Zum Hauptinhalt springen

Die erste Nacht

Es war eine wunderbare Nacht, eine von den Nächten, die wir nur erleben, solange wir jung sind, freundlicher Leser. Der Himmel war so sternenreich, so heiter, daß man sich bei seinem Anblick unwillkürlich fragen mußte: können denn unter einem solchen Himmel überhaupt irgendwelche böse oder mürrische Menschen leben? So fragt man nur, wenn man jung ist, freundlicher Leser, wenn man sehr jung ist; doch möge der Herr Ihnen solche Fragen öfter eingeben ... Da ich gerade von allerlei mürrischen und bösen Herrschaften spreche, muß ich an mein musterhaftes Betragen während des ganzen heutigen Tages denken. Schon vom frühen Morgen an quälte mich ein seltsames Unlustgefühl. Es war mir plötzlich, als ob ich, Einsamer, von allen verlassen sei und als ob sich alle von mir lossagten. Nun kann man mich allerdings fragen: wer sind diese „Alle“? Denn ich lebe schon seit acht Jahren in Petersburg und habe es bis heute nicht verstanden, Bekanntschaften zu machen. Wozu brauche ich auch Bekanntschaften? Ich kenne auch so ganz Petersburg; darum hatte ich auch das Gefühl, von allen verlassen zu sein, als ganz Petersburg aufbrach und in die Sommerfrischen zog. Es war mir so schrecklich, allein zu bleiben, und darum irrte ich ganze drei Tage in der Stadt umher, von einem starken Unlustgefühl bedrückt und ohne zu begreifen, was mit mir vorging. Gehe ich auf den Newskij-Prospekt oder in einen Park, oder irre ich an den Kais entlang, — nirgends treffe ich auch nur ein Gesicht von denen, die ich gewohnt war, das ganze Jahr hindurch an einer bestimmten Stelle zu einer bestimmten Stunde zu sehen. Alle die Leute kennen mich natürlich nicht, aber ich kenne sie. Ich kenne sie ganz genau, ich habe ihre Gesichter studiert, — und ich habe mein Vergnügen an ihnen, wenn sie vergnügt, und bin verstimmt, wenn sie mißvergnügt sind. Mit einem alten Männchen, dem ich jeden lieben Tag zu derselben Stunde an der Fontanka zu begegnen pflegte, bin ich beinahe befreundet. Er hat ein so ernstes, nachdenkliches Gesicht, murmelt sich immer etwas in den Bart, schwenkt den linken Arm hin und her und trägt in der rechten Hand einen Knotenstock mit goldenem Knopf. Auch er kennt mich bereits und nimmt an mir großen Anteil. Ich bin überzeugt, daß er sehr verstimmt sein wird, wenn ich zur bestimmten Stunde an einer bestimmten Stelle der Fontanka nicht erscheine. Darum sind wir nahe daran, einander zu grüßen; besonders, wenn wir beide gut aufgelegt sind. Als wir uns neulich ganze zwei Tage nicht gesehen hatten und uns am dritten Tage wieder trafen, griff ein jeder von uns nach seinem Hute; wir beherrschten uns aber noch zur rechten Zeit, ließen die Hände sinken und gingen mit teilnahmsvollen Blicken aneinander vorbei. — Auch unter den Häusern habe ich Bekannte. Wenn ich eine Straße entlang gehe, so eilt mir jedes Haus gleichsam etwas entgegen, blickt mich mit allen seinen Fenstern an und spricht: „Guten Tag! Wie geht es Ihnen? Mir geht es, Gottlob, recht gut, und im Mai bekomme ich ein neues Stockwerk.“ Oder: „Wie ist Ihr Befinden? Was mich betrifft, so komme ich morgen in Reparatur!“ Oder: „Ich wäre neulich um ein Haar verbrannt und bin mit ordentlichem Schrecken davongekommen“ usw. Ich habe unter ihnen meine Lieblinge und gute Freunde; eines von ihnen hat die Absicht, sich diesen Sommer einer Kur bei einem Architekten zu unterziehen. Ich habe mir vorgenommen, es jeden Tag zu besuchen: daß man es mir, Gott behüte, nicht zu Tode kuriert! ... Doch niemals vergesse ich die Geschichte mit einem reizenden hellrosa Häuschen. Es war ein so liebes steinernes Häuschen, es lächelte mich immer so freundlich an und blickte so stolz auf seine plumpen Nachbarn, daß sich mir jedesmal, wenn ich vorbeiging, das Herz im Leibe freute. Doch wie ich in der vorigen Woche vorbeigehe und meinen Freund anschaue, höre ich plötzlich seinen Jammerschrei: „Man streicht mich gelb an!“ Diese Bösewichter! Barbaren! Nichts haben sie verschont: weder die Säulen, noch die Gesimse, und mein Freund wurde gelb wie ein Kanarienvogel. Mir lief vor Erregung beinahe die Galle über, und ich bringe es auch heute noch nicht übers Herz, meinen verunstalteten armen Freund aufzusuchen, den man in der Farbe des Reiches der Mitte angemalt hat.

