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Oedipus oder Der vernünftige Mythos

Es dürfte kurz nach dem Kriege gewesen sein, daß man von dem englischen Bühnenexperiment »Hamlet im Frack« hörte. Man hat damals viel über diesen Versuch debattiert; vielleicht genügt es hier, das Paradoxon festzuhalten, das Stück sei zu modern, um modernisiert zu werden. Fraglos hat es Epochen gegeben, die Entsprechendes, ohne bewußte Zwecke damit zu verfolgen, unternehmen konnten; es ist bekannt, daß in den Mysterienspielen des Mittelalters genau wie auf den gleichzeitigen Bildern die Figuren in Kostümen der Zeit auftraten. Aber gewiß ist, daß dergleichen heute der genauesten künstlerischen Besinnung entstammen muß, um mehr zu sein als snobistischer Scherz. In der Tat hat man nun aber verfolgen können, wie in den letzten Jahren große oder zumindest besonnene Künstler dergleichen »Modernisierungen« und zwar so gut in der Dichtung wie in der Musik und Malerei ins Werk gesetzt haben. Der Richtung, die Picasso mit den Bildern um 1927, Strawinsky mit dem »Ödipus Rex«, Cocteau mit dem »Orpheus« repräsentieren, hat man den Namen Neoklassizismus gegeben. Nun steht dieser Name hier nicht, um Gide an diese Richtung anzuschließen (wogegen er mit Recht Einspruch erheben würde), sondern um anzudeuten, wie die verschiedensten Künstler dazu kamen, grade am Griechentum jene Entkleidung oder, wenn man will, Verkleidung im Sinne der Gegenwart vorzunehmen. Einmal konnten sie sich davon den Vorteil versprechen, bekannte, aber doch dem aktuellen Stoffkreis entrückte Gegenstände für ihre Versuche zu gewinnen. Denn um ausgesprochene Versuche konstruktiver Art, gewissermaßen Studio-Werke, handelt es sich in allen diesen Fällen. Zweitens aber konnte grade der konstruktivistischen Absicht nichts angelegener sein als den Wettbewerb mit den durch Jahrhunderte als Kanon des Organischen, Gewachsenen in Geltung stehenden Werken des Griechentums aufzunehmen. Und drittens ist da die geheime oder öffentliche Absicht im Spiel gewesen, eine echte geschichtsphilosophische Probe auf die Ewigkeit - will sagen immer von neuem sich bewährende Aktualität - des Griechentums zu machen. Mit dieser dritten überlegung aber befindet sich der Betrachter bereits im Mittelpunkt von André Gides letztem Werk. Ohnehin wird es ihm bald aufgehen, daß es mit der Umwelt dieses Oedipus seine Bewandtnis hat. Da ist die Rede vom Sonntag, von Verdrängung, von Lothringern, Décadents und Vestalinnen. Der Dichter macht es seinem Publikum unmöglich, an Einzelheiten des Lokals, der Lage sich zu klammern; er nimmt ihm selbst die Illusion, nennt gleich mit den ersten Worten die Bühne bei ihrem Namen. Kurz, wer ihm folgen will, der muß sich »freischwimmen«, die Wogenkämme und die Wellentäler des seit zweitausend Jahren bewegten Sagenmeers nehmen wie sie kommen, sich tragen und sich fallen lassen. Nur so wird er zu spüren bekommen, was dieses Griechentum ihm, er diesem Griechentum sein kann. Was? Das ist im Oedipus selbst zu finden und von allen tiefsinnigen oder spielerischen Abwandlungen, die die Sage bei Gide erfährt, ist es die seltsamste. »Aber ich begreife, ich allein habe begriffen, daß das einzige Losungswort, das einen vor den Klauen der Sphinx bewahren könnte, der Mensch hieß. Wohl gehörte ein gewisser Mut dazu, dieses Wort auszusprechen, aber ich hatte es schon in Bereitschaft, ehe ich das Rätsel vernommen hatte, und meine Stärke lag darin, daß ich von keiner anderen Antwort wissen wollte, wie immer die Frage wäre.«

Vorher hat Oedipus das Wort gewußt, an dem die Macht der Sphinx sich brechen mußte; so hat auch Gide das Wort, kraft dessen sich das Grausen der sophokleischen Tragödie lichtete, vorher gewußt. Mehr als zwölf Jahre sind es, da erschienen seine »Gedanken über die griechische Mythologie« und dort heißt es: »Wie hat man nur dergleichen glauben können? ruft Voltaire. Und dennoch: an erster Stelle ist es die Vernunft und nur die Vernunft ist es, an die jeder Mythos sich wendet und keinen hat man verstanden, wenn nicht zuerst die Vernunft ihn annimmt. Die griechische Sage ist von Grund auf vernünftig und eben daher darf man, ohne ein schlechter Christ zu sein, sagen, daß sie viel leichter zu fassen ist als die Lehre des Paulus.« Nun verstehe man recht: nirgends behauptet der Dichter, es sei die ratio, die die griechische Sage gewoben, noch auch, daß nur in ihr der griechische Sinn des Mythos gelegen habe. Das Wichtige ist vielmehr, welchen Abstand der heutige von jenem alten Sinn gewinnt und wie der Abstand von der alten Deutung nur neue Nähe zur Sage selber ist, aus der der neue Sinn sich unerschöpflich immer neuem Finden bietet. Darum ist die Griechensage wie der Krug Philemons, »den kein Durst leert, wenn man in Jupiters Gesellschaft trinkt«. Der rechte Augenblick ist auch ein Jupiter und somit kann der Neoklassizismus heute in der Sage entdecken, was noch niemals in ihr gefunden wurde: die Konstruktion, die Logik, die Vernunft.

