Der Sürrealismus
Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz
Geistige Strömungen können ein Gefälle erreichen, scharf genug, daß der Kritiker seine Kraftstation an ihnen errichten kann. Solches Gefälle schafft für den Sürrealismus der Niveauunterschied Frankreich-Deutschland. Was da im Jahre 1919 in Frankreich im Kreise einiger Literaten – wir nennen gleich hier die wichtigsten Namen: Andre Breton, Louis Aragon, Philippe Soupault, Robert Desnos, Paul Eluard – entsprungen ist, mag ein dünnes Bächlein gewesen sein, gespeist von der feuchten Langeweile des Nachkriegs-Europa und den letzten Rinnsalen der französischen Dekadenz. Die Neunmalweisen, die noch heute nicht über die »authentischen Ursprünge« der Bewegung hinauskommen, und auch noch heute nichts davon zu sagen wissen, als daß hier wieder einmal eine Clique von Literaten die ehrwürdige Öffentlichkeit mystifiziere, sind ein wenig wie eine Expertenversammlung, die an einer Quelle nach reichlicher Überlegung zur Überzeugung kommt, der kleine Bach da werde niemals Turbinen treiben.
Der deutsche Betrachter steht nicht an der Quelle. Das ist seine Chance. Er steht im Tal. Er kann die Energien der Bewegung abschätzen. Für ihn, der als Deutscher längst mit der Krisis der Intelligenz, genauer gesagt, des humanistischen Freiheitsbegriffs vertraut ist, der weiß, welch frenetischer Wille in ihr erwacht ist, aus dem Stadium der ewigen Diskussionen heraus und um jeden Preis zur Entscheidung zu kommen, der ihre äußerst exponierte Stellung zwischen anarchistischer Fronde und revolutionärer Disziplin am eignen Leib hat erfahren müssen, für den gibt es keine Entschuldigung, wenn er auf oberflächlichsten Augenschein die Bewegung für eine »künstlerische«, »poetische« halten sollte. Wenn sie dies im Anfang gewesen ist, so hat doch eben im Anfang Breton schon erklärt, mit einer Praxis brechen zu wollen, die dem Publikum die literarischen Niederschläge einer bestimmten Existenzform vorlegt und diese Existenzform selber vorenthält. Kürzer und dialektischer gefaßt aber heißt das: Hier wurde der Bereich der Dichtung von innen gesprengt, indem ein Kreis von engverbundenen Menschen »Dichterisches Leben« bis an die äußersten Grenzen des Möglichen trieb. Und man kann es ihnen aufs Wort glauben, wenn sie behaupten, Rimbauds »Saison en Enfer« habe keine Geheimnisse für sie mehr gehabt. Denn dieses Buch ist in der Tat die erste Urkunde einer solchen Bewegung. (Aus neueren Zeiten. Von älteren Vorgängern wird noch gesprochen werden.) Kann man, worum es hier geht, endgültiger und schneidender vorbringen als Rimbaud es in seinem Handexemplar des genannten Buches getan hat? Da schreibt er, wo es heißt: »auf der Seide der Meere und der arktischen Blumen«, späterhin an den Rand: »Gibt's nicht« (»Elles n'existent pas«).
In wie unscheinbare, abseitige Substanz der dialektische Kern, der sich im Sürrealismus entfaltet hat, ursprünglich eingebettet lag, hat, zu einer Zeit, da die Entwicklung sich noch nicht absehen ließ, 1924, Aragon in seiner »Vague de Rêves« gezeigt. Heute läßt sie sich absehen. Denn es ist kein Zweifel, daß das heroische Stadium, von dem dort Aragon den Heldenkatalog uns hinterlassen hat, beendet ist. Es gibt in solchen Bewegungen immer einen Augenblick, da die ursprüngliche Spannung des Geheimbundes im sachlichen, profanen Kampf um Macht und Herrschaft explodieren oder als öffentliche Manifestation zerfallen und sich transformieren muß. In dieser Transformationsphase steht augenblicklich der Sürrealismus. Damals aber, als er in Gestalt einer inspirierenden Traumwelle über seine Stifter hereinbrach, schien er das Integralste, Abschließendste, Absoluteste. Alles, womit er in Berührung kam, integrierte sich. Das Leben schien nur lebenswert, wo die Schwelle, die zwischen Wachen und Schlaf ist, in jedem ausgetreten war, wie von Tritten massenhafter hin und wider flutender Bilder, die Sprache nur sie selbst, wo Laut und Bild und Bild und Laut mit automatischer Exaktheit derart glücklich ineinandergriffen, daß für den Groschen »Sinn« kein Spalt mehr übrigblieb. Bild und Sprache haben den Vortritt. Saint-Pol-Roux befestigt, wenn er gegen Morgen sich zum Schlafe niederlegt, an seiner Tür ein Schild: Le poète travaille. Breton notiert: »Still. Ich will, wo keiner noch hindurchgegangen ist, hindurchgehen, still! – Nach Ihnen, liebste Sprache.« Die hat den Vortritt.
