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Pariser Passagen II

»Wir haben«, sagt der illustrierte Pariser Führer, ein vollständiges Gemälde der Seine-Stadt und ihrer Umgebungen vom Jahre 1852, »bei den inneren Boulevards wiederholt der Passagen gedacht, die dahin ausmünden. Diese Passagen, eine neuere Erfindung des industriellen Luxus, sind glasgedeckte marmorgetäfelte Gänge durch ganze Häusermassen, deren Besitzer sich zu solchen Spekulationen vereinigt haben. Zu beiden Seiten dieser Gänge, die ihr Licht von oben erhalten, laufen die elegantesten Warenläden hin, so daß eine solche Passage eine Stadt, eine Welt im kleinen ist, in der der Kauflustige alles finden wird, dessen er benötigt. Sie sind bei plötzlichen Regengüssen der Zufluchtsort aller Überraschten, denen sie eine gesicherte, wenn auch beengte Promenade gewähren, bei der die Verkäufer auch ihren Vorteil finden.« Die Kauflustigen sind dahin und die Überraschten. Regen wirbt ihnen nur die powere Klientel ohne den imprägnierten Covercoat oder Gummimantel. Das waren Räume für ein Geschlecht, das vom Wetter zu wenig wußte und sonntags, wenn es schneite, statt auf Skiern in den Wintergärten sich wärmte. Zu früh gekommenes Glas, zu frühes Eisen: das war ein und dieselbe Sippe, Passagen, Wintergärten mit der herrschaftlichen Palme und Bahnhofshallen, wo die falsche Orchidee »Abschied« mit ihren winkenden Blütenblättern gezüchtet wurde. Längst hat der Hangar sie eingelöst. Und heute steht es mit dem Menschenmaterial im Innern wie mit dem Baumaterial der Passagen. Zuhälter sind die eisernen Naturen dieser Straße und ihre gläsernen Spröden sind Huren. Hier war die letzte Unterkunft der Wunderkinder, die als Patentkoffer mit Innenbeleuchtung, als meterlanges Taschenmesser oder gesetzlich geschützter Schirmgriff mit Uhr und Revolver auf Weltausstellungen das Tageslicht erblickten. Und neben den entarteten Riesengeschöpfen, die halbe, steckengebliebene Materie. Wir sind den schmalen dunklen Gang gegangen, bis zwischen einer librairie en solde, wo farbige verschnürte Konvolute von allen Formen des Konkurses reden, und einem Laden mit lauter Knöpfen (Perlmutt und solchen, die man in Paris de fantaisie nennt) eine Art Wohnzimmer stand. Auf eine blaßbunte Tapete voll Bildern und Büsten schien eine Gaslampe. Bei der las eine Alte. Die ist da wie seit Jahren allein und will Gebisse »in Gold, in Wachs und zerbrochen«. Seit diesem Tage wissen wir auch, woher der Doktor Mirakel das Wachs nahm, aus dem er die Olympia verfertigt hat. Sie sind die wahren Feen dieser Passagen – käuflicher und gebrauchter als die lebensgroßen – die einst weltberühmten pariser Puppen, die auf dem singenden Sockel sich drehten und auf den Armen ein Körbchen hatten, aus dem in den werdenden Mollakkord ein Schäfchen die witternde Schnauze streckte. 〈a°, 1〉

Das alles ist die Passage in unsern Augen. Und nichts von alledem ist sie gewesen. Sie 〈scil. die Passagen〉 strahlten ins Paris der Empirezeit als Grotten. Wer 1817 die Passage des Panoramas betrat, dem sangen auf der einen Seite die Sirenen des Gaslichts, und gegenüber lockten als Ölflammen Odalisken. Mit dem Aufblitzen der elektrischen Lichter verlosch das unbescholtene Leuchten in diesen Gängen, die plötzlich schwieriger zu finden waren, eine schwarze Magie der Tore betrieben, aus blinden Fenstern in ihr Inneres schauten. Das war kein Niedergang sondern der Umschlag. Mit einem Schlage waren sie die Hohlform, aus der das Bild der »Moderne« gegossen wurde. Hier spiegelte mit Süffisanz das Jahrhundert seine allerneueste Vergangenheit. Hier war das Altersheim der Wunderkinder … 〈a°, 2〉

