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Die vierte Nacht

Mein Gott, was für ein Ende! Was für ein Ende!

Als ich um neun Uhr kam, war sie schon da. Ich bemerkte sie schon von weitem: sie stand wie bei unserer ersten Begegnung ans Geländer gelehnt und hörte gar nicht, wie ich mich ihr näherte.

„Nastenka!“ rief ich sie an, mit Mühe meine Erregung bezwingend.

Sie wandte sich rasch nach mir um.

„Nun?“ fragte sie, „nun? Schneller!“

Ich blickte sie verständnislos an.

„Wo ist denn der Brief? Haben Sie den Brief gebracht?“ fragte sie, sich am Geländer festhaltend.

„Nein,“ sagte ich, „ich habe gar keinen Brief. Ist er denn noch nicht selbst hier gewesen?“

Sie wurde entsetzlich blaß und sah mich lange unverwandt an. Ich hatte ihr ihre letzte Hoffnung genommen.

„Soll er nur gehen!“ brachte sie schließlich mit gebrochener Stimme hervor. „Gott sei mit ihm! Wenn er mich so verläßt.“

Sie senkte die Augen; dann wollte sie sie heben, um mich anzuschauen, konnte es aber nicht. Noch einige Augenblicke kämpfte sie mit ihrer Erregung; schließlich gab sie den Kampf auf, wandte sich weg, stützte sich auf das Geländer und begann zu weinen.

„Weinen Sie nicht! Weinen Sie nicht!“ fing ich an, hatte aber nicht die Kraft, fortzufahren, als ich sie in solchem Kummer sah; was hätte ich ihr auch sagen können?

„Versuchen Sie mich nicht zu trösten,“ sagte sie, immer noch weinend. „Sprechen Sie nicht von ihm, sagen Sie mir nicht, daß er noch kommen wird, daß er mich gar nicht verlassen hat, so grausam, so unmenschlich, wie er das getan hat. Und warum, warum? War denn etwas in meinem Brief, in jenem unglückseligen Brief, was ihm den Grund dazu geben könnte?“

Tränen erstickten ihre Stimme; das Herz zerriß mir, wie ich sie so sah.

„Oh, wie unmenschlich grausam!“ begann sie wieder. „Und keine Zeile, keine einzige Zeile! Wenn er mir wenigstens geschrieben hätte, daß er mich nicht mehr brauche, daß er sich von mir lossage; er läßt mich aber drei Tage warten und schreibt nicht eine einzige Zeile! Wie leicht ist es doch für ihn, ein armes, schutzloses Mädchen zu verletzen, dessen einzige Schuld es ist, daß sie ihn liebt! Was ich in diesen drei Tagen alles durchgemacht habe! Mein Gott! Mein Gott! Wenn ich nur daran denke, daß ich den ersten Schritt machte, als ich damals zu ihm hinaufging, daß ich mich vor ihm so erniedrigte und ihn weinend um ein wenig Liebe anflehte ... Und jetzt …“ Sie wandte ihr Gesicht mir wieder zu, und ihre schwarzen Augen leuchteten: „Es ist doch nicht so! Es kann nicht sein! Das wäre unnatürlich! Entweder Sie haben sich getäuscht, oder ich; vielleicht hat er meinen Brief gar nicht bekommen? Vielleicht weiß er bis jetzt von nichts? Wie kann man denn, — urteilen Sie selbst, sagen Sie es mir, denn ich verstehe es einfach nicht! — wie kann man denn an einem Menschen so barbarisch roh handeln, wie er an mir? Nicht eine Zeile! Man hat doch mit dem verworfensten Menschen auf der Welt mehr Mitleid, als er mit mir! Vielleicht hat er etwas über mich gehört, vielleicht hat mich jemand vor ihm verleumdet?“ Die letzten Worte schrie sie beinahe. „Nun, was glauben Sie?“

„Hören Sie, Nastenka, ich will morgen zu ihm gehen und mit ihm in Ihrem Namen sprechen.“

„Nun, und?“

„Und ich werde ihn ausfragen und ihm alles erzählen.“

„Und weiter?“

„Schreiben Sie einen Brief. Sagen Sie nicht nein, Nastenka! Sagen Sie nicht nein! Ich werde ihn zwingen, Ihre Handlungsweise zu achten, er wird alles erfahren, und wenn …“

„Nein, mein Freund, nein!“ unterbrach sie mich. „Es ist genug! Er bekommt kein Wort von mir zu hören, nicht eine halbe Zeile, es ist genug! Ich kenne ihn nicht, ich liebe ihn nicht mehr, ich werde ihn ver-ges-sen …“

Sie kam nicht weiter.

„Beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich! Setzen Sie sich her, Nastenka!“ Ich nötigte sie zum Sitzen.

„Ich bin ja ruhig. Was denken Sie? Das war eben nur so ... Die Tränen trocknen ja bald. Glauben Sie denn wirklich, daß ich mich zugrunde richten will, daß ich ins Wasser gehe? …“

Mein Herz war übervoll. Ich wollte ihr etwas sagen, konnte aber kein Wort hervorbringen.

„Hören Sie doch!“ fuhr sie fort, meine Hand ergreifend. „Sagen Sie: Sie würden doch nicht so handeln? Sie hätten doch die, die als erste zu Ihnen kam, nicht so schmählich verlassen und nicht so schamlos über ihr schwaches, törichtes Herz gelacht?! Sie hätten sie doch geschont? Sie hätten doch daran gedacht, daß sie so einsam war, daß sie sich nicht beherrschen konnte und sich vor ihrer Liebe zu Ihnen nicht in acht zu nehmen verstand, daß sie ganz schuldlos war ... und nichts verbrochen hat ... Ach mein Gott, mein Gott …“

„Nastenka!“ schrie ich auf, denn ich konnte meine Erregung nicht mehr bemeistern. „Nastenka! Sie martern mich ja! Sie verwunden mein Herz, Sie morden mich! Nastenka, ich kann nicht länger schweigen! Ich muß endlich sprechen und alles sagen, was sich aus meinem Herzen drängt!“

Bei diesen Worten erhob ich mich von der Bank.

Sie ergriff wieder meine Hand und blickte mich erstaunt an.

„Was ist mit Ihnen?“ fragte sie endlich.

„Hören Sie!“ sagte ich sehr entschieden. „Hören Sie, Nastenka! Was ich Ihnen sagen werde, ist unsinnig, unmöglich, töricht! Ich weiß, daß es ganz unmöglich ist, und doch kann ich nicht schweigen. Bei allen Leiden, die Sie jetzt tragen, beschwöre ich Sie, es mir zu verzeihen!“

„Aber was denn? Was?“ fragte sie einigemal. Sie weinte nicht mehr und starrte mich mit seltsamer Neugierde an. „Was haben Sie?“

„Es ist unmöglich, doch ich liebe Sie, Nastenka! Das ist alles, was ich sagen wollte! Nun ist es heraus!“ Ich winkte mit der Hand wie einer, der gar keine Hoffnung mehr hat. „Urteilen Sie jetzt selbst, ob Sie mit mir so sprechen dürfen, wie Sie eben sprachen, und ob Sie das anhören können, was ich Ihnen gleich sagen werde …“

„Was denn? Was?“ unterbrach sie mich. „Was ist denn dabei? Ich wußte ja schon längst, daß Sie mich lieben, ich glaubte aber immer, daß Sie mich nur so, einfach so ... liebten ... Ach mein Gott, mein Gott!“

„Anfangs liebte ich Sie auch einfach so, Nastenka; doch jetzt, jetzt ... Ich stehe vor Ihnen ebenso da, wie Sie vor ihm dastanden, als Sie zu ihm mit Ihrem Bündel kamen. Und meine Lage ist noch schlimmer, denn er liebte doch damals niemanden, und Sie lieben ihn.“

„Was sagen Sie da? Nun verstehe ich Sie gar nicht mehr! Aber hören Sie, wozu, ich will sagen warum, fangen Sie jetzt damit an? Und so plötzlich ... Mein Gott! Ich spreche ja Unsinn! Doch Sie …“

Nastenka wurde auf einmal ganz verwirrt. Ihre Wangen glühten, und sie schlug die Augen nieder.

„Was soll ich denn tun, Nastenka, was soll ich tun? Ich bin schuld, ich habe Ihr Vertrauen mißbraucht ... Doch nein, nein! Ich bin nicht schuld, Nastenka; ich fühle es, und mein Herz sagt es mir, daß ich schuldlos bin, weil ich Sie doch nicht verletzen oder kränken will! Ich bin Ihr Freund gewesen; ich bin es auch jetzt; ich bin nicht untreu geworden. Nun kommen mir die Tränen, Nastenka. Sollen sie nur fließen, sie stören ja niemanden, sie werden trocknen, Nastenka …“

