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B. Die infatile Sexualität

„Mein Sexualleben hat sehr früh begonnen. Ich erinnere mich einer Szene aus meinem 4. bis 5. Jahre (vom 6. Jahre an ist meine Erinnerung überhaupt vollständig), die mir Jahre später klar aufgetaucht ist. Wir hatten eine sehr schöne, junge Gouvernante, Fräulein Peter.1 Die lag eines Abends leicht bekleidet auf dem Sofa und las; ich lag neben ihr und bat sie um die Erlaubnis, unter ihre Röcke zu kriechen. Sie erlaubte es, wenn ich niemand etwas davon sagen würde. Sie hatte wenig an, und ich betastete sie an den Genitalien und am Leibe, der mir kurios vorkam. Seitdem blieb mir eine brennende, peinigende Neugierde, den weiblichen Körper zu sehen. Ich weiß noch, mit welcher Spannung ich im Bade, wohin ich noch mit dem Fräulein und den Schwestern gehen durfte, darauf wartete, bis das Fräulein ausgekleidet ins Wasser stieg. An mehr erinnere ich mich vom 6. Jahre an. Wir hatten dann ein anderes Fräulein, auch jung und schön, die Abszesse am Gesäß hatte, welche sie abends auszudrücken pflegte. Ich lauerte auf diesen Moment, um meine Neugierde zu stillen. Ebenso im Bade, obwohl Fräulein Lina zurückhaltender war als die erste.“ (Auf eine Zwischenfrage: „Ich schlief nicht regelmäßig in ihrem Zimmer, meist bei den Eltern.) Ich erinnere eine Szene, bei der ich 7 Jahre gewesen sein muß.2 Wir saßen am Abend, das Fräulein, die Köchin, ein anderes Mädchen, ich und mein um 1½ Jahre jüngerer Bruder, beisammen. Ich vernahm plötzlich aus dem Gespräch der Mädchen, wie Fräulein Lina sagte: Mit dem Kleinen könne man das schon machen, aber der Paul (ich) sei zu ungeschickt, er werde gewiß danebenfahren. Ich verstand nicht klar, was gemeint war, verstand aber die Zurücksetzung und begann zu weinen. Lina tröstete mich und erzählte mir, daß ein Mädchen, welches etwas Derartiges mit einem ihr anvertrauten Buben gemacht hatte, für mehrere Monate eingesperrt worden sei. Ich glaube nicht, daß sie etwas Unrechtes mit mir angestellt hat, aber ich nahm mir viel Freiheiten gegen sie heraus. Wenn ich zu ihr ins Bett kam, deckte ich sie auf und rührte sie an, was sie sich ruhig gefallen ließ. Sie war nicht sehr intelligent und offenbar geschlechtlich sehr bedürftig. 23 Jahre alt, hatte sie schon ein Kind gehabt, dessen Vater sie später heiratete, so daß sie heute Frau Hofrat heißt. Ich sehe sie noch oft auf der Straße.“

„Ich habe schon mit 6 Jahren an Erektionen gelitten und weiß, daß ich einmal zur Mutter ging, um mich darüber zu beklagen. Ich weiß auch, daß ich dabei Bedenken zu überwinden hatte, denn ich ahnte den Zusammenhang mit meinen Vorstellungen und meiner Neugierde und hatte damals eine Zeitlang die krankhafte Idee, die Eltern wüßten meine Gedanken, was ich mir so erklärte, daß ich sie ausgesprochen, ohne es aber selbst zu hören. Ich sehe hierin den Beginn meiner Krankheit. Es gab Personen, Mädchen, die mir sehr gefielen und die ich mir dringendst nackt zu sehen wünschte. Ich hatte aber bei diesen Wünschen ein unheimliches Gefühl, als müßte etwas geschehen, wenn ich das dächte, und ich müßte allerlei tun, um es zu verhindern.“

(Als Probe dieser Befürchtungen gibt er auf Befragen an: „Z.B. mein Vater würde sterben.“) „Gedanken an den Tod des Vaters haben mich frühzeitig und durch lange Zeit beschäftigt und sehr traurig gestimmt.“

Ich vernehme bei dieser Gelegenheit mit Erstaunen, daß sein Vater, um den sich doch seine heutigen Zwangsbefürchtungen kümmern, schon vor mehreren Jahren gestorben ist.