Nicht nur vor dem Sinn. Auch vor dem Ich. Im Wehgefüge lockert der Traum die Individualität wie einen hohlen Zahn. Diese Lockerung des Ich durch den Rausch ist eben zugleich die fruchtbare, lebendige Erfahrung, die diese Menschen aus dem Bannkreis des Rausches heraustreten ließ. Es ist hier nicht der Ort, die sürrealistische Erfahrung in ihrer ganzen Bestimmtheit zu umreißen. Wer aber erkannt hat, daß es in den Schriflen dieses Kreises sich nicht um Literatur, sondern um anderes: Manifestation, Parole, Dokument, Bluff, Fälschung wenn man will, nur eben nicht um Literatur handelt, weiß damit auch, daß hier buchstäblich von Erfahrungen, nicht von Theorien, noch weniger von Phantasmen die Rede ist. Und diese Erfahrungen beschränken sich durchaus nicht auf den Traum, auf Stunden des Haschischessens oder des Opiumrauchens. Es ist ja ein so großer Irrtum, zu meinen, von »sürrealistischen Erfahrungen« kennten wir nur die religiösen Ekstasen oder die Ekstasen der Drogen. Opium fürs Volk hat Lenin die Religion genannt und damit diese bei den Dinge näher zusammengerückt, als es den Sürrealisten lieb sein dürfte. Es wird noch von dem bitteren, leidenschaftlichen Aufstand gegen den Katholizismus die Rede sein, als in welchem Rimbaud, Lautn!amont, Apollinaire den Sürrealismus zur Weh brachten. Die wahre, schöpferische Überwindung religiöser Erleuchtung aber liegt nun wahrhaftig nicht bei den Rauschgiften. Sie liegt in einer profanen Erleuchtung, einer materialistischen, anthropologischen Inspiration, zu der Haschisch, Opium und was immer sonst die Vorschule abgeben können. (Aber eine gefährliche. Und die der Religionen ist strenger.) Diese profane Erleuchtung hat den Sürrealismus nicht immer auf ihrer, seiner Höhe gefunden, und gerade die Schriften, die sie am kräftigsten bekunden, Aragons unvergleichlicher »Paysan de Paris« und Bretons »Nadja« zeigen da sehr störende Ausfallserscheinungen. So findet sich in der »Nadja« eine ausgezeichnete Stelle über die »hinreißenden Pariser Plünderungstage im Zeichen Saccos und Vanzettis«, und Breton schließt daran die Versicherung, der Boulevard Bonne-Nouvelle habe an diesen Tagen das strategische Versprechen der Revolte eingelöst, das sein Name schon immer gegeben habe. Es kommt aber auch Mme Sacco vor, und das ist nicht die Frau von Fullers Opfer, sondern eine voyante, eine Hellseherin, die 3 Rue des Usines wohnt und Paul Eluard zu erzählen weiß, daß ihm von Nadja nichts Gutes bevorstehe. Nun gestehen wir dem halsbrecherischen Wege des Sürrealismus, der über Dächer, Blitzableiter, Regenrinnen, Veranden, Wetterfahnen, Stukkaturen geht – dem Fassadenkletterer müssen alle Ornamente zum Besten dienen –, wir gestehen ihm zu, daß er auch ins feuchte Hinterzimmer des Spiritismus hineinlange. Aber nicht gern hören wir ihn behutsam gegen die Scheiben klopfen, um wegen seiner Zukunft nachzufragen. Wer möchte nicht diese Adoptivkinder der Revolution aufs genaueste von allem geschieden wissen, was in den Konventikeln von abgetakelten Stiftsdamen, pensionierten Majoren, emigrierten Schiebern sich abspielt?
Im übrigen ist Bretons Buch wohl geschaffen, einige Grundzüge dieser »profanen Erleuchtung« daran zu erläutern. Er nennt »Nadja« ein »livre à porte battante«, ein »Buch, wo die Tür klappt«. (In Moskau wohnte ich in einem Hotel, in dem fast alle Zimmer von tibetanischen Lamas belegt waren, die zu einem Kongreß der gesamten buddhistischen Kirchen nach Moskau gekommen waren. Es fiel mir auf, wieviele Türen in den Gängen des Hauses stets angelehnt standen. Was erst ein Zufall schien, wurde mir unheimlich. Ich erfuhr: in solchen Zimmern wohnten Angehörige einer Sekte, die gelobt hatten, nie in geschlossenen Räumen sich aufzuhalten. Den Chock, den ich damals erfuhr, muß der Leser von »Nadja« verspüren.) Im Glashaus zu leben ist eine revolutionäre Tugend par excellence. Auch das ist ein Rausch, ist ein moralischer Exhibitionismus, den wir sehr nötig haben. Die Diskretion in Sachen eigener Existenz ist aus einer aristokratischen Tugend mehr und mehr zu einer Angelegenheit arrivierter Kleinbürger geworden. »Nadja« hat die wahre, schöpferische Synthese zwischen Kunstroman und Schlüsselroman gefunden.
