von dort entfernt, so kann eine einzige Walzermelodie oder der bloße Schatten eines Tänzerinnenbeins in unserm Gemüte das sehnsüchtigste Heimweh nach Paris erwecken! Das geschieht aber nur den bemoosten Häuptern dieses süßen Bagnos, nicht den jungen Burschen unsrer Landsmannschaft, die nach einem kurzen Semesteraufenthalt in Paris gar kläglich bejammern, daß es dort nicht so gemütlich still sei wie jenseits des Rheins, wo das Zellensystem des einsamen Nachdenkens eingeführt ist, daß man sich dort nicht ruhig sammeln könne wie etwa zu Magdeburg oder Spandau, daß das sittliche Bewußtsein sich dort verliere im Geräusch der Genußwellen, die sich überstürzen, daß die Zerstreuung dort zu groß sei – ja, sie ist wirklich zu groß in Paris, denn während wir uns dort zerstreuen, zerstreut sich auch unser Geld!

Ach, das Geld! Es weiß sich sogar hier in Barèges zu zerstreuen, so langweilig auch dieses Heilnest. Es übersteigt alle Begriffe, wie teuer der hiesige Aufenthalt; er kostet mehr als das Doppelte, was man in andern Badeörtern der Pyrenäen ausgibt. Und welche Habsucht bei diesen Gebirgsbewohnern, die man als eine Art Naturkinder, als die Reste einer Unschuldsrasse zu preisen pflegt! Sie huldigen dem Geld mit einer Inbrunst, die an Fanatismus grenzt, und das ist ihr eigentlicher Nationalkultus. Aber ist das Geld jetzt nicht der Gott der ganzen Welt, ein allmächtiger Gott, den selbst der verstockteste Atheist keine drei Tage lang verleugnen könnte, denn ohne seine göttliche Hülfe würde ihm der Bäcker nicht den kleinsten Semmel verabfolgen lassen.

Dieser Tage, bei der großen Hitze, kamen ganze Schwärme von Engländern nach Barèges; rotgesunde, beefsteakgemästete Gesichter, die mit der bleichen Gemeinde der Badegäste schier beleidigend kontrastierten. Der bedeutendste dieser Ankömmlinge ist ein enorm reiches und leidlich bekanntes Parlamentsglied von der torystischen Clique. Dieser Gentleman scheint die Franzosen nicht zu lieben, aber hingegen uns Deutsche mit der größten Zuneigung zu beehren. Er rühmte besonders unsre Redlichkeit und Treue. Auch wolle er zu Paris, wo er den Winter zu verbringen gedenke, sich keine französischen Bedienten, sondern nur deutsche anschaffen. Ich dankte ihm für das Zutrauen, das er uns schenke, und empfahl ihm einige Landsleute von der Historischen Schule.

Zu den hiesigen Badegästen rechnen wir auch, wie männiglich bekannt ist, den Prinzen von Nemours, der einige Stunden von hier, zu Luz, mit seiner Familie wohnt, aber täglich hierher fährt, um sein Bad zu nehmen. Als er das erstemal in dieser Absicht nach Barèges kam, saß er in einer offenen Kalesche, obgleich das miserabelste Nebelwetter an jenem Tage herrschte; ich schloß daraus, daß er sehr gesund sein müsse und jedenfalls keinen Schnupfen scheue. Sein erster Besuch galt dem hiesigen Militärhospital, wo er leutselig mit den kranken Soldaten sprach, sich nach ihren Blessuren erkundigte, auch nach ihrer Dienstzeit usw. Eine solche Demonstration, obgleich sie nur ein altes Trompeterstückchen ist, womit schon so viele erlauchte Personen ihre Virtuosität beurkundet haben, verfehlt doch nie ihre Wirkung, und als der Fürst bei der Badeanstalt anlangte, wo das neugierige Publikum ihn erwartete, war er bereits ziemlich populär. Nichtsdestoweniger ist der Herzog von Nemours nicht so beliebt wie sein verstorbener Bruder, dessen Eigenschaften sich mit mehr Offenheit kundgaben. Dieser herrliche Mensch oder, besser gesagt, dieses herrliche Menschengedicht, welches Ferdinand Orleans hieß, war gleichsam in einem populären, allgemein faßlichen Stil gedichtet, während der Nemours in einer für die große Menge minder leicht zugänglichen Kunstform sich zurückzieht. Beide Prinzen bildeten immer einen merkwürdigen Gegensatz in ihrer äußern Erscheinung. Die des Orleans war nonchalant ritterlich; der andere hat vielmehr etwas von feiner Patrizierart. Ersterer war ganz ein junger französischer Offizier, übersprudelnd von leichtsinnigster Bravour, ganz die Sorte, die gegen Festungsmauern und Frauenherzen mit gleicher Lust Sturm läuft. Es heißt, der Nemours sei ein guter Soldat, vom kaltblütigsten Mute, aber nicht sehr kriegerisch. Er wird daher, wenn er zur Regentschaft gelangt, sich nicht so leicht von der Trompete Bellonas verlocken lassen, wie sein Bruder dessen fähig war; was uns sehr lieb ist, da wir wohl ahnen, welches teure Land der Kriegsschauplatz sein würde und welches naive Volk am Ende die Kriegskosten bezahlen müßte. Nur eins möchte ich gern wissen, ob nämlich der Herzog von Nemours auch soviel Geduld besitzt wie sein glorreicher Vater, der durch diese Eigenschaft, die allen seinen französischen Gegnern fehlt, unermüdlich gesiegt und dem schönen Frankreich und der Welt den Frieden erhalten hat.