„Setzen Sie sich doch, setzen Sie sich! Ach mein Gott!“

„Nein, Nastenka! Ich werde mich nicht setzen: ich kann nicht sitzen; ich kann auch nicht mehr wiederkommen, Sie werden mich nicht mehr sehen: ich will Ihnen alles sagen und dann fortgehen. Ich will Ihnen sagen, daß Sie niemals etwas davon erfahren sollten, daß ich Sie liebe. Ich hätte mein Geheimnis in meinem Herzen bewahrt. Ich hätte nicht angefangen, Sie jetzt, in einem solchen Augenblick mit meinen egoistischen Ergüssen zu quälen. Nein, das hätte ich nicht getan! Doch ich konnte es nicht länger aushalten; und Sie haben selbst die Rede darauf gebracht, Sie sind schuld, Sie sind an allem schuld, und nicht ich! Sie können mich nicht so von sich jagen …“

„Aber nein, nein, ich jage Sie ja gar nicht fort!“ sagte Nastenka. Die Arme gab sich die größte Mühe, ihre Verwirrung zu verbergen.

„Sie jagen mich nicht weg? Nein? Und ich war eben selbst im Begriff, von Ihnen fortzulaufen. Ich werde auch wirklich fortgehen; zuvor will ich aber doch alles sagen, was ich auf dem Herzen habe; denn als Sie hier sprachen, und ich nicht ruhig auf meinem Platz sitzen konnte, als Sie weinten und sich quälten, weil ... (ich will es nun aussprechen, Nastenka!) weil man Sie verstoßen und Ihre Liebe zurückgewiesen hat, da fühlte ich, da merkte ich, daß mein Herz voller Liebe zu Ihnen ist! Und das Bewußtsein, Ihnen mit dieser Liebe nicht helfen zu können, brannte mir so auf dem Herzen, daß ich nicht schweigen konnte und sprechen mußte. Ich mußte sprechen, Nastenka! …“

„Ja, ja! Fahren Sie nur fort, sprechen Sie nur so zu mir!“ sagte Nastenka in unerklärlicher, heftiger Bewegung. „Es kommt ihnen wohl sonderbar vor, daß ich Ihnen das sage? Ich bitte Sie aber: sprechen Sie weiter! Ich werde es später erklären, werde alles sagen! …“

„Sie haben Mitleid mit mir, Nastenka! Einfach Mitleid, liebe Freundin! Was verloren ist, ist verloren! Was gesagt ist, läßt sich nicht aus der Welt schaffen! Nicht wahr? Nun wissen Sie alles. Das ist also unser Ausgangspunkt. Es ist ja alles sehr schön, doch hören Sie weiter. Als Sie vorhin hier saßen und weinten, dachte ich mir (lassen Sie mich nur sagen, was ich dachte!) dachte ich, daß Sie ... (ich weiß, daß es nicht stimmt, Nastenka!) ich dachte, daß Sie ... daß Sie irgendwie, nun, auf irgendeine Weise, daß Sie ihn nicht mehr lieben. Und wenn das wirklich so wäre, — ich dachte es mir schon gestern und auch vorgestern, — so hätte ich es sicher erreicht, daß Sie mich liebgewinnen würden: Sie haben es ja gesagt, Sie selbst haben es hier gesagt, daß Sie mich schon liebgewonnen hätten. Und weiter? Das ist beinahe alles, was ich sagen wollte; es bleibt nur noch zu sagen, was geschehen würde, wenn Sie mich nun wirklich liebgewönnen; nur das bliebe noch zu sagen, und nichts mehr! Hören Sie also, meine Freundin, denn Sie sind mir noch immer eine Freundin: ich bin ein einfacher, armer und unbedeutender Mensch, das tut übrigens nichts zur Sache! (ich sage immer etwas anderes, als ich sagen will; ich bin wohl zu aufgeregt); jedenfalls würde ich Sie so lieben, Nastenka, so lieben, daß, wenn Sie auch den, den ich nicht kenne, weiter liebten, meine Liebe Ihnen doch nicht zur Last fallen würde. Sie würden nur fortwährend wissen und fühlen, daß in Ihrer Nähe ein dankbares und warmes Herz pocht, das für Sie ... Ach Nastenka, Nastenka! Was haben Sie aus mir gemacht!“