Wenn wir als Kinder jene großen Sammelwerke »Weltall und Menschheit«, »Neues Universum«, »Die Erde« bekamen, fiel dann der Blick nicht immer zuerst auf die farbige »Steinkohlenlandschaft« oder auf »Seen und Gletscher zur ersten Eiszeit«? Solch ideales Panorama einer kaum verflossenen Urzeit tut mit dem Blick durch die in alle Städte verteilten Passagen sich auf. Hier haust der letzte Dinosaurus Europas, der Konsument. An diesen Höhlenwänden wuchert als unvordenkliche Flora die Ware und geht, wie die Gewebe in Geschwüren, die regellosesten Verbindungen ein. Eine Welt geheimer Affinitäten: Palme und Staubwedel, Föhnapparat und die Venus von Milo, Prothese und Briefsteller finden sich hier, wie nach langer Trennung, zusammen. Lauernd lagert die Odaliske neben dem Tintenfaß, Adorantinnen heben Aschbecher wie Opferschalen. Diese Auslagen sind ein Rebus und es liegt einem auf der Zunge, 〈wie〉 hier das Vogelfutter in der Fixierschale einer Dunkelkammer verwahrt wird, Blumensamen neben dem Feldstecher, die abgebrochnen Schrauben auf dem Notenheft und der Revolver überm Goldfischglas zu lesen sind. Übrigens sieht nichts von alledem neu aus. Die Goldfische stammen vielleicht aus einem inzwischen lange versiegten Bassin, der Revolver wird corpus delicti gewesen sein, und schwerlich haben diese Noten ihre frühere Besitzerin vorm Hungertode bewahren können, als die letzten Eleven fortblieben. 〈a°, 3〉

Dem, was die Dichter selbst von ihren Schriften sagen, soll man niemals trauen. Als Zola seine Thérèse Raquin gegen feindselige Kritiken verteidigen wollte, hat er erklärt, sein Buch sei eine wissenschaftliche Studie über die Temperamente. Es sei ihm nämlich darum zu tun gewesen, exakt an einem Beispiel zu entwickeln, wie das sanguinische und das nervöse Temperament – zu beider Unheil – auf einander wirken. Bei dieser Mitteilung konnte niemandem wohlwerden. Sie erklärt auch nicht den beispiellosen Einschlag von Kolportage, die Blutrünstigkeit, die filmgerechte Gräßlichkeit der Handlung. Sie spielt nicht umsonst in einer Passage. Wenn dieses Buch denn wirklich wissenschaftlich etwas entwickelt, so ist es das Sterben der pariser Passagen, der Verwesungsprozeß einer Architektur. Von seinen Giften ist die Atmosphäre dieses Buches schwanger und an ihnen gehen seine Menschen zugrunde. 〈a°, 4〉

Man zeigte im alten Griechenland Stellen, an denen es in die Unterwelt hinabging. Auch unser waches Dasein ist ein Land, an dem es an verborgnen Stellen in die Unterwelt hinabgeht, voll unscheinbarer Örter, wo die Träume münden. Am Tage gehen wir nichtsahnend an ihnen vorüber, kaum aber kommt der Schlaf, so tasten wir mit geschwinden Griffen zu ihnen zurück und verlieren uns in den dunklen Gängen. Das Häuserlabyrinth der Stadt gleicht am hellen Tage dem Bewußtsein; die Passagen (das sind die Galerien, die in ihr vergangnes Dasein führen) münden tagsüber unbemerkt in die Straßen. Nachts unter den dunklen Häusermassen aber springt ihr kompakteres Dunkel erschreckend heraus; und der späte Passant hastet an ihnen vorüber, es sei denn, daß wir ihn zur Reise durch die schmale Gasse ermuntert haben. 〈a°, 5〉