Nun verstehen Sie wohl, freundlicher Leser, auf welche Weise ich ganz Petersburg kenne.

Wie ich schon sagte, verzehrte ich mich drei Tage in Unruhe, bis ich endlich ihren Grund erriet. Auf der Straße war es mir ganz trüb zumute (dieser fehlt, jener fehlt, und wo ist der und der hingeraten?), und auch zu Hause war es mir unbehaglich. Zwei Abende suchte ich zu erraten: was fehlt mir in meinem Winkel? Warum ist es mir zu Hause so unbehaglich? Und ich betrachtete forschend meine grünen verrauchten Wände, die mit Spinngewebe, welches meine Matrjona mit großem Erfolg züchtete, behangene Decke, musterte alle Möbel, untersuchte jeden Stuhl und suchte dem Übel auf die Spur zu kommen; wenn bei mir nämlich auch nur ein Stuhl anders steht, als er gestern stand, bin ich ganz außer mir; ich schaute auch zum Fenster hinaus, doch alles war umsonst und brachte mir auch nicht die geringste Erleichterung! Ich entschloß mich sogar, Matrjona herbeizurufen und richtete an sie bei dieser Gelegenheit eine väterliche Ermahnung wegen des Spinngewebes und der sonstigen Unordnung; sie sah mich aber nur erstaunt an und ging, ohne auch nur ein Wort zu entgegnen, wieder fort, so daß das Spinngewebe auch heute noch an seinem Platz hängt. Und erst heute früh kam ich endlich der Sache auf den Grund. Ach so! Sie brennen mir ja alle durch und ziehen aufs Land! Verzeihen Sie den trivialen Ausdruck, doch es war mir in diesem Augenblick wirklich nicht um die Schönheit des Stiles zu tun: denn alles, was es in Petersburg gab, war bereits in die Sommerfrische gezogen, oder war gerade im Begriff, es zu tun; denn ich mußte jeden soliden Herrn, der eine Droschke mietete, für einen ehrwürdigen Familienvater halten, der soeben sein Tageswerk erledigt hat und sich mit leichtem Herzen aufs Land, in den Schoß seiner Familie begibt; denn jeder Mensch, der mir begegnete, hatte ein ganz besonderes Aussehen und schien jedem andern Passanten zuzurufen: „Wir sind nur so vorübergehend hier, meine Herren, doch in zwei Stunden ziehen wir aufs Land.“ Wenn irgendwo ein Fenster aufging, auf dem vorher zwei feine, zuckerweiße Finger getrommelt hatten, und ein hübsches junges Mädchen den Kopf aus dem Fenster hinaussteckte und einen Straßenhändler, der Blumen feilbot, heranrief, so stellte ich mir gleich vor, daß sie diese Blumen ganz ohne Zweck kaufte, das heißt gar nicht um sich in der dumpfen Stadtwohnung an ihnen und am Frühling zu ergötzen, und daß die ganze Familie sehr bald aufs Land ziehen und die Blumentöpfe mitnehmen würde. Und noch mehr als das: ich hatte auf diesem neuen und besondern Entdeckungsgebiet bereits solche Erfolge gemacht, daß ich nach dem bloßen Aussehen eines Menschen fehlerlos bestimmen konnte, in welcher Sommerfrische er wohnt. Die Bewohner der Stein- und der Apothekerinsel oder der Peterhofer Landstraße zeichnen sich durch anerzogene gute Manieren, elegante Sommerkleidung und schöne Equipagen aus, in denen sie in die Stadt hineinfahren. Die Bewohner von Pargolowo und der dahinterliegenden Gebiete imponieren gleich beim ersten Blick durch ihr solides und kluges Aussehen; die Sommergäste der Krestowskij-Insel fallen durch ihre unerschütterlich gute Stimmung auf. Wenn ich einer langen Prozession mit Bergen von Möbelstücken aller Art, Tischen, Stühlen, türkischen und nichttürkischen Diwans und sonstigen Einrichtungsgegenständen beladener Fuhrwerke begegnete, auf deren Gipfel oft auch noch eine schwächliche Köchin, das Gut ihrer Herrschaft wie ihren Augapfel bewachend, thronte, während die Fuhrleute, mit den Zügeln in der Hand, träge neben den Wagen einherschritten; oder wenn ich mit schwerem Hausrat beladene Kähne die Newa oder die Fontanka in der Richtung zum Schwarzen Bach oder zu den Inseln hinabgleiten sah, so verzehnfachten sich die Fuhrwerke und die Kähne in meinen Augen; es schien mir, daß alles sich aufmachte und in ganzen Karawanen aufs Land übersiedelte; es schien mir, daß ganz Petersburg sich in eine Wüste zu verwandeln drohte. Schließlich fühlte ich mich beschämt, beleidigt und traurig, weil ich nicht wußte, wohin und wozu ich aufs Land ziehen sollte. Ich wäre bereit, mit jedem Möbelwagen mitzulaufen, mich jedem Herrn, der eine Droschke mietete, anzuschließen; doch niemand, wirklich niemand forderte mich dazu auf; es war, als ob sie mich vergessen hätten, als ob ich ihnen wirklich ganz fremd wäre!