„Weinen Sie nicht, ich will nicht, daß Sie weinen,“ sagte Nastenka und erhob sich schnell von der Bank. „Kommen Sie, stehen Sie auf und kommen Sie mit mir ... Doch weinen Sie nicht, weinen Sie nicht!“ Sie wischte mir mit ihrem Taschentuch die Tränen aus den Augen. „Kommen Sie! Vielleicht werde ich Ihnen etwas sagen können ... Wenn er mich auch wirklich verlassen hat, wenn er mich vergessen hat, und wenn ich ihn auch noch immer liebe (ich will Sie ja nicht betrügen!) ... aber hören Sie mich an und antworten Sie mir! Wenn ich Sie liebgewonnen hätte, das heißt, ich setze nur den Fall ... Ach, mein lieber Freund! Wenn ich nur daran denke, wie ich Sie verletzt und mit Ihrer Liebe Spott getrieben habe, als ich Sie dafür lobte, daß Sie sich in mich nicht verliebt hätten ... Mein Gott! Wie habe ich das nicht vorausgesehen, wie konnte ich das nicht bemerken, wie dumm war ich; doch ... Nun habe ich mich entschlossen! Ich will Ihnen alles sagen …“

„Hören Sie, Nastenka, wissen Sie was? Ich will von Ihnen fortgehen. Ich quäle Sie ja nur. Nun haben Sie gar Gewissensbisse und werfen sich vor, daß Sie mit mir Spott getrieben hätten; ich will aber nicht, ich will einfach nicht, daß Sie außer Ihrem Kummer ... Natürlich bin ich schuld, Nastenka ... Doch leben Sie wohl!“

„Hören Sie nur: können Sie warten?“

„Worauf warten?“

„Ich liebe ihn noch. Doch das wird vergehen, das muß vergehen, es kann nicht noch länger währen; es vergeht schon, ich fühle es. Wer kann wissen, vielleicht wird es noch heute ganz aufhören, denn ich hasse ihn, weil er mich verhöhnt hat, während Sie hier mit mir weinten; denn Sie würden mich nicht so verstoßen haben, wie er; denn Sie lieben mich, und er hat mich niemals geliebt; denn ... auch ich liebe Sie ... Ja, ich liebe Sie! Ich liebe Sie so, wie Sie mich lieben: ich habe es Ihnen ja auch früher gesagt, und Sie haben es gehört: ich liebe Sie, weil Sie besser sind als er, weil Sie edler sind, weil er …“

Die Arme war so erregt, daß sie nicht weiter sprechen konnte. Sie lehnte ihr Köpfchen an meine Schulter, dann an meine Brust und begann bitterlich zu weinen. Ich versuchte sie zu trösten, zu beruhigen, doch sie konnte nicht mehr aufhören. Sie drückte mir fortwährend die Hand und stammelte unter Tränen: „Warten Sie, warten Sie, ich höre gleich auf! Ich will Ihnen noch etwas sagen. Glauben Sie nur nicht, daß diese Tränen ... Es ist nur ein Anfall von Schwäche, warten Sie, es geht gleich vorüber …“ Endlich hörte sie auf, wischte sich die Tränen aus den Augen, und wir gingen weiter. Ich wollte mit ihr sprechen, doch sie bat mich immerwährend, noch etwas zu warten. Wir schwiegen beide ... Endlich nahm sie sich zusammen und begann mit schwacher, bebender Stimme, aus der aber plötzlich etwas Neues klang, was sich tief in mein Herz bohrte und darin ein unsagbar schmerzhaftes und zugleich süßes Gefühl weckte:

„Glauben Sie nur nicht, daß ich unbeständig und leichtsinnig bin; glauben Sie nicht, daß ich so leicht und schnell etwas vergesse und untreu werde ... Ich habe ihn ein ganzes Jahr geliebt, und ich schwöre bei Gott, daß ich ihm niemals, auch in Gedanken nicht, untreu war. Er hat meine Liebe mißachtet. Er hat mit mir Spott getrieben — mag er nun gehen, Gott mit ihm. Er hat mich aber auch tief verwundet und mein Herz verletzt... Ich ... ich liebe ihn nicht, denn ich kann nur einen Menschen lieben, der großmütig ist, der mich versteht und edel ist. Denn ich bin selbst so, und er ist meiner unwürdig, — Gott mit ihm! So ist es vielleicht auch besser, als wenn ich mich später in meinen Erwartungen betrogen gesehen und erfahren hätte, was für ein Mensch er ist ... Das ist ja klar! Doch wer kann wissen, mein guter Freund,“ setzte sie hinzu und drückte mir die Hand, „wer kann wissen, vielleicht war auch meine ganze Liebe zu ihm nur eine Sinnestäuschung und Einbildung? Vielleicht war sie nur deshalb aus einer Laune, aus einer Kinderei entstanden, weil ich von Großmutter so streng behütet wurde? Vielleicht sollte ich einen andern lieben und nicht ihn; einen Menschen, der mit mir Mitleid hat und ... und ... Doch genug davon, genug,“ unterbrach sich Nastenka plötzlich, vor Erregung kaum atmend. „Ich wollte Ihnen nur sagen ... ich wollte Ihnen nur sagen: wenn Sie, trotzdem ich ihn noch liebe, nein, geliebt habe, glauben ... wenn Sie fühlen, daß Ihre Liebe so groß ist, daß sie schließlich die frühere aus meinem Herzen verdrängen kann ... Wenn Sie mit mir Mitleid haben und mich nicht allein meinem Schicksal überlassen wollen, ohne Trost und ohne Hoffnung; wenn Sie mich immer so lieben wollen, wie jetzt, so schwöre ich Ihnen, daß meine Dankbarkeit ... daß meine Liebe der Ihrigen würdig sein wird ... Wollen Sie nun meine Hand?“