Falschere Farben sind in Passagen möglich; daß Kämme rot und grün sind, wundert kaum. Schneewittchens Stiefmutter hatte solche, und als der Kamm sein Werk nicht getan hatte, da war der schöne Apfel, der nachhalf, halb rot, halb giftgrün wie die wohlfeilen Kämme. Überall geben Strümpfe ihre Gastrollen, einmal liegen die unter Phonographen, gegenüber in einer Briefmarkenhandlung, ein andermal am Nebentisch eines Ausschanks, wo sie von einem Mädchen bewacht werden. Auch gegenüber vor der Briefmarkenhandlung, wo zwischen den Kuverts mit raffiniert gemischten Marken Handbücher einer überholten Lebenskunst, »Etreintes secrètes« und »Illusions affolantes«, Einführungen in ausrangierte Laster und Passionen lieblos verteilt sind. Die Scheiben sind mit bunten Epinaldrucken verhängt, auf denen Arlequin seine Tochter verlobt, Napoleon durch Marengo reitet und zwischen allen Geschützgattungen der Artillerie schmächtige englische Bürger die breite Straße zur Hölle und die verlassene des Evangeliums wandeln. Kein Käufer sollte in diesen Laden mit vorgefaßten Meinungen treten, froh, beim Verlassen einen Band mit nachhause zu nehmen: Malebranches »Recherche de la vérité« oder »Miss Daisy, un journal d’une écuyère anglaise«. 〈b°, 1〉

Auf die Einwohner dieser Passagen deuten mitunter Schilder und Inschriften, die sich innen zwischen den Läden, wo hie und da eine Wendeltreppe ins Dunkel hinaufführt, an der Wand wiederholen, Sie haben wenig gemein mit denen, die an ehrlichen Flurtüren hängen und erinnern eher an Tafeln, die an Gittern zoologischer Gärten weniger den Wohnort als Herkunft und Gattung von gefangnen Tieren verzeichnen. In den Lettern auf den metallnen oder auch emaillierten Schildern hat ein Bodensatz aller Schriftformen, die je im Abendlande im Gebrauch gewesen sind, sich niedergeschlagen. Albert au 83 wird ein Friseur sein und maillots de théâtre werden wohl rosa und hellblaue Seidentrikots für junge Sängerinnen und Tänzerinnen sein, aber diese eindringlichen Buchstaben wollen noch mehr und anderes besagen. Sammler kulturhistorischer Kuriosa haben in ihrem Geheimfach Flugblätter einer hochbezahlten Literatur, Firmenprospekte oder Theateranzeigen, die beides nur auf den ersten Blick sind und Dutzende verschiedener Alphabete an die Einkleidung einer naheliegenden Aufforderung verschwenden. An die romantische Letterngarderobe der Zote erinnern diese finstern Emailleschilder. – Erinnern an den Ursprung des neueren Plakats. Im Jahre 1861 tauchte an den Londoner Häusermauern das erste lithographische Plakat auf: man sah den Rücken einer weißen Frau, die dicht in einen Shawl gehüllt soeben in aller Hast den oberen Absatz einer Stiege erreicht hatte, den Kopf halb abwendet und den Finger auf den Lippen eine schwere Tür einen Spalt weit öffnet, in dem man den gestirnten Himmel erkennt. So affichierte Wilkie Collins sein neues Buch einen der größten Kriminalromane: Die weiße Frau. Noch farb⁠〈los〉 rannen an den Häuserwänden die ersten Tropfen eines Letternregens nieder, der heute ohne Unterlaß bei Tag und Nacht sich über die großen Städte ergießt und begrüßt wurde wie die ägyptischen Plagen. – Darum wird uns so bange, wenn wir gedrängt von denen, welche wirklich kaufen, zwischen die dichtbehängten Kleiderstöcke geklemmt, auf der unteren Schnecke der Wendeltreppe »Institut de beauté du professeur Alfred Bitterlin« lesen. Und die »Fabrique de cravates au 2me« – ob es da tatsächlich Halsbinden gibt? (Das »getupfte Land« aus dem Sherlock Holmes?) Ach, es wird wohl ganz harmlos genäht werden, und alle die erdachten Schrecken werden sich sachlich in die Statistik der Tuberkulose rangieren. Zum Troste fehlen an diesen Stellen nur selten hygienische Institute. Da tragen Gladiatoren Bauchbinden und Bandagen sind um weiße Mannequinbäuche. Irgend etwas veranlaßt den Ladenbesitzer, so oft wie möglich unter sie zu treten – Viel Adel, der vom Gotha nichts weiß: »Mme de Consolis, Maîtresse de Ballet, Leçons, Cours, Numéros«. »Mme de Zahna, Cartomancienne«, und wenn 〈man〉 Mitte der neunziger Jahre 〈uns〉 aus ihm geweissagt 〈hätte,〉 sicher den Untergang einer Kultur. 〈b°, 2〉