Was unser Patient in der ersten Stunde der Behandlung aus seinem 6. oder 7. Jahre schildert, ist nicht nur, wie er meint, der Beginn der Krankheit, sondern bereits die Krankheit selbst. Eine vollständige Zwangsneurose, der kein wesentliches Element mehr abgeht, zugleich der Kern und das Vorbild des späteren Leidens, der Elementarorganismus gleichsam, dessen Studium allein uns das Verhältnis der komplizierten Organisation der heutigen Erkrankung vermitteln kann. Wir sehen das Kind unter der Herrschaft einer sexuellen Triebkomponente, der Schaulust, deren Ergebnis der mit großer Intensität immer wieder von neuem auftretende Wunsch ist, weibliche Personen, die ihm gefallen, nackt zu sehen. Dieser Wunsch entspricht der späteren Zwangsidee; wenn er den Zwangscharakter noch nicht hat, so kommt dies daher, daß das Ich sich noch nicht in vollen Widerspruch zu ihm gesetzt hat, ihn nicht als fremd verspürt, doch regt sich bereits von irgendwoher ein Widerspruch gegen diesen Wunsch, denn ein peinlicher Affekt begleitet regelmäßig das Auftauchen desselben.3 Ein Konflikt ist offenbar in dem Seelenleben des kleinen Lüsternen vorhanden; neben dem Zwangswunsch steht eine Zwangsbefürchtung innig an den Wunsch geknüpft: sooft er so etwas denkt, muß er fürchten, es werde etwas Schreckliches geschehen. Dies Schreckliche kleidet sich bereits in eine charakteristische Unbestimmtheit, die fortan in den Äußerungen der Neurose niemals fehlen wird. Doch ist es beim Kinde nicht schwer, das durch solche Unbestimmtheit Verhüllte aufzufinden. Kann man für irgend eine der verschwommenen Allgemeinheiten der Zwangsneurose ein Beispiel erfahren, so sei man sicher, dies Beispiel ist das Ursprüngliche und Eigentliche selbst, das durch die Verallgemeinerung versteckt werden sollte. Die Zwangsbefürchtung lautete also, ihrem Sinne nach wiederhergestellt: „Wenn ich den Wunsch habe, eine Frau nackt zu sehen, muß mein Vater sterben.“ Der peinliche Affekt nimmt deutlich die Färbung des Unheimlichen, Abergläubischen an und gibt bereits Impulsen den Ursprung, etwas zur Abwendung des Unheiles zu tun, wie sie sich in den späteren Schutzmaßregeln durchsetzen werden.

Also: ein erotischer Trieb und eine Auflehnung gegen ihn, ein (noch nicht zwanghafter) Wunsch und eine (bereits zwanghafte) ihr widerstrebende Befürchtung, ein peinlicher Affekt und ein Drang zu Abwehrhandlungen; das Inventar der Neurose ist vollzählig. Ja, es ist noch etwas anderes vorhanden, eine Art von Delir- oder Wahnbildung sonderbaren Inhalts: die Eltern wüßten seine Gedanken, weil er sie ausspreche, ohne sie selbst zu hören. Wir werden kaum irregehen, wenn wir in diesem kindlichen Erklärungsversuch eine Ahnung jener merkwürdigen seelischen Vorgänge vernehmen, die wir unbewußte heißen und deren wir zur wissenschaftlichen Aufhellung des dunklen Sachverhaltes nicht entraten können. „Ich spreche meine Gedanken aus, ohne sie zu hören“, klingt wie eine Projektion nach außen unserer eigenen Annahme, daß er Gedanken hat, ohne etwas von ihnen zu wissen, wie eine endopsychische Wahrnehmung des Verdrängten.