Man braucht übrigens – und auch darauf führt »Nadja« – nur mit der Liebe Ernst zu machen, um auch in ihr eine »profane Erleuchtung« zu erkennen. »Ich habe«, erzählt der Verfasser, »mich gerade damals (d. h. zur Zeit des Umgangs mit Nadja) viel mit der Epoche Ludwigs VII. beschäftigt, weil es die Zeit der ›Liebeshöfe‹ war, und ich suchte mir mit großer Intensität zu vergegenwärtigen, wie man damals das Leben angesehen hat.« Über die provençalische Minne wissen wir nun von einem neuen Autor einiges Genauere, das überraschend nah an die sürrealistische Konzeption der Liebe heran führt. »Alle Dichter des Neuen Stils besitzen« – so heißt es in Erich Auerbachs ausgezeichnetem »Darite als Dichter der irdischen Weit« – »eine mystische Geliebte, ihnen allen geschehen ungefähr die gleichen sehr sonderbaren Liebesabenteuer, ihnen allen schenkt oder versagt Amore Gaben, die mehr einer Erleuchtung als einem sinnlichen Genuß gleichen, sie alle sind einer Art geheimer Verbindung angehörig, die ihr inneres und vielleicht auch ihr äußeres Leben bestimmt.« Es ist ja eigentümlich mit der Dialektik des Rausches bestellt. Ist nicht vielleicht jede Ekstase in einer Welt beschämende Nüchternheit in der komplementären? Worauf sonst will Minne – und sie, nicht Liebe, bindet Breton an das telepathische Mädchen – hinaus, als daß Keuschheit auch eine Entrücktheit ist? In eine Welt, die nicht nur an Herz-Jesu-Grüfte oder Marien-Altäre grenzt, sondern auch an den Morgen vor einer Schlacht oder nach einem Siege.
Die Dame ist in der esoterischen Liebe das Unwesentlichste. So auch bei Breton. Er ist mehr den Dingen nahe, denen Nadja nahe ist, als ihr selber. Welches sind nun die Dinge, denen sie nahe ist? Deren Kanon ist für den Sürrealismus so aufschlußreich wie nur möglich. Wo beginnen? Er hat sich einer erstaunlichen Entdeckung zu rühmen. Er zuerst stieß auf die revolutionären Energien, die im »Veralteten« erscheinen, in den ersten Eisenkonstruktionen, den ersten Fabrikgebäuden, den frühesten Photos, den Gegenständen, die anfangen auszusterben, den Salonflügeln, den Kleidern von vor fünf Jahren, den mondänen Versammlungslokalen, wenn die vogue beginnt sich von ihnen zurückzuziehen. Wie diese Dinge zur Revolution stehen – niemand kann einen genaueren Begriff davon haben, als diese Autoren. Wie das Elend, nicht nur das soziale sondern genauso das architektonische, das Elend des Interieurs, die versklavten und versklavenden Dinge in revolutionären Nihilismus umschlagen, das hat vor diesen Sehern und Zeichendeutern noch niemand gewahrt. Um von Aragons »Passage de l'Opéra« zu schweigen: Breton und Nadja sind das Liebespaar, das alles, was wir auf traurigen Eisenbahnfahrten (die Eisenbahnen beginnen zu altern), an gottverlassenen Sonntagnachmittagen in den Proletariervierteln der großen Städte, im ersten Blick durchs regennasse Fenster einer neuen Wohnung erfuhren, in revolutionärer Erfahrung, wenn nicht Handlung, einlösen. Sie bringen die gewaltigen Kräfte der »Stimmung« zur Explosion, die in diesen Dingen verborgen sind. Was glauben Sie wohl, wie sich ein Leben gestalten würde, das in einem entscheidenden Augenblick sich gerade durch den letzten beliebtesten Gassenhauer bestimmen ließe?
Der Trick, der diese Dingwelt bewältigt – es ist anständiger hier von einem Trick als von einer Methode zu reden – besteht in der Auswechslung des historischen Blicks aufs Gewesene gegen den politischen. »Tut Euch auf, Gräber, Ihr, Tote der Pinakotheken, Leichname hinter spanischen Wänden, in Palästen, Schlössern und Klöstern, hier steht der fabelhafte Schlüsselbewahrer, der einen Bund mit Schlüsseln aller Zeiten in Händen hält, der weiß, wie man auf die verschlagensten Schlösser zu drücken hat und der Euch einlädt, mitten hinein in die Welt von heute zu treten, Euch unter die Lastträger, die Mechaniker zu mischen, die das Geld adelt, Euch häuslich in ihren Automobilen niederzulassen, die schön sind wie Rüstungen aus der Ritterzeit, in den internationalen Schlafwagen Platz zu nehmen und Euch mit all den Leuten zusammenzuschweißen, die heut noch stolz auf ihre Vorrechte sind. Aber die Zivilisation wird kurzen Prozeß mit ihnen machen.« Diese Rede hat sein Freund Henri Hertz Apollinaire in den Mund gelegt. Von Apollinaire geht diese Technik aus. Er hat sie in seinem Novellenband »L'Hérésiarque« mit machiavellistischer Berechnung verwendet, um den Katholizismus (an dem er innerlich hing) in die Luft gehen zu lassen.