Oft beherbergen diese Binnenräume veraltende Gewerbe und auch die durchaus aktuellen bekommen in ihnen etwas Verschollenes. Es ist der Ort der Auskunfteien und Ermittlungsinstitute, die da im trüben Licht der oberen Galerien der Vergangenheit auf der Spur sind. In den Auslagen der Friseurläden sieht man die letzten Frauen mit langen Haaren. Sie haben reich ondulierte Haarmassen, die »indéfrisables« sind, versteinerte Haartouren. Kleine Votivtafeln sollten sie denen weihen, die eine eigene Welt aus diesen Bauten machten, Baudelaire und Odilon Redon, dessen Name selbst wie eine allzugut gedrehte Locke fällt. Statt dessen hat man sie verraten und verkauft und das Haupt der Salome selber zum Einsatz gemacht, wenn das, was dort in der Konsole trauert, nicht das einbalsamierte der Anna Czillag ist. Und während diese versteinern, ist oben das Mauerwerk der Wände brüchig geworden. Brüchig sind auch die Mosaikschwellen, die im Stile der alten Restaurants des Palais Royal zu einem »Dîner de Paris« für fünf Franken führen; sie steigen breit an zu einer Glastür, aber man mag nicht glauben, es komme dahinter wirklich ein Restaurant. Die nächste Glastür verheißt ein »Petit Casino« und läßt eine Kasse sehen und Preise der Plätze, aber öffnete man sie – ginge es da hinein? würde man statt in einem Theaterraum nicht drüben auf die Sraße hinaustreten? Da Tür und Wände von Spiegeln durchbrochen sind, so weiß man weder ein noch aus vor zweifelhafter Helle. Paris ist eine Spiegelstadt. Spiegelglatter Asphalt seiner Autostraßen, vor allen bistros gläserne Verschläge. Ein Überfluß von Scheiben und Spiegeln in den Cafés, um sie innen heller zu machen und all den winzigen Gehegen und Abteilen, in die pariser Lokale zerfallen, eine erfreuliche Weite zu geben. Die Frauen sehen sich hier mehr als anderswo, daraus ist die bestimmte Schönheit der Pariserinnen entsprungen. Ehe ein Mann sie anblickt, sahen sie sich schon zehnmal gespiegelt. Aber auch der Mann sieht sich physiognomisch aufblitzen. Er gewinnt schneller sein Bild als anderswo und sieht sich auch mit diesem seinem Bilde schneller einig werden, Sogar die Augen der Passanten sind verhängte Spiegel. Und über dem großen Bette der Seine, Paris, breitet der Himmel sich wie der kristallene Spiegel über den niedrigen Betten in Freudenhäusern. 〈c°, 1〉