Ich irrte so viel und so lange umher, bis ich, wie es mir oft passierte, vergaß, wo ich mich befand; und plötzlich war ich bei der Stadtgrenze angelangt. Augenblicklich wurde es mir lustig zumute; ich passierte den Schlagbaum, schritt zwischen bestellten Äckern und Wiesen vorwärts, spürte keine Müdigkeit und fühlte mit meinem ganzen Wesen, wie eine schwere Last mir vom Herzen fiel. Alle Leute, die vorüberfuhren, warfen mir freundliche Blicke zu und waren nahe daran, mich zu grüßen; und alle ohne Ausnahme rauchten Zigarren. Und ich war so lustig, wie noch nie. Es war mir, als ob ich plötzlich nach Italien geraten wäre: einen solchen Eindruck machte auf mich, den halbkranken Stadtbewohner, der in den Stadtmauern beinahe erstickt war, die Natur.

Es liegt etwas unbeschreiblich Rührendes in unserer Petersburger Natur, wenn sie bei Frühlingsbeginn ihre ganze Macht und alle ihr vom Himmel verliehenen Kräfte offenbart, sich putzt und mit Laub und Blüten schmückt ... Ich muß jedesmal an das kranke, schwindsüchtige Mädchen denken, das Sie mit Bedauern und auch mit einer eigentümlichen mitleidigen Liebe anblicken und zuweilen überhaupt nicht bemerken, und das plötzlich, für nur einen Augenblick ganz unerwartet in unbeschreiblicher Schönheit erstrahlt, während Sie sich erstaunt und berauscht fragen: Welche Kraft hat in diesen traurigen, nachdenklichen Augen solches Feuer entzündet? Was hat ihr das Blut in die blassen, eingefallenen Wangen getrieben? Was hat die zarten Gesichtszüge mit Leidenschaft übergossen? Warum wogt diese Brust? Was hat im Gesicht des armen Mädchens Kraft, Leben und Schönheit geweckt und es mit diesem Lächeln belebt? Woher kommt dieses sprudelnde, zündende Lachen? Sie schauen sich um, Sie suchen, Sie raten ... Doch der Augenblick ist schon vorbei, und Sie sehen vielleicht schon morgen den nachdenklichen, zerstreuten Blick von vorhin, dasselbe bleiche Antlitz, die gleiche Ergebenheit und Schüchternheit der Bewegungen und sogar etwas wie lähmenden Unmut und Reue ob des flüchtigen Aufschwunges von vorhin ... Und es tut Ihnen leid, daß die plötzliche Schönheit so schnell, so unwiederbringlich verwelkt ist, daß sie so trügerisch und vergebens vor Ihrem Blick gestrahlt hat; es tut Ihnen leid, weil Sie nicht einmal Zeit gehabt, sich in sie zu verlieben ...