Im Mittelpunkt dieser Dingwelt steht das Geträumteste ihrer Objekte, die Stadt Paris selbst. Aber erst die Revolte treibt ihr sürrealistisches Gesicht restlos heraus. (Menschenleere Straßen, in denen Pfiffe und Schüsse die Entscheidung diktieren.) Und kein Gesicht ist in dem Grade sürrealistisch wie das wahre Gesicht einer Stadt. Kein Bild von Chirico oder Max Ernst kann mit den scharfen Aufrissen ihrer inneren Forts sich messen, die erst erobert und besetzt sein müssen, um ihr Geschick und in ihrem Geschick, im Geschick ihrer Massen, das eigene zu meistern. Nadja ist ein Exponent dieser Massen und dessen, was sie revolutionär inspiriert: »La grande inconscience vive et sonore qui m'inspire mes seuls actes probants dans le sens où toujours je veux prouver, qu'elle dispose à tout jamais de tout ce qui est à moi.« Hier also findet man das Verzeichnis dieser Befestigungen, angefangen von jener Place Maubert, wo wie nirgends sonst der Schmutz seine ganze symbolische Gewalt sich bewahrt hat, bis zu jenem »Théâtre Moderne«, das ich untröstlich bin, nicht mehr gekannt zu haben. Aber in Bretons Schilderung der Bar im Obergeschoß – »ganz dunkel ist's, tunnel artige Lauben, durch die man nicht durchfindet – ein Salon auf dem Grund eines Sees« – ist etwas, was mir jenen unverstandensten Raum des alten Prinzeß-Cafés in Erinnerung bringt. Es war das Hinterzimmer im ersten Stock mit seinen Paaren im blauen Lichte. Wir nannten es »die Anatomie«; es war das letzte Lokal für die Liebe. An solchen Stellen greift bei Breton auf sehr merkwürdige Weise die Photo graphie ein. Sie macht die Straßen, Tore, Plätze der Stadt zu Illustrationen eines Kolportageromans, zapft diesen jahrhundertealten Architekturen ihre banale Evidenz ab, um sie mit allerursprünglichster Intensität dem dargestellten Geschehen zuzuwenden, auf das gen au wie in alten Dienstmädchenbüchern wortgetreue Zitate mit Seitenzahlen verweisen. Und all die Orte von Paris, die hier auftauchen, sind Stellen, an denen das, was zwischen diesen Menschen ist, sich wie eine Drehtür bewegt.
Auch das Paris der Sürrealisten ist eine »kleine Welt«. Das heißt in der großen, im Kosmos, sieht es nicht anders aus. Auch dort gibt es carrefours, an denen geisterhafte Signale aus dem Verkehr aufblitzen, unerdenkliche Analogien und Verschränkungen von Geschehnissen an der Tagesordnung sind. Es ist der Raum, von dem die Lyrik des Sürrealismus Bericht gibt. Und das ist anzumerken, wäre es auch nur, um dem obligaten Mißverständnis des »l'art pour l'art« zu begegnen. Denn das l'art pour l'art ist ja fast niemals buchstäblich zu nehmen gewesen, fast immer eine Flagge, unter der ein Gut segelt, das man nicht deklarieren kann, weil der Name noch fehlt. Es wäre der Augenblick, an ein Werk zu gehen, das wie kein anderes die Krisis der Künste, von der wir Zeuge sind, erhellen würde: eine Geschichte der esoterischen Dichtung. Auch ist es keineswegs Zufall, daß sie noch fehlt. Denn sie zu schreiben, wie sie geschrieben zu werden verlangt – also nicht als Sammelwerk, zu dem die einzelnen »Fachleute«, ein jeder auf seinem Gebiet »das Wissenswerteste beisteuern« –, sondern als fundierte Schrift eines einzelnen, der aus innerer Nötigung heraus weniger die Entwicklungsgeschichte als ein immer wieder erneutes ursprüngliches Aufleben der esoterischen Dichtung darstellte – so geschrieben wäre sie eine jener gelehrten Bekenntnisschriften, die in jedem Jahrhundert zu zählen sind. Auf ihrem letzten Blatte müßte man das Röntgenbild des Sürrealismus finden. Breton deutet in der »Introduction au Discours sur le peu de Réalité« an, wie der philosophische Realismus des Mittelalters der poetischen Erfahrung zugrunde liegt. Dieser Realismus aber – der Glaube also an eine wirkliche Sonderexistenz der Begriffe, sei es außerhalb der Dinge, sei es innerhalb ihrer – hat immer sehr schnell den Übergang aus dem logischen Begriffsreich ins magische Wortreich gefunden. Und magische Wortexperimente, nicht artistische Spielereien sind die passionierten phonetischen und graphischen Verwandlungsspiele, die nun schon fünfzehn Jahre sich durch die gesamte Literatur der Avantgarde ziehen, sie möge Futurismus, Dadaismus oder Sürrealismus heißen. Wie hier Parole, Zauberformel und Begriff durcheinandergehen, das zeigen die folgenden Worte Apollinaires aus seinem letzten Manifest: »L'Esprit nouveau et les Poètes.« Da sagt er, 1918: »Für die Geschwindigkeit und die Einfachheit, mit der wir alle uns daran gewöhnt haben, durch ein einziges Wort so komplexe Wesenheiten wie eine Menge, ein Volk, wie das Universum zu bezeichnen, gibt es nicht modernes Entsprechendes in der Dichtung. Die heutigen Dichter aber füllen diese Lücke aus; ihre synthetischen Dichtungen schaffen neue Wesen, deren plastische Erscheinung ebenso komplex ist wie die der Worte für Kollektiva.« Wenn nun freilich Apollinaire und Breton in gleicher Richtung noch energischer vorstoßen, und den Anschluß des Sürrealismus an die Umwelt mit der Erklärung vollziehen: »Die Eroberungen der Wissenschaft beruhen viel mehr auf einem sürrealistischen als auf einem logischen Denken«, wenn sie mit andern Worten die Mystifikation, deren Gipfel Breton in der Poesie sieht (das läßt sich verteidigen), zur Grundlage auch wissenschaftlicher und technischer Entwicklung machen, so ist solche Integration zu stürmisch. Es ist sehr lehrreich, den überstürzten Anschluß dieser Bewegung an das unverstandene Maschinenwunder – Apollinaire: »Die alten Fabeln sind zum großen Teil realisiert, nun ist es an den Dichtern, neue zu erdenken, die die Erfinder ihrerseits dann wieder verwirklichen mögen« –, diese schwülen Phantasien mit den gut ventilierten Utopien eines Scheerbart zu vergleichen.