Blicken zwei Spiegel einander an, so spielt der Satan seinen liebsten Trick und öffnet hier auf seine Weise (wie sein Partner in den Blicken der Liebenden tut) die Perspektive ins Unendliche. Sei es nun göttlich, sei es satanisch: Paris hat die Passion der spiegelgleichen Perspektiven. Der Arc de Triomphe, Sacré Coeur, selbst das Panthéon erscheinen von weitem wie Bilder, die niedrig schweben, öffnen die Fata Morgana architektonisch. Baron von Haussmann hat sich, als er Paris zur Zeit des dritten (recte: zweiten) Kaiserreiches neu gestaltet hat, an diesen Perspektiven berauscht und wo nur immer möglich sie vermehren wollen. In den Passagen ist die Perspektive dauerhaft konserviert wie in Kirchenschiffen. Und die Fenster im oberen Stockwerke sind Emporen, in denen Engel nisten, die man »Schwalben« nannte. – »Hirondelles⁠〈-femmes〉 qui font la fenêtre.« 〈c°, 2〉

Zweideutigkeit der Passagen als eine Zweideutigkeit des Raumes. Zu diesem Phänomen dürfte der Zugang am ehesten von der vielfältigen Verwendung der Figuren in Wachsfigurenkabinetten herzustellen sein. Wie auf der andern Seite entsprechend die in den Passagen gewonnene intentionale Einstellung auf die Zweideutigkeit des Raumes der Theorie der pariser Straßen zugute kommen muß. Den äußerlichsten nur ganz peripheren Aspekt der Zweideutigkeit der Passagen gibt ihr Reichtum an Spiegeln, der die Räume märchenhaft ausweitet und die Orientierung erschwert. Vielleicht sagt das nur wenig. Dennoch: mag sie auch mehrdeutig, ja unendlich vieldeutig sein, zweideutig bleibt sie – im Sinne der Spiegelwelt – doch. Sie blinzelt, ist immer dieses Eine und nie Nichts, aus dem ein anderes sogleich heraussteigt. Der Raum, der sich verwandelt, tut das im Schoße des Nichts. In seinen trüben beschmutzten Spiegeln tauschen die Dinge den Kaspar Hauser-Blick mit dem Nichts: es ist ein so zweideutiges Zwinkern von Nirvana herüber. Und wieder streift uns hier mit kaltem Hauch der Geckenname Odilon Redons, der diesen Blick der Dinge in den Spiegel des Nichts so wie kein anderer auffing und wie kein anderer sonst ins Einverständnis der Dinge mit dem Nichtsein sich zu mischen wußte. Blickwispern füllt die Passagen. Da ist kein Ding, das nicht ein kurzes Auge, wo man es am wenigsten vermutet, aufschlägt, blinzelnd schließt, siehst du näher hin so ist es verschwunden. Dem Wispern dieser Blicke leiht der Raum sein Echo: »Was mag, in mir, so blinzelt er, sich wohl ereignet haben?« Wir stutzen. »Ja was mag in dir sich wohl alles ereignet haben?« So fragen wir ihn leise zurück. Hier könnte so gut. die Kaiserkrönung von Karl dem Großen wie die Ermordung Heinrichs IV, der Tod der Söhne Richards im Tower und die … sich ereignet haben. Darum sind hier die Wachsfigurenkabinette. Diese optische Fürstengalerie ist ihr Hauptkapital. Sie ist Ludwig XI der Thronsaal, York⁠〈?〉 der Tower, ist Abd el Krim die Wüste und Nero Rom. 〈c°, 3〉