Und doch war meine Nacht noch schöner als der Tag! Und das kam so: Ich kehrte sehr spät in die Stadt zurück, und als ich mich meiner Wohnung näherte, schlug es schon zehn Uhr. Ich ging den Kanal entlang, wo man um diese Stunde gewöhnlich keinem Menschen begegnet. Ich wohne allerdings in einem entlegenen Stadtteile. Ich ging und sang, denn wenn ich mich glücklich fühle, summe ich immer irgend etwas vor mich hin, wie es auch jeder glückliche Mensch tut, der weder Freunde, noch gute Bekannte, noch sonst jemanden hat, mit dem er seine Freude teilen könnte. Und plötzlich hatte ich ein ganz unerwartetes Abenteuer.

Etwas abseits, an das Geländer des Kanals gelehnt, stand ein weibliches Wesen, das sehr aufmerksam in das trübe Wasser des Kanals hinabzuschauen schien. Es trug ein reizendes gelbes Hütchen und eine kokette schwarze Mantille. „Es ist wohl ein junges Mädchen,“ sagte ich mir, „und zweifellos eine Brünette.“ Sie hatte meine Schritte wohl nicht gehört und rührte sich gar nicht, als ich mit verhaltenem Atem und pochendem Herzen an ihr vorüberging. „Seltsam!“ dachte ich mir: „Sie ist wohl ganz mit einem Gedanken beschäftigt.“ Und plötzlich blieb ich wie angewurzelt stehen. Ich hörte ein dumpfes Schluchzen. Ja, ich irrte mich nicht: das Mädchen weinte wirklich, und nach einem Augenblick hörte ich sie wieder aufschluchzen! Mein Herz krampfte sich zusammen. Sonst bin ich ja Damen gegenüber sehr schüchtern, doch das war ja ein ganz besonderer Fall! ... Ich kehrte um, ging auf sie zu und würde wohl sicher „Madame!“ gesagt haben, wenn ich nicht gewußt hätte, daß diese Anrede in den russischen Gesellschaftsromanen schon tausendmal gebraucht worden ist. Dies allein hielt mich davon ab. Doch während ich nach einem andern Worte suchte, kam das Mädchen zur Besinnung, sah sich um, senkte den Blick, huschte an mir vorbei und ging den Kai entlang. Ich folgte ihr, doch sie merkte das und ging vom Kai auf die andere Straßenseite hinüber. Ich wagte nicht, ihr auf das Trottoir zu folgen. Mein Herz schlug so heftig wie bei einem gefangenen Vogel. Ein Zufall kam mir ganz unerwartet zu Hilfe.

Auf der andern Straßenseite tauchte plötzlich neben meiner Unbekannten ein Herr im Frack auf; er schien in soliden Jahren zu sein, doch seine Haltung war nichts weniger als solid. Er wankte hin und her und tastete sich vorsichtig an den Mauern entlang. Das Mädchen ging aber gerade wie ein Pfeil aus dem Bogen, eilig und zugleich etwas unsicher, wie alle jungen Mädchen gehen, die nicht wollen, daß jemand sie nachts auf dem Nachhausewege anspreche und ihnen seine Begleitung anbiete. Der wankende Herr würde sie auch niemals eingeholt haben, wenn ihm das Schicksal nicht den Rat eingegeben hätte, eine andere Taktik zu wählen. Ganz unvermittelt begann er plötzlich, was ihn nur die Beine trugen, zu rennen. Sie lief wie der Wind, doch der wankende Herr kam immer näher, holte sie schließlich ein, das Mädchen schrie auf und — ich segne das Schicksal für den vortrefflichen Knotenstock, den ich zufällig in der Hand hatte! Im Augenblick war ich auf der andern Straßenseite, im Augenblick erfaßte der ungebetene Begleiter die Sachlage, begriff meine unwiderlegbaren Argumente, schwieg und blieb zurück; erst als uns eine größere Strecke von ihm trennte, begann er in recht energischen Ausdrücken gegen mich zu protestieren. Doch wir hörten kaum seine Worte.

