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»Der Idiot« von Dostojewskij​

Das Schicksal der Welt stellt sich Dostojewskij im Medium des Schicksals seines Volkes dar. Das ist die typische Anschauungs­weise der großen Nationalisten, nach der die Humanität nur im Medium des Volkstums sich entfalten kann. Die Größe des Romans offenbart sich in der absoluten gegen­seitigen Abhängigkeit, in der die metaphysischen Gesetze der Entfaltung der Mensch­heit und der Nation darge­stellt werden. Es findet sich daher keine Regung des tiefen menschlichen Lebens, die nicht in der Aura des russischen Geistes ihren entscheidenden Ort fände. Diese menschliche Regung inmitten ihrer Aura, gelockert frei im Nationellen schwebend und doch untrennbar von ihm als von seinem Orte darzu­stellen ist vielleicht die Quintessenz der Freiheit in der großen Kunst dieses Dichters. Man kann das nur erkennen, wenn man sich der fürchterlichen Zusammen­stoppelung verschiedener Elemente bewußt wird, die schlecht und recht die Romanfigur des niedrigen Genres ausmachen. Da ist die nationelle Person, der Mensch der Heimat, die individuelle und die soziale Person kindisch miteinander verklebt und die widerliche Kruste des psycho­logisch Palpablen darüber vervoll­ständigt den Mannequin. Die Psychologie der Dostojewskij­schen Personen ist dagegen gar nicht das, wovon der Dichter wirklich ausgeht. Sie ist gleichsam nur die zarte Sphäre, in der aus dem feurigen Urgas des Nationellen im Übergange sich die reine Menschlichkeit erzeugt. Psychologie ist nur der Ausdruck des Grenzdaseins des Menschen. Wirklich ist alles das, was sich im Kopf unsrer Kritiker als psychologisches Problem darstellt, gerade ein solches nicht: als ob es sich um die russische »Psyche« oder die »Psyche« des Epileptikers handle. Die Kritik weist ihr Recht an das Kunstwerk heranzu­treten erst darin aus, daß sie den ihm eigenen Boden respektiert, ihn zu betreten sich hütet. Eine solche unverschämte Grenz­über­schreitung ist das Lob, das man einem Autor um der Psychologie seiner Personen willen erteilt und nur darum sind Kritiker und Verfasser meistens einarider würdig, weil der durch­schnittliche Roman­schreiber jene ver­waschenen Schablonen benützt, die dann die Kritik freilich benennen kann und eben weil sie sie benennen kann, auch lobt. Gerade von dieser Sphäre muß die Kritik sich fernhalten, es wäre schamlos und falsch mit solchen Begriffen Dostojewskijs Werk zu messen. Dagegen gilt es die meta­physische Identität des Nationellen wie des Humanen in der Idee der Schöpfung Dostojewskijs zu erfassen.

Denn dieser Roman wie jedes Kunstwerk beruht auf einer Idee, »hat ein Ideal apriori, eine Notwendigkeit bei sich, da zu sein«, wie Novalis sagt, und eben diese Notwendigkeit und nichts an­deres hat die Kritik aufzuzeigen. Das gesamte Geschehen des Romans erhält seinen Grundcharakter indem es Episode ist. Es ist eine Episode im Leben der Hauptperson, des Fürsten Mysch­kin. Sein Leben liegt im wesentlichen im Dunkel vor wie nach dieser Episode, sogar in dem Sinne, daß er in den unmittelbar ihr vorhergehenden wie auch in den darauffolgenden Jahren im Ausland weilt. Welche Notwendigkeit führt diesen Menschen nach Rußland? Sein russisches Leben hebt sich aus der düst­ren Zeit in der Fremde wie das sichtbare Band des Spektrums aus dem Dunkel steigt. Welches Licht aber zerlegt sich während dieses seines russischen Lebens? Es wäre unmöglich zu sagen, was außer den vielen Irrtümern und mancherlei Tugenden sei­nes Verhaltens er eigentlich in dieser Zeit beginnt. Sein Leben verstreicht nutzlos, auch noch in seiner besten Zeit gleich dem eines untüchtigen kränkelnden Menschen. Es versagt nicht allein am Maßstab der Gesellschaft, auch sein nächster Freund - wenn es nicht so tief in dem Geschehen begründet wäre, daß er keinen hat - könnte keine Idee und kein richtendes Ziel in seinem Leben finden. Dagegen umgibt ihn fast ohne daß es auffällt die völligste Einsamkeit: alle Beziehungen, die ihn betreffen, schei­nen bald in das Feld einer Kraft einzutreten, die ihnen das Nähern verbietet. Bei völligster Bescheidenheit, ja Demut dieses Menschen ist er ganz unnahbar und sein Leben strahlt eine Ordnung aus, deren Mitte eben die eigene, bis zum Verschwinden reife Einsamkeit ist. In der Tat ist damit ganz Seltsames gege­ben: alle Geschehnisse, so entfernt sie auch von ihm verlaufen mögen, besitzen eine Gravitation auf ihn zu, und dieses Gravi­tieren aller Dinge und Menschen gegen den Einen macht den Inhalt des Buches aus. Dabei sind sie so wenig, ihn zu er­reichen, wie er geneigt, sich ihnen zu entziehen. Die Spannung ist eine gleichsam unauslöschliche und einfache, die des Lebens auf seine immer bewegtere Entfaltung ins Unendliche, die dennoch nicht zerfließt. Warum ist das Haus des Fürsten und nicht das der Epantschin der Mittelpunkt des Geschehens in Pawlowsk?