»Der Gedanke an alle menschliche Aktivität macht mich lachen«, diese Äußerung von Aragon bezeichnet recht deutlich, welchen Weg der Sürrealismus von seinen Ursprüngen bis zu seiner Politisierung zu machen hatte. Mit Recht hat Pierre Naville, der dieser Gruppe ursprünglich angehörte, in seiner ausgezeichneten Schrift »La Révolution et les Intellectuels« diese Entwicklung dialektisch genannt. Bei dieser Umwandlung einer extrem kontemplativen Haltung in die revolutionäre Opposition spielt die Feindschaft der Bourgeoisie gegen jedwede Bekundung radikaler geistiger Freiheit eine Hauptrolle. Diese Feindschaft drängte den Sürrealismus nach links. Politische Ereignisse, vor allem der Marokkokrieg, beschleunigten diese Entwicklung. Mit dem Manifest »Die Intellektuellen gegen den Marokkokrieg«, das in der »Humanité« erschien, war eine grundsätzlich andere Plattform gewonnen, als etwa der berühmte Skandal bei dem Bankett Saint-Pol-Roux sie bezeichnet. Damals, kurz nach dem Kriege, als die Sürrealisten, die die Feier eines von ihnen verehrten Dichters durch die Anwesenheit nationalistischer Elemente kompromittiert fanden, in den Ruf »Es lebe Deutschland« ausbrachen, blieben sie in den Grenzen des Skandals, gegen den die Bourgeoisie bekanntlich ebenso dickfellig wie empfindlich gegen jede Aktion ist. Merkwürdig die Übereinstimmung, in der unter dem Einfluß solcher politischen Witterungen Apollinaire und Aragon die Zukunft des Dichters gesehen haben. Die Kapitel »Verfolgung« und »Mord« des »Poète assassiné« bei Apollinaire enthalten die berühmte Schilderung eines, Dichter-Pogroms. Die Verlagshäuser werden gestürmt, die Gedichtbücher ins Feuer geworfen, die Dichter erschlagen. Und die gleichen Szenen spielen zu gleicher Zeit auf der ganzen Erde sich ab. Bei Aragon ruft in der Vorahnung solcher Greuel die »Imagination« ihre Mannschaft zu einem letzten Kreuzzuge auf.
Man muß, um solche Prophetien zu verstehen und die Linie, die vom Sürrealismus erreicht wurde, strategisch zu ermessen, sich danach umsehen, welche Denkart in der sogenannten wohlgesinnten linksbürgerlichen Intelligenz verbreitet ist. Sie bekundet sich deutlich genug in der gegenwärtigen Rußland-Orientierung dieser Kreise. Wir reden hier natürlich nicht von Béraud, der der Lüge über Rußland die Bahn gebrochen hat, oder von Fabre-Luce, der ihm auf diesem gebahnten Wege als braver Esel, bepackt mit allen bürgerlichen Ressentiments, nachtrottet. Aber wie problematisch ist selbst das typische Vermittlerbuch Duhamels. Wie schwer erträglich die forciert aufrechte, forciert beherzte und herzliche Sprache des protestantischen Theologen, die es durchzieht. Wie verbraucht die von Verlegenheit und Sprachunkenntnis diktierte Methode, die Dinge in irgend eine symbolische Beleuchtung zu rücken. Wie verräterisch sein Resümee: »Die wahre, tiefere Revolution, die, welche in gewissem Sinne die Substanz der slawischen Seele selbst wandeln könnte, ist noch nicht erfolgt.« Es ist das Typische dieser linken französischen Intelligenz – genau wie der entsprechenden russischen auch –, daß ihre positive Funktion ganz und gar aus einem Gefühl der Verpflichtung, nicht gegen die Revolution, sondern gegen die überkommene Kultur hervorgeht. Ihre kollektive Leistung, soweit sie positiv ist, nähert sich der von Konservatoren. Politisch und wirtschaftlich aber wird man bei ihnen mit der Gefahr der Sabotage immer rechnen müssen.