Wir halten ein, um uns entgegnen zu lassen, anstelle der Erklärung sei nunmehr ein wahrhaft schwindelerregendes Paradoxon getreten. Da, wo der Palast des Oedipus gestanden hat, das Haus, das wie kein anderes von Nacht und Grauen, Blutschande, Vatermord, Verhängnis, Schuld umwittert war, soll heute sich der Tempel der Göttin der Vernunft erheben? Wie kann das sein? Was ist dem Oedipus in den dreiundzwanzig Jahrhunderten, da Sophokles ihn zuerst auf die Griechenbühne stellte, bis zu dem heutigen Tage, da ihn Gide von neuem auf die Frankreichs stellt, geschehen? Wenig. Was bewirkt dies Wenige? Viel. Oedipus hat die Sprache gewonnen. Der sophokleische Oedipus nämlich ist stumm, fast stumm. Spürhund auf seiner eigenen Spur, Schreiender unter der Mißhandlung seiner eigenen Hände, kann Denken, ja Besinnung keine Stelle in seinen Reden finden. Zwar ist er unersättlich, das Fürchterliche von neuem immer wiederholend, auszusprechen:

    O Ehe, Ehe!
Du pflanztest mich. Und da du mich gepflanzt,
So sandtest du denselben Saamen aus,
Und zeigtest Väter, Brüder, Kinder, ein
Verwandtes Blut, und Jungfraun, Weiber, Mütter,
Und was nur schändlichstes entstehet unter Menschen!

Aber eben diese Rede ist es, die sein Inneres verstummen läßt, wie er denn auch der Nacht ganz ähnlich werden möchte:

    Sondern wäre für den Quell,
Der in dem Ohre tönt, ein Schloß, ich hielt es nicht,
Ich schlösse meinen müheseelgen Leib,
Daß blind ich wär' und taub.

Und wie sollte er nicht verstummen, wie sollte das Denken die Verstrickung jemals lösen, die es ganz unentscheidbar macht, was ihn zugrunde richtet: das Verbrechen selbst, der Spruch des Apollon oder der Fluch, den er selber dem Mörder des Laios anheftet? übrigens aber kennzeichnet diese Stummheit nicht den Oedipus allein sondern den Helden der griechischen Tragödie überhaupt. Darum ist sie es, bei welcher immer wieder neuere Forscher verweilen. »Der tragische Held hat nur eine Sprache, die ihm vollkommen entspricht: eben das Schweigen.« Oder ein anderer Autor: Die tragischen »Helden sprechen gewissermaßen oberflächlicher, als sie handeln«. Oder ein Dritter: »In der Tragödie besinnt sich der heidnische Mensch, daß er besser ist als seine Götter, aber diese Erkenntnis verschlägt ihm die Sprache, sie bleibt dumpf. Ohne sich zu bekennen sucht sie heimlich ihre Gewalt zu sammeln ... Es ist gar keine Rede davon, daß die ›sittliche Weltordnung‹ wieder hergestellt werde, sondern es will der moralische Mensch noch stumm, noch unmündig - als solcher heißt er der Held - im Erbeben jener qualvollen Welt sich aufrichten. Das Paradoxon der Geburt des Genius in moralischer Sprachlosigkeit, moralischer Infantilität ist das Erhabene der Tragödie.«

Von hier aus nun erst ist die Kühnheit des Versuchs zu überblicken, den Helden der Tragödie mit der Sprache zu begaben. Nun tritt ins Licht, was die großartigen Worte über das »Schicksal« zu sagen haben, die der Dichter im schon erwähnten Zusammenhange, lange bevor er im »Oedipus« sie einlöste, niederschrieb: »Mit diesem widerwärtigen Wort gesteht man dem Zufall sehr viel mehr zu als ihm gebührt; es treibt sein Unwesen überall, wo man auf eine Erklärung verzichtet. Nun aber behaupte ich, je mehr man in der Sage das Schicksal zurückdrängt desto lehrreicher wird sie.« Am Ende des zweiten Akts ist im sophokleischen Drama (das deren fünf hat) die Rolle des Sehers Tiresias beendet. Zweitausend Jahre hat Oedipus gebraucht, um ihm bei Gide in jener großen Debatte entgegenzutreten, in der er ausspricht, was er bei Sophokles nicht einmal zu denken gewagt hätte: »Dieses Verbrechen hatte Gott mir auferlegt. Er hatte es auf meinem Wege verborgen. Schon vor meiner Geburt war die Falle gestellt, über die ich straucheln sollte, denn entweder log dein Orakel oder ich konnte mich nicht retten. Ich war umstellt.«

Dank solcher ungesuchten überlegenheit des Helden siedelt nun bei Gide am Ort oder doch im Weichbild des alten Grauens das Satyrspiel sich an, wie es durch Kreons Worte, hin und wieder auch durch die des Chors hindurchscheint. Nie überlegener als in der Ermahnung, die Oedipus den Kindern, die er im Gespräch belauscht, erteilt. Ein Stammgast der Rotonde hätte sich nicht unbefangener zu der Frage äußern können. Es ist, als lägen in den unentwirrbaren Verhältnissen seines Hauses alle kleinbürgerlichen häuslichen Miseren (ins Ungeheure gesteigert) vor ihm. Er wendet ihnen den Rücken, um den Spuren der Emanzipierten zu folgen, die vorangegangen sind: des jüngeren Bruders aus dem »Verlorenen Sohn« und des Wanderers aus den »Nourritures Terrestres«. Oedipus ist der älteste der großen Aufbrechenden, die ihren Wink von dem bekamen, der geschrieben hat: »Il faut toujours sortir n'importe d'où.«