Wir erkennen es nämlich klar: Diese infantile Elementarneurose hat bereits ihr Problem und ihre scheinbare Absurdität wie jede komplizierte Neurose eines Erwachsenen. Was soll es heißen, daß der Vater sterben muß, wenn im Kinde jener lüsterne Wunsch rege wird? Ist das barer Unsinn, oder gibt es Wege, diesen Satz zu verstehen, ihn als notwendiges Ergebnis früherer Vorgänge und Voraussetzungen zu erfassen?

Wenn wir anderswo gewonnene Einsichten auf diesen Fall von Kinderneurose anwenden, so müssen wir vermuten, daß auch hier, also vor dem 6. Jahre, traumatische Erlebnisse, Konflikte und Verdrängungen vorgefallen sind, die selbst der Amnesie verfielen, aber als Residuum diesen Inhalt der Zwangsbefürchtung zurückgelassen haben. Wir werden späterhin erfahren, wieweit es uns möglich ist, diese vergessenen Erlebnisse wiederaufzufinden oder mit einiger Sicherheit zu konstruieren. Unterdes wollen wir noch als ein wahrscheinlich nicht gleichgültiges Zusammentreffen betonen, daß die Kindheitsamnesie unseres Patienten gerade mit dem 6. Jahre ihr Ende erreicht.

Einen derartigen Beginn einer chronischen Zwangsneurose in der frühen Kindheit mit solch lüsternen Wünschen, an die unheimliche Erwartungen und Neigung zu Abwehrhandlungen geknüpft sind, kenne ich von mehreren anderen Fällen. Er ist absolut typisch, wenn auch wahrscheinlich nicht der einzig mögliche Typus. Noch ein Wort über die sexuellen Früherlebnisse des Patienten, ehe wir zum Inhalte der zweiten Sitzung übergehen. Man wird sich kaum sträuben, sie als besonders reichhaltig und wirkungsvoll zu bezeichnen. So ist es aber auch in den andern Fällen von Zwangsneurose, die ich analysieren konnte. Der Charakter der vorzeitigen sexuellen Aktivität wird im Gegensatze zur Hysterie hier niemals vermißt. Die Zwangsneurose läßt viel deutlicher als die Hysterie erkennen, daß die Momente, welche die Psychoneurose formen, nicht im aktuellen, sondern im infantilen Sexualleben zu suchen sind. Das gegenwärtige Sexualleben der Zwangsneurotiker kann dem oberflächlichen Erforscher oft völlig normal erscheinen; es bietet häufig weit weniger pathogene Momente und Abnormitäten als gerade bei unserem Patienten.


  1. Der frühere Analytiker Dr. Alfred Adler gedachte einmal in einem privaten Vortrag der besonderen Bedeutung, welche den allerersten Mitteilungen der Patienten zukommt. Hier ein Beleg dafür. Die einleitenden Worte des Patienten betonen den Einfluß, den Männer auf ihn ausüben, die Rolle der homosexuellen Objektwahl in seinem Leben, und lassen gleich darauf ein zweites Motiv anklingen, welches später bedeutsam hervortreten wird, den Konflikt und Interessengegensatz zwischen Mann und Weib. Auch daß er die erste schöne Gouvernante mit ihrem Familiennamen erinnert, welcher zufällig einem männlichen Vornamen gleicht, ist in diesen Zusammenhang aufzunehmen. In Wiener Bürgerkreisen pflegt man eine Gouvernante häufiger bei ihrem Vornamen zu nennen und behält eher diesen im Gedächtnis.
  2. Er gibt später die Wahrscheinlichkeit zu, daß diese Szene 1 bis 2 Jahre später vorfiel.
  3. Es sei daran erinnert, daß man den Versuch gemacht hat, Zwangsvorstellungen ohne Rücksicht auf die Affektivität zu erklären!