„Nastenka!“ rief ich schluchzend und um Atem ringend aus. „Nastenka! O Nastenka!“

„Nun ist es genug! Wirklich genug!“ brachte sie mit Anstrengung hervor. „Nun ist alles gesagt, nicht wahr? Ja? Nun sind Sie glücklich, und auch ich bin glücklich; also kein Wort mehr darüber! Haben Sie Geduld, schonen Sie mich ... Sprechen Sie doch von etwas anderm, um Gottes willen! …“

„Ja, Nastenka, ja! Genug davon! Nun bin ich glücklich, ich ... Ja, wollen wir von etwas anderm sprechen, schnell von etwas anderm ... Ja, ich bin bereit. ..“

Wir wußten nicht, wovon wir sprechen sollten, wir lachten und weinten, wir sagten tausend Worte ohne Zusammenhang und Inhalt; bald gingen wir auf dem Trottoir auf und ab, bald kehrten wir um und begannen die Straße zu durchqueren; dann blieben wir stehen und kehrten wieder auf den Kai zurück; wir waren wie Kinder ...

„Ich bin heute noch ganz allein, Nastenka,“ sagte ich, „doch morgen ... Sie wissen ja, Nastenka, daß ich arm bin: ich bekomme nur zwölfhundert Rubel Jahresgehalt, das macht aber nichts …“

„Gewiß macht es nichts. Großmutter hat ihre Pension und wird uns nicht zur Last fallen ... Wir müssen aber Großmutter zu uns nehmen.“

„Natürlich müssen wir Großmutter zu uns nehmen ... Ich habe auch noch meine Matrjona …“

„Und wir haben die Fjokla!“

„Matrjona ist ja eine herzensgute Person, sie hat aber einen Fehler: es fehlt ihr an Verstand. Das macht aber nichts! …“

„Das macht wirklich nichts! Matrjona und Fjokla können gut zusammen leben. Sie müssen aber schon morgen zu uns ziehen.“

„Wie? Zu Ihnen? Gut, ich bin bereit …“

„Ja, mieten Sie sich bei uns ein. Wir haben ja oben eine Mansarde; sie ist jetzt frei. Wir hatten zuletzt eine alte adlige Dame zur Mieterin; sie ist nun ausgezogen, und ich weiß, daß Großmutter jetzt am liebsten einen jungen Zimmerherrn haben möchte. Ich frage sie:„Warum einen jungen Mann?“ Und sie sagt: „Ich bin ja schon alt ... Glaube aber nicht, Nastenka, daß ich einen Freier für dich suche.“ Nun begriff ich, daß sie gerade das will …“

„Ach Nastenka!“

Wir fingen beide zu lachen an.

„Nun genug, lassen Sie es gut sein. Wo wohnen Sie übrigens? Ich habe es schon ganz vergessen.“

„In der Nähe der X-Brücke, im Barannikow'schen Hause.“

„Ist es das große Haus?“

„Ja, das große Haus.“

„Ach ja, ich weiß schon, es ist ein ganz nettes Haus. Doch wissen Sie was, ziehen Sie aus und mieten Sie sich so schnell als möglich bei uns ein …“

„Morgen will ich es tun, Nastenka, morgen; ich schulde zwar noch einen Teil der Miete, aber das macht nichts ... Ich bekomme bald mein Gehalt …“ „Wissen Sie was? Ich werde vielleicht Stunden geben; werde zuerst selbst etwas lernen, und dann andere unterrichten …“