„Geben Sie mir Ihren Arm,“ sagte ich meiner Unbekannten, „und er wird sich nicht mehr unterstehen, Sie zu belästigen.“

Sie reichte mir stumm ihren Arm, der noch vor Aufregung und Schreck zitterte. O ungebetener Herr! Wie dankte ich dir in diesem Augenblick! Ich streifte sie mit einem Blick: sie war sehr hübsch und brünett — ich hatte also richtig geraten. Auf ihren schwarzen Wimpern glänzten noch die Tränen des eben ausgestandenen Schreckens, oder vielleicht auch eines früheren Kummers; ich weiß es nicht. Doch auf ihren Lippen spielte bereits ein Lächeln. Auch sie streifte mich mit einem heimlichen Blick, errötete etwas und wurde verlegen.

„Nun sehen Sie es: warum haben Sie mich vorhin abgewiesen? Wäre ich gleich an Ihrer Seite, so wäre nichts geschehen …“

„Aber ich kannte Sie nicht; ich glaubte, daß auch Sie …“

„Kennen Sie mich denn jetzt?“ „Ein wenig ... Warum zittern Sie jetzt so?“

„O, Sie haben mich gleich beim ersten Blick erkannt!“ antwortete ich, ganz entzückt darüber, daß das Mädchen auch klug war; auch einem schönen Mädchen kann Klugheit niemals schaden. „Sie errieten ja gleich auf den ersten Blick, mit wem Sie es zu tun haben. Es ist wahr, wenn ich vor einer Frau stehe, bin ich stets schüchtern und, ich gebe es zu, nicht weniger aufgeregt, als Sie es vorhin waren, wie jener Herr Sie so erschreckte ... Jetzt bin ich erschrocken. Es ist mir, als ob alles ein Traum wäre; ich habe mir aber auch im Traume niemals vorgestellt, daß ich imstande wäre, mit irgendeinem weiblichen Wesen zu sprechen …“

„Wieso? Ist es wirklich wahr?“

„Ja. Wenn mein Arm zittert, so kommt es nur daher, weil er noch niemals von einer so hübschen kleinen Hand umfaßt wurde, wie von der Ihrigen. Ich habe gänzlich verlernt, mit Damen zu sprechen. Das heißt: ich habe es auch niemals gekonnt. Ich bin ja ganz einsam ... Ich weiß sogar nicht, wie ich zu Ihnen sprechen soll. Ich weiß im Augenblick auch nicht, ob ich nicht soeben eine Dummheit gesagt habe? Sagen Sie es mir, bitte, geradeaus: ich bin nicht im mindesten empfindlich …“

„Nein, nein, ganz im Gegenteil. Und wenn Sie schon verlangen, daß ich aufrichtig sprechen soll, so will ich Ihnen sagen, daß uns Frauen diese Schüchternheit gut gefällt. Und wenn Sie noch mehr wissen wollen: sie gefällt auch mir, und ich will Sie nicht von mir jagen, bis ich vor meinem Hause angelangt bin.“

„Sie werden damit erreichen,“ begann ich, vor Entzücken kaum atmend, „daß ich meine Schüchternheit aufgebe und somit auch meine einzige Waffe aus der Hand lege …“

„Waffe? Was für eine Waffe und zu welchem Zweck? Das gefällt mir schon gar nicht.“

„Verzeihen Sie! Ich tu's nicht wieder, es kam mir so ganz unwillkürlich von den Lippen. Wie können Sie auch erwarten, daß ich in einem solchen Augenblick gar keinen Wunsch habe …“