Das Charakteristische dieser ganzen linksbürgerlichen Position ist ihre unheilbare Verkupplung von idealistischer Moral mit politischer Praxis. Nur im Kontrast gegen die hilflosen Kompromisse der »Gesinnung« sind gewisse Kernstücke des Sürrealismus, ja der sürrealistischen Tradition, zu verstehen. Viel ist für dies Verständnis noch nicht geschehen. Zu verführerisch war es, den Satanismus eines Rimbaud und Lautréamont als Pendant zum l'art pour l'art in einem Inventar des Snobismus zu fassen. Entschließt man sich aber, diese romantische Attrappe zu öffnen, so findet man darin etwas Brauchbares. Man findet den Kult des Bösen als einen wie auch immer romantischen Desinfektions- und Isolierungsapparat der Politik gegen jeden moralisierenden Dilettantismus. In dieser Überzeugung wird man, stößt man bei Breton auf das Szenar von einem Schauerstück, in dessen Mittelpunkt eine Kinderschändung steht, vielleicht um ein paar Jahrzehnte zurückgreifen. Es haben in den Jahren 1865 bis 1875 einige große Anarchisten, ohne voneinander zu wissen, an ihren Höllenmaschinen gearbeitet. Und das Erstaunliche ist: sie haben unabhängig voneinander deren Uhr genau auf die gleiche Stunde gestellt, und vierzig Jahre später explodierten in Westeuropa die Schriften Dostojewskis, Rimbauds und Lautréamonts zu gleicher Zeit. Man könnte, um genauer zu sein, aus dem Gesamtwerk Dostojewskis die eine Stelle herausgreifen, die wirklich erst um 1915 veröffentlicht wurde: »Stavrogins Beichte« aus den »Dämonen«. Dieses Kapitel, das sich aufs engste mit dem dritten Gesang der »Chants de Maldoror« berührt, enthält eine Rechtfertigung des Bösen, die gewisse Motive des Sürrealismus gewaltiger ausprägt als es irgendeinem seiner heutigen Wortführer gelungen ist. Denn Stavrogin ist ein Sürrealist avant la lettre. Es hat keiner so wie er begriffen, wie ahnungslos die Meinung der Spießer ist, das Gute sei zwar bei aller männlichen Tugend dessen, der es übt, von Gott inspiriert; das Böse aber, das stamme ganz aus unserer Spontaneität, darin seien wir selbständig und ganz und gar auf uns gestellte Wesen. Keiner hat wie er auch in dem gemeinsten Tun und gerade in ihm die Inspiration gesehen. Er hat noch die Niedertracht als etwas so im Weltlauf, doch auch in uns selber Präformiertes, uns Nahgelegtes, wenn nicht Aufgegebenes erkannt, wie der idealistische Bourgeois die Tugend. Dostojewskis Gott hat nicht nur Himmel und Erde und Mensch und Tier geschaffen, sondern auch die Gemeinheit, die Rache, die Grausamkeit. Und auch hier ließ er sich nicht vom Teufel ins Handwerk pfuschen. Darum sind sie alle bei ihm ganz ursprünglich, vielleicht nicht »herrlich«, aber ewig neu »wie am ersten Tag«, und himmelweit entfernt von den Klischees, unter denen dem Philister die Sünde erscheint.
Wie groß die Spannung ist, die die erwähnten Dichter zu ihrer erstaunlichen Fernwirkung befähigt, belegt auf geradezu skurrile Art der Brief, den Isidore Ducasse am 23. Oktober 1869 an seinen Verleger richtet, um ihm sein Dichten plausibel zu machen. Da stellt er sich in eine Reihe mit Mickiewicz, Milton, Southey, Alfred de Musset, Baudelaire und sagt: »Natürlich habe ich den Ton etwas voller genommen, um etwas Neues in diese Literatur einzuführen, die doch die Verzweiflung nur singt, um den Leser niederzudrücken und auf daß er dann das Gute als Heilmittel desto stärker ersehne. So singt man also schließlich doch immer nur das Gute, nur die Methode ist philosophischer und weniger naiv als die der alten Schule, von der nur Victor Hugo und einige andere sich noch am Leben befinden.« Steht aber Lautreamonts erratisches Buch überhaupt in irgend einem Zusammenhang, läßt es sich vielmehr in einen stellen, so ist es der der Insurrektion. Es war darum ein sehr begreiflicher und an sich nicht einsichtsloser Versuch, den Soupault 1927 in seiner Ausgabe der sämtlichen Werke machte, Isidore Ducasse eine politische Vita zu schreiben. Leider gibt es keine Dokumente für sie, und daß Soupault welche heranzog, beruhte auf einer Verwechslung. Dagegen ist erfreulicherweise ein entsprechender Versuch bei Rimbaud geglückt, und es ist das Verdienst von Marcel Coulon, sein wahres Bild gegen die katholische Usurpation durch Claudel und Berrichon verteidigt zu haben. Rimbaud ist Katholik, jawohl, aber er ist es, seiner Selbstdarstellung nach, an seinem elend esten Teil, den er nicht müde wird zu denunzieren, seinem und jedem Haß, seiner und jeglicher Verachtung auszuliefern: dem Teil, der ihn zu dem Bekenntnis zwingt, die Revolte nicht zu verstehen. Aber das ist das Bekenntnis eines Kommunarden, der sich selbst nicht genug tun konnte, und als er der Dichtung den Rücken kehrte, der Religion schon längst in seiner frühesten Dichtung den Abschied gegeben hatte. »Haß, dir habe ich meinen Schatz anvertraut«, schreibt er in der »Saison en Enfer«. Auch an diesem Wort könnte eine Poetik des Sürrealismus sich hochranken und die würde sogar ihre Wurzeln tiefer als jene Theorie der »surprise«, des überraschten Dichtens, die von Apollinaire stammt, bis in die Tiefe Poescher Gedanken hinabsenken.