„Das wäre wirklich schön! Und ich bekomme bald eine Gehaltszulage, Nastenka …“

„Schön, also von morgen ab sind Sie unser Zimmerherr …“

„Ja, und dann wollen wir wieder einmal zum „Barbier von Sevilla“ gehen: er wird nämlich nächstens wieder aufgeführt …“

„Gewiß wollen wir hin!“ sagte Nastenka lachend. „Doch nein, lieber nicht zum ‚Barbier‘, sondern zu einem andern Stück …“

„Gut, zu einem andern Stück; das wird auch viel netter sein, ich hatte es mir im Augenblick nicht überlegt …“

Während wir dies sprachen, waren wir beide wie im Nebel, wie im Rausch, als wüßten wir selbst nicht, was mit uns vorging. Bald blieben wir stehen und sprachen lange, immer auf demselben Flecke bleibend, bald begannen wir wieder zu gehen und kamen Gott weiß wie weit, bald lachten wir, und bald weinten wir. Bald wollte Nastenka plötzlich nach Hause; ich wagte nicht, sie zurückzuhalten und wollte sie bis vor ihr Haus begleiten; wir gingen auch wirklich hin, merkten aber nach einer Viertelstunde, daß wir wieder auf den Kai zu unserer Bank geraten waren. Bald seufzte sie auf, und neue flüchtige Tränen traten ihr in die Augen ... und mich überlief es kalt, und ich wurde wieder verwirrt ... Schon drückte sie mir aber wieder die Hand und zwang mich von neuem auf und ab zu gehen, zu sprechen und zu scherzen ...

„Nun muß ich wirklich nach. Hause! Es ist wohl schon sehr spät,“ sagte sie zuletzt. „Wir haben genug Unsinn geredet!“

„Ja, Nastenka, doch ich werde heute nicht mehr einschlafen; ich werde auch gar nicht nach Hause gehen.“

„Auch ich werde wohl nicht schlafen können; begleiten Sie mich aber bis vors Haus …“

„Gewiß!“

„Diesmal wollen wir unbedingt bis zum Hause kommen!“

„Ja, ganz bestimmt …“

„Ihr Ehrenwort? Denn ich muß ja doch einmal heimkommen!“

„Mein Ehrenwort!“ sagte ich lachend.

„Also gehen wir!“

„Gehen wir ... Schauen Sie nur den Himmel an, Nastenka! Morgen werden wir den schönsten Tag haben; wie blau der Himmel ist, wie schön der Mond scheint! Schauen Sie hin: eine gelbe Wolke will ihn eben verdecken, sehen Sie, sehen Sie! .. Nein, die Wolke ist schon vorbeigeschwommen. Schauen Sie doch hin, schauen Sie!“

Nastenka sah aber nicht zur Wolke empor. Sie stand schweigend und wie angewurzelt da; nach einigen Augenblicken schmiegte sie sich plötzlich seltsam scheu an mich. Ihre Hand zitterte in der meinigen; ich sah sie an ... sie schmiegte sich noch fester an mich.

In diesem Augenblick ging ein junger Mann an uns vorüber. Plötzlich blieb er stehen, sah uns aufmerksam an und machte noch einige Schritte ... Mein Herz erbebte ...

„Nastenka!“ fragte ich leise, „Nastenka, wer ist das?“

„Das ist er!“ antwortete sie flüsternd und drückte sich ganz fest an mich; dabei zitterte sie immer stärker ... Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten.

„Nastenka, Nastenka, bist du es? Ja, das bist du!“ erklang eine Stimme hinter uns, und im gleichen Augenblick ging der junge Mann einige Schritte auf uns zu ...

Mein Gott, wie sie aufschrie! Wie sie zusammenfuhr! Wie sie sich von meinem Arme losriß und ihm zuflog! .. Ich stand ganz niedergeschmettert da und sah die beiden an. Doch kaum hatte sie ihm die Hand gereicht, kaum war sie ihm in die Arme gesunken, als sie sich plötzlich umwandte, wie der Wind, wie der Blitz zu mir eilte, und, ehe ich mich versah, mit beiden Armen meinen Hals umschlang und mir einen heißen herzhaften Kuß auf die Lippen drückte. Dann flog sie, ohne mir ein Wort zu sagen, ihm wieder zu, ergriff seine Hand und zog ihn mit sich fort.

Ich stand noch lange da und sah ihnen nach, bis sie meinen Blicken entschwunden waren.