„Den Wunsch, mir zu gefallen, nicht wahr?“

„Ja, ja ... Seien Sie doch um Himmels willen gut zu mir! Vergessen Sie nicht, mit wem Sie es zu tun haben: ich bin ja schon sechsundzwanzig Jahre alt und habe noch gar keine Bekanntschaften. Wie kann ich da vernünftig, gewandt und klug sprechen? Es ist auch für Sie vorteilhafter, wenn ich ganz offen spreche ... Ich kann nicht schweigen, wenn mein Herz aus mir spricht. Nun, es ist ja gleich ... Glauben Sie mir: ich hatte noch niemals eine Frau in meiner Nähe, niemals, niemals ... Keine einzige Bekanntschaft! Und ich sehnte mich tagtäglich nur danach, endlich einmal jemandem zu begegnen. O, wenn Sie wüßten, wie oft ich schon auf diese Weise verliebt gewesen bin! …“

„Wieso? ... Und in wen?“

„In niemand bestimmten, in ein Ideal, in die, die ich gerade im Traum sah. In meinen Gedanken spinne ich ganze Romane aus ... O, Sie kennen mich noch nicht! Natürlich habe ich ja auch zwei oder drei Frauen gekannt: wie wäre es auch anders möglich! Doch was waren das für Frauen? Lauter sogenannte gute Hausfrauen ... Sie werden sicher lachen: ich will Ihnen gestehen, daß mir schon einigemal der Gedanke kam, irgendeine aristokratische Dame auf der Straße, natürlich wenn sie allein ist, anzusprechen, selbstverständlich ganz nüchtern, ehrerbietig und leidenschaftlich; ihr zu sagen, daß ich in meiner Einsamkeit zugrunde gehe, daß sie mich nicht von sich jagen solle, daß ich kein anderes Mittel wüßte, ein weibliches Wesen kennen zu lernen; sie davon zu überzeugen, daß es auch ihre Pflicht als Frau sei, dem schüchternen Flehen eines so unglücklichen Menschen wie ich Gehör zu leihen, und daß ich von ihr nichts mehr verlange, als daß sie mir zwei oder drei schwesterlich mitfühlende Worte sage, mich nicht gleich beim ersten Schritt abweise, mir unbedingten Glauben schenke, mich anhöre, — wenn sie will, kann sie ja über mich auch ein wenig lachen, — daß sie mich ermutige und mir zwei Worte, nur zwei Worte sage; dann — können wir ja auch für immer aus einandergehen! ... Doch Sie lachen ... Ich spreche ja, übrigens, auch nur dazu …“

„Seien Sie mir nicht böse! Ich lache nur darüber, daß Sie sich selbst unbedingt schaden wollen; denn hätten Sie den Versuch, von dem Sie eben sprachen, gemacht, so wäre er Ihnen sicher gelungen, selbst wenn Sie ihn wirklich auf der Straße unternommen hätten; je einfacher, desto besser ... Keine einzige Frau, — wenn sie nur nicht schlecht oder dumm ist, oder sich im Augenblick über etwas ärgert, — brächte es übers Herz, Sie ohne die zwei oder drei Worte, um die Sie so demütig flehen, gehen zu lassen ... Was spreche ich übrigens? Natürlich würde Sie eine jede für verrückt halten. Ich sprach ja eben nur von mir selbst. Denn ich weiß, was das Leben bedeutet.“

„Haben Sie Dank!“ rief ich aus: „Sie wissen selbst nicht, was Sie für mich getan haben!“

„Gut, gut. Doch sagen Sie mir, wieso Sie es erkannt haben, daß ich eine Frau bin, mit der Sie ... nun, die Sie Ihrer Aufmerksamkeit und Freundschaft für würdig halten? ... Kurz — daß ich keine Hausfrau bin, wie Sie es nennen. Warum entschlossen Sie sich, mich anzusprechen?“

„Warum? Warum? Sie waren ja allein, jener Herr erlaubte sich zu viel, und dann ist es Nacht: Sie werden doch zugeben, daß es meine Pflicht war …“