Seit Bakunin hat es in Europa keinen radikalen Begriff von Freiheit mehr gegeben. Die Sürrealisten haben ihn. Sie sind die ersten, das liberale moralisch-humanistisch verkalkte Freiheitsideal zu erledigen, weil ihnen feststeht, daß »die Freiheit, die auf dieser Erde nur mit tausend härtesten Opfern erkauft werden kann, uneingeschränkt, in ihrer Fülle und ohne jegliche pragmatische Berechnung will genossen werden, solange sie dauert«. Und das beweist ihnen, »daß der Befreiungskampf der Menschheit in seiner schlichtesten revolutionären Gestalt (die doch, und gerade, die Befreiung in jeder Hinsicht ist), die einzige Sache bleibt, der zu dienen sich lohnt«. Aber gelingt es ihnen, diese Erfahrung von Freiheit mit der anderen revolutionären Erfahrung zu verschweißen, die wir doch anerkennen müssen, weil wir sie hatten: mit dem Konstruktiven, Diktatorischen der Revolution? Kurz – die Revolte an die Revolution zu binden? Wie haben wir ein Dasein, das ganz und gar auf den Boulevard Bonne-Nouvelle sich ausrichtet, in Räumen von Le Corbusier und Oud uns vorzustellen?
Die Kräfte des Rausches für die Revolution zu gewinnen, darum kreist der Sürrealismus in allen Büchern und Unternehmen. Das darf er seine eigenste Aufgabe nennen. Für die ist's nicht damit getan, daß, wie wir wissen, eine rauschhafte Komponente in jedem revolutionären Akt lebendig ist. Sie ist identisch mit der anarchischen. Den Akzent aber ausschließlich auf diese setzen, das hieße die methodische und disziplinäre Vorbereitung der Revolution völlig zugunsten einer zwischen übung und Vorfeier schwankenden Praxis hintansetzen. Hinzu kommt eine allzu kurz gefaßte, undialektische Anschauung vom Wesen des Rausches. Die Ästhetik des peintre, des poere »en etat de surprise«, der Kunst als Reaktion des Überraschten ist in einigen sehr verhängnisvollen romantischen Vorurteilen befangen. Jede ernsthafte Ergründung der okkulten, sürrealistischen, phantasmagorischen Gaben und Phänomene hat eine dialektische Verschränkung zur Voraussetzung, die ein romantischer Kopf sich niemals aneignen wird. Es bringt uns nämlich nicht weiter, die rätselhafte Seite am Rätselhaften pathetisch oder fanatisch zu unterstreichen; vielmehr durchdringen wir das Geheimnis nur in dem Grade, als wir es im Alltäglichen wiederfinden, kraft einer dialektischen Optik, die das Alltägliche als undurchdringlich, das Undurchdringliche als alltäglich erkennt. Die passionierteste Untersuchung telepathischer Phänomene zum Beispiel wird einen über das Lesen (das ein eminent telepathischer Vorgang ist) nicht halb soviel lehren, wie die profane Erleuchtung des Lesens über die telepathischen Phänomene. Oder: die passionierteste Untersuchung des Haschischrausches wird einen über das Denken (das ein eminentes Narkotikum ist) nicht halb soviel lehren, wie die profane Erleuchtung des Denkens über den Haschischrausch. Der Leser, der Denkende, der Wartende, der Flaneur sind ebensowohl Typen des Erleuchteten wie der Opiumesser, der Träumer, der Berauschte. Und sind profanere. Ganz zu schweigen von jener fürchterlichsten Droge – uns selber –, die wir in der Einsamkeit zu uns nehmen.