Das Leben des Fürsten Myschkin liegt als Episode vor nur um die Unsterblichkeit dieses Lebens symbolisch sichtbar zu machen. Sein Leben kann in der Tat nicht erlöschen, so wenig - nein weniger als das natürliche Leben selbst, zu dem es gleichwohl tiefe Beziehung hat. Die Natur ist vielleicht ewig, das Leben des Fürsten aber ganz gewiß - und dies ist innerlich und geistig zu verstehen - unsterblich. Sein Leben wie das Leben aller in seiner Gravitation auf ihn zu. Das unsterbliche Leben ist nicht das ewige der Natur, wie nahe es ihm auch zu stehen scheint, denn im Begriffe der Ewigkeit ist die Unendlichkeit aufgehoben, in der Unsterblichkeit aber gelangt sie zum höchsten Glanze. Das unsterbliche Leben, von dem dieser Roman das Zeugnis ablegt, ist nichts weniger als die Unsterblichkeit im gewöhnlichen Sinn. Denn in der ist gerade das Leben sterblich, unsterblich aber ist Fleisch, Kraft, Person, Geist in ihren verschiedenen Fassun­gen. So hat Goethe von einer Unsterblichkeit des Wirkenden in seinem Wort zu Eckermann gesprochen, wonach die Natur ver­pflichtet sei uns einen neuen Wirkungsraum zu geben wenn die­ser hier uns genommen sei. Das alles ist weit entfernt von der Unsterblichkeit des Lebens, von dem Leben, das seine Unsterb­lichkeit im Sinne unendlich fortschwingt, und dem die Unsterb­lichkeit die Gestalt gibt. Denn hier ist von Dauer nicht die Rede. Welches Leben aber ist das Unsterbliche, wenn es doch nicht das der Natur ist, auch nicht das der Person? Vom Fürsten Mysch­kin darf man im Gegenteil sagen, daß seine Person hinter seinem Leben zurück­tritt wie die Blume hinter ihrem Duft oder der Stern hinter seinem Flimmern. Das unsterbliche Leben ist un­vergeßlich, das ist das Zeichen, an dem wir es erkennen. Es ist das Leben, das ohne Denkmal und ohne Andenken. ja viel­leicht ohne Zeugnis unvergessen sein müßte. Es kann nicht vergessen werden. Dies Leben bleibt gleichsam ohne Gefäß und Form das unver­gängliche. Und »unver­geßlich« sagt seinem Sinn nach mehr als daß wir es nicht vergessen können; es deutet auf etwas im Wesen des Unvergeßlichen selbst, wodurch es unvergeßlich ist. Selbst die Erinnerungslosigkeit des Fürsten in seiner spätern Krankheit ist Symbol des Unvergeßlichen seines Lebens; denn das liegt nun scheinbar im Abgrund seines Selbstgedenkens versunken aus dem es nicht mehr emporsteigt. Die andern be­suchen ihn. Der kurze Schlußbericht des Romans stempelt alle Personen für immer mit diesem Leben, an dem sie teilhatten, sie wissen nicht wie.

Das reine Wort für das Leben in seiner Unsterblichkeit ist aber: Jugend. Das ist die große Klage Dostojewskijs in diesem Buche: das Scheitern der Bewegung der Jugend. Ihr Leben bleibt un­sterblich, aber es verliert sich im eigenen Licht: »der Idiot«. Do­stojewskij klagt, daß Rußland sein eigenes unsterbliches Leben - denn diese Menschen tragen das jugendliche Herz von Ruß­land in sich - nicht bei sich behalten, in sich aufsaugen kann. Es fällt auf fremdem Boden nieder, es tritt über seinen Rand und versandet in Europa, »in diesem windigen Europa«. Wie die politische Lehre Dostojewskijs immer wieder die Regeneration im reinen Volkstum für die letzte Hoffnung erklärt, so erkennt der Dichter dieses Buches im Kinde das einzige Heil für die jungen Menschen und ihr Land. Das würde schon aus diesem Buche, in dem die Gestalt des Kolja wie des Fürsten in dem kindlichen Wesen die reinsten sind, hervorgehen, auch ohne daß Dostojewskij in den »Brüdern Karamasoff« die unbegrenzte heilende Macht des kindlichen Lebens entwickelt hätte. Verletzte Kindheit ist das Leid dieser Jugend, weil eben die verletzte Kindheit des russischen Menschen und des russischen Landes seine Kraft lähmte. Es ist immer wieder bei Dostojewskij deut­lich, daß nur im Geiste des Kindes die edle Entfaltung des menschlichen Lebens aus dem Leben des Volkes hervorgeht. An der fehlenden Sprache des Kindes zersetzt sich gleichsam das Sprechen der Dostojewskij­schen Menschen und in einer überreiz­ten Sehnsucht nach Kindheit - im modernen Sprachgebrauch: in Hysterie - verzehren sich vor allem die Frauen dieses Ro­mans: Lisaweta Prokowjewna, Aglaja und Nastassja Philip­powna. Die gesamte Bewegung des Buches gleicht einem ungeheuren Kratereinsturz. Weil Natur und Kindheit fehlen, ist das Menschentum nur in einer katastrophalen Selbst­vernich­tung zu erreichen. Die Beziehung des menschlichen Lebens auf den Lebenden noch bis in seinen Untergang hinein, der uner­meßliche Abgrund des Kraters, aus dem gewaltige Kräfte sich einmal menschlich groß entladen könnten, ist die Hoffnung des russischen Volkes.