„Nein, nicht das meine ich: noch früher, auf der andern Straßenseite wollten Sie mich doch auch schon ansprechen, nicht wahr?“

„Auf der andern Straßenseite? Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen darauf sagen soll; ich habe solche Angst ... Wissen Sie: ich fühlte mich heute so glücklich, ich bin draußen vor der Stadt gewesen und habe im Gehen gesungen; ich habe noch nie so glückliche Augenblicke erlebt! Und Sie ... vielleicht schien es mir nur so ... Verzeihen Sie, wenn ich Sie daran erinnere: es schien mir, daß Sie weinten, und ich ... ich konnte es nicht anhören ... das Herz tat mir weh ... Mein Gott! Durfte ich Sie denn nicht bedauern? War es denn Sünde, mit Ihnen brüderliches Mitleid zu fühlen? ... Entschuldigen Sie: ich sagte eben Mitleid ... Nun, mit einem Worte, wäre es denn für Sie beleidigend, wenn es mir einfiele, Sie anzusprechen?“

„Lassen Sie es ... Genug ... Sprechen Sie nicht weiter ...,“ sagte das Mädchen verlegen und preßte meinen Arm fester zusammen. „Ich bin selbst schuld, denn ich habe das Gespräch darauf gebracht. Doch es freut mich, daß ich mich in Ihnen nicht getäuscht habe ... Ich bin übrigens gleich zu Hause: ich muß in diese Seitengasse, es sind nur noch einige Schritte ... Leben Sie wohl, ich danke Ihnen …“

„Werden wir uns denn niemals, niemals wiedersehen? ... Wird denn alles mit diesem einen Gespräch enden?“

„Nun sehen Sie selbst!“ sagte das Mädchen lachend: „Anfangs wollten Sie nur zwei Worte, und jetzt ... Ich will Ihnen übrigens keine Vorwürfe machen ...Vielleicht sehen wir uns auch noch einmal wieder …“

„Ich komme morgen wieder her,“ sagte ich. „Verzeihen Sie: jetzt verlange ich es von Ihnen …“

„Sie sind wirklich ungeduldig: nun kommen Sie gar mit Forderungen …“

„Hören Sie, hören Sie!“ unterbrach ich sie, „verzeihen Sie, wenn ich Ihnen wieder irgend so etwas sage ... Doch es ist mir unmöglich, morgen nicht herzukommen. Ich bin ein Träumer: ich habe so wenig vom wirklichen Leben, und Augenblicke, wie die eben erlebten, sind für mich etwas so Seltenes, daß ich sie in meinen Träumen und Gedanken immer von neuem durchkosten muß. Ich werde diese ganze Nacht an Sie denken, eine ganze Woche, ein ganzes Jahr. Ich komme morgen unbedingt wieder her, und gerade auf diese selbe Stelle und zu dieser selben Stunde, und ich werde glücklich sein, wenn ich in meiner Erinnerung alles noch einmal erleben werde. Diese Stelle habe ich bereits liebgewonnen. Ich habe bereits zwei oder drei ähnliche Stellen in Petersburg. Einmal, als mich eine Erinnerung ergriff, mußte ich sogar weinen, wie Sie vorhin ... Wer weiß, vielleicht weinten Sie vor zehn Minuten, weil auch Sie sich an etwas erinnerten ... Doch verzeihen Sie: ich habe mich vergessen; es ist ja auch möglich, daß Sie an dieser Stelle einmal besonders glücklich waren …“

„Es ist gut,“ sagte das Mädchen: „auch ich werde vielleicht morgen abends, gegen zehn Uhr herkommen. Ich sehe schon, daß ich es Ihnen gar nicht versagen kann ... Ich muß nämlich morgen hier sein! Denken Sie nur nicht, daß ich Ihnen ein Stelldichein gebe: ich sage Ihnen darum in vorhinein, daß ich meiner selbst wegen herkommen muß. Doch ... ich will es Ihnen lieber ganz offen sagen: ich habe nichts dagegen, wenn auch Sie herkommen; erstens könnte mir wieder irgendeine Unannehmlichkeit wie heute zustoßen, doch das ist gleichgültig ... Kurz und gut: ich will Sie einfach wiedersehen, um Ihnen einige Worte zu sagen. Sie mißverstehen mich doch nicht? Glauben Sie nur nicht, daß ich so leicht jemandem ein Stelldichein gewähre ... Ich täte es auch jetzt nicht, wenn ... Das soll aber mein Geheimnis bleiben! Doch zuvor eine Bedingung …“