»Die Kräfte des Rausches für die Revolution zu gewinnen« – mit andern Worten: Dichterische Politik? »Nous en avons soupe. Alles lieber als das!« Nun – es wird Sie um so mehr interessieren, wie sehr ein Exkurs in die Dichtung die Dinge klärt. Denn: was ist das Programm der bürgerlichen Parteien? Ein schlechtes Frühlingsgedicht. Mit Vergleichen bis zum Platzen gefüllt. Der Sozialist sieht jene »schönere Zukunft unserer Kinder und Enkel« darin, daß alle handeln, »als wären sie Engel« und jeder so viel hat, »als wäre er reich« und jeder so lebt, »als wäre er frei«. Von Engeln, Reichtum, Freiheit keine Spur. Alles nur Bilder. Und der Bilderschatz dieser sozialdemokratischen Vereinsdichter? Ihre »Gradus ad parnassum«? Der Optimismus. Da spürt man denn doch andere Luft in der Schrift von Naville, die die »Organisierung des Pessimismus« zur Forderung des Tages macht. Im Namen seiner literarischen Freunde stellt er ein Ultimatum, an dem unfehlbar dieser gewissenlose, dieser dilettantische Optimismus Farbe bekennen muß: Wo liegen die Voraussetzungen der Revolution? In der Änderung der Gesinnung oder der äußeren Verhältnisse? Das ist die Kardinalfrage, die das Verhältnis von Politik und Moral bestimmt und die keine Vertuschung zuläßt. Der Sürrealismus ist ihrer kommunistischen Beantwortung immer näher gekommen. Und das bedeutet: Pessimismus auf der ganzen Linie. Jawohl und durchaus. Mißtrauen in das Geschick der Literatur, Mißtrauen in das Geschick der Freiheit, Mißtrauen in das Geschick der europäischen Menschheit, vor allem aber Mißtrauen, Mißtrauen und Mißtrauen in alle Verständigung: zwischen den Klassen, zwischen den Völkern, zwischen den Einzelnen. Und unbegrenztes Vertrauen allein in I. G. Farben und die friedliche Vervollkommnung der Luftwaffe. Aber was nun, was dann?
Hier tritt die Einsicht in ihr Recht, die im »Traite du Style«, Aragons letztem Buche, die Unterscheidung von Vergleich und Bild verlangt. Eine glückliche Einsicht in Stilfragen, die erweitert sein will. Erweiterung: nirgends treffen diese beiden – Vergleich und Bild – so drastisch und so unversöhnlich wie in der Politik aufeinander. Den Pessimismus organisieren heißt nämlich nichts anderes als die moralische Metapher aus der Politik herausbefördern und im Raum des politischen Handelns den hundertprozentigen Bildraum entdecken. Dieser Bildraum aber ist kontemplativ überhaupt nicht mehr auszumessen. Wenn es die doppelte Aufgabe der revolutionären Intelligenz ist, die intellektuelle Vorherrschaft der Bourgeoisie zu stürzen und den Kontakt mit den proletarischen Massen zu gewinnen, so hat sie vor dem zweiten Teil dieser Aufgabe fast völlig versagt, weil er nicht mehr kontemplativ zu bewältigen ist. Und doch hat das die wenigsten gehindert, sie immer wieder so zu stellen, als wäre sie es, und nach proletarischen Dichtern, Denkern und Künstlern zu rufen. Dagegen mußte schon Trotzki – in »Literatur und Revolution« – darauf verweisen, daß sie nur aus einer siegreichen Revolution hervorgehen werden. In Wahrheit handelt es sich viel weniger darum, den Künstler bürgerlicher Abkunft zum Meister der »Proletarischen Kunst« zu machen, als ihn, und sei es auf Kosten seines künstlerischen Wirkens, an wichtigen Orten dieses Bildraums in Funktion zu setzen. Ja, sollte nicht vielleicht die Unterbrechung seiner »Künstlerlaufbahn« ein wesentlicher Teil dieser Funktion sein?
Desto besser werden die Witze, die er erzählt. Und desto besser erzählt er sie. Denn auch im Witz, in der Beschimpfung, im Mißverständnis, überall, wo ein Handeln selber das Bild aus sich herausstellt und ist, in sich hineinreißt und frißt, wo die Nähe sich selbst aus den Augen sieht, tut dieser gesuchte Bildraum sich auf, die Welt allseitiger und integraler Aktualität, in der die »gute Stube« ausfällt, der Raum mit einem Wort, in welchem der politische Materialismus und die physische Kreatur den inneren Menschen, die Psyche, das Individuum oder was sonst wir ihnen vorwerfen wollen, nach dialektischer Gerechtigkeit, so daß kein Glied ihm unzerrissen bleibt, miteinander teilen. Dennoch aber – ja gerade nach solch dialektischer Vernichtung – wird dieser Raum noch Bildraum, und konkreter: Leibraum sein. Denn es hilft nichts, das Eingeständnis ist fällig: Der metaphysische. Materialismus Vogtscher und Bucharinscher Observanz läßt sich in den anthropologischen Materialismus, wie die Erfahrung der Sürrealisten und früher eines Hebel, Georg Büchner, Nietzsche, Rimbaud ihn belegt, nicht bruchlos überführen. Es bleibt ein Rest. Auch das Kollektivum ist leibhaft. Und die Physis, die sich in der Technik ihm organisiert, ist nach ihrer ganzen politischen und sachlichen Wirklichkeit nur in jenem Bildraume zu erzeugen, in welchem die profane Erleuchtung uns heimisch macht. Erst wenn in ihr sich Leib und Bildraum so tief durchdringen, daß alle revolutionäre Spannung leibliche kollektive Innervation, alle leiblichen Innervationen des Kollektivs revolutionäre Entladung werden, hat die Wirklichkeit so sehr sich selbst übertroffen, wie das kommunistische Manifest es fordert. Für den Augenblick sind die Sürrealisten die einzigen, die seine heutige Order begriffen haben. Sie geben, Mann für Mann, ihr Mienenspiel in Tausch gegen das Zifferblatt eines Weckers, der jede Minute sechzig Sekunden lang anschlägt.