„Eine Bedingung! Sprechen Sie doch, sagen Sie mir alles: ich bin mit allem einverstanden, zu allem bereit!“ rief ich entzückt aus. „Ich stehe für mich ein: ich will bescheiden und ehrerbietig sein ... Sie kennen mich ja …“

„Eben weil ich Sie kenne, fordere ich Sie auf, morgen herzukommen,“ sagte das Mädchen lächelnd. „Ich kenne Sie vollkommen. Eine Bedingung muß ich Ihnen doch stellen: (ich bitte Sie sehr, sie einzuhalten; Sie sehen ja, daß ich ganz offen spreche) — verlieben Sie sich nicht in mich! ... Das dürfen Sie nicht, ich versichere Sie! Zur Freundschaft bin ich bereit, hier haben Sie meine Hand ... Aber sich in mich verlieben, das dürfen Sie nicht, ich bitte Sie darum!“

„Ich schwöre es Ihnen!“ rief ich und ergriff ihr Händchen.

„Ach, schwören Sie lieber nicht! Ich weiß ja, daß Sie wie Schießpulver explodieren können. Nehmen Sie mir nicht übel, daß ich mit Ihnen so spreche. Wenn Sie nur wüßten ... Auch ich habe niemanden, mit dem ich sprechen, den ich um Rat bitten könnte. Allerdings: auf der Straße sucht man keine Ratgeber; doch Sie sind eine Ausnahme. Ich kenne Sie so gut, als ob wir seit zwanzig Jahren befreundet wären ... Ich kann mich doch auf Sie verlassen, nicht wahr? …“

„Sie werden sehen ... Ich weiß gar nicht, wie ich diesen einen Tag der Erwartung überlebe.“

„Schlafen Sie wohl, gute Nacht! Und denken Sie daran, daß ich mich Ihnen schon anvertraut habe. Sie haben es vorhin so schön gesagt: man kann wirklich nicht über jede Regung des Herzens oder gar über sein brüderliches Mitgefühl Rechenschaft abgeben! Wissen Sie, das war so schön gesagt, daß mir gleich der Gedanke kam, mich Ihnen anzuvertrauen …“

„Um Gottes willen! Was wollen Sie mir denn anvertrauen? Was?“

„Das sage ich Ihnen morgen. Vorerst soll es noch mein Geheimnis bleiben. Das ist auch für Sie besser: so wird es wenigstens entfernt einem Roman gleichen. Vielleicht werde ich es Ihnen morgen sagen, vielleicht auch nicht ... Ich will mit Ihnen noch etwas sprechen ... Wir müssen uns noch näher kennen lernen …“

„Ich bin bereit, Ihnen morgen alles von mir zu erzählen! Aber was ist denn das? Ich erlebe ein Wunder ... Mein Gott, wo bin ich? Nun sagen Sie mir: machen Sie sich vielleicht Vorwürfe, weil Sie mir vorhin nicht böse wurden und mich nicht abwiesen, wie es wohl jede andere getan hätte? Es waren nur zwei Minuten, und Sie haben mich für immer glücklich gemacht. Jawohl! glücklich! Wer weiß: vielleicht haben Sie mich mit mir selbst versöhnt und alle meine Zweifel gelöst ... Vielleicht habe ich Augenblicke ... Nun, ich werde Ihnen ja alles erzählen, Sie sollen alles erfahren …“

„Schön, ich nehme Ihren Vorschlag an. Sie werden also den Anfang machen …“

„Einverstanden!“

„Auf Wiedersehen!“

„Auf Wiedersehen!“

Wir trennten uns. Ich irrte noch die ganze Nacht durch die Straßen; ich konnte mich nicht entschließen, nach Hause zu gehen. Ich war so glücklich ... also morgen!