Die innersten glühenden Zellen der ville lumière, die alten Dioramen, nisteten in diesen Passagen, von denen eine nach ihnen noch heute Passage des Panoramas genannt wird. Es war im allerersten Augenblick, als beträte man ein Aquarium. An der Wand des großen verdunkelten Saales zog es von schmalen Gelenken durchbrochen wie ein Land hinter Glas erleuchteten Wassers entlang. Das Farbenspiel der Tiefseefauna kann nicht brennender sein. Aber was sich hier zeigte, waren oberirdische, atmosphärische Wunder. In monderhellten Wassern spiegeln sich Serails, weiße Nächte in verlassenen Parks tun sich auf. Man erkennt im Mondlicht das Schloß von Saint Leu, in dem man vor hundert Jahren den letzten Condé erhängt an einem Fenster aufgefunden hat. Es brennt noch Licht in einem Fenster des Schlosses. Dazwischen fällt ein paar mal breit die Sonne ein: Im lauteren Lichte eines Sommermorgens sieht man die Stanzen des Vatikans, wie sie den Nazarenern erschienen sein werden; unweit baut sich das ganze Baden-Baden auf, und schrieben wir nicht 1860, könnte man unter seinen Puppen vielleicht im Maßstab 1:10 000 Dostojewski auf der Casinoterrasse erkennen. Aber auch Kerzenlicht kommt zu Ehren. Wachslichter umstellen im dämmernden Dom als chapelle ardente den ermordeten Herzog von Berry und Ampeln in den Seitenhimmeln beschämen beinahe die rundliche Luna. Es war ein Experiment ohne gleichen auf die mondbeglänzte Zaubernacht der Romantik und siegreich ging ihre edle Substanz aus jeder sinnreichen Prüfung hervor. Wer gar die Zeit nahm, vor dem Transparent des alten Bades Contrexéville zu verweilen, dem war als sei er schon in früheren Leben diesen sonnigen Weg zwischen Pappeln entlanggekommen, habe die steinerne Mauer dabei gestreift – bescheidene magische Effekte zum Hausgebrauch, wie man sie sonst nur in seltnen Fällen, vor chinesischen Specksteingruppen oder russischer Lackmalerei erfuhr. 〈c°, 4〉

Straßen sind die Wohnung des Kollektivs. Das Kollektivum ist ein ewig waches, ewig bewegtes Wesen, das zwischen Häuserwänden soviel erlebt, erfährt, erkennt und ersinnt wie Individuen im Schutze ihrer vier Wände. Diesem Kollektivum sind die glänzenden emaillierten Firmenschilder so gut und besser ein Wandschmuck wie im Salon dem Bürger ein Ölgemälde, Mauern mit der »Défense d’Afficher« sind sein Schreibpult, Zeitungskioske seine Bibliotheken, Briefkästen seine Bronzen, Bänke sein Schlafzimmermobiliar und die Café-Terrasse der Erker, von dem er auf sein Hauswesen heruntersieht. Wo am Gitter Asphaltarbeiter den Rock hängen haben, da ist das Vestibül, und die Torfahrt, die aus der Flucht von Höfen ins Freie leitet, der lange Korridor, der den Bürger schreckt, ihnen der Zugang in die Kammern der Stadt. Von denen war die Passage der Salon. Mehr als an jeder andern Stelle gibt die Straße sich in ihr als das möblierte, ausgewohnte Interieur der Massen zu erkennen. 〈d°, 1〉

Der Bürger, der mit Louis-Philippe heraufkam, legt Wert darauf, die Nähe und die Ferne sich zum Interieur zu machen. Er kennt nur einen einzigen Schauplatz, den Salon. Im Jahre 1839 ist ein Ball auf der englischen Botschaft. Zweihundert Rosenstöcke werden bestellt. »Der Garten – so erzählt eine Augenzeugin – trug ein Zeltdach und wirkte wie ein Konversationssalon. Aber welch ein Salon! Die duftigen, mit Blumen überhäuften Beete hatten sich in enorme Jardinieren verwandelt, der Sand der Alleen verschwand unter blendenden Läufern, anstelle der gußeisernen Bänke fand man damast- und seidenüberzogene Kanapees; ein runder Tisch trug Bücher und Alben; von weitem drang der Lärm des Orchesters in dieses ungeheuere Boudoir hinein und in der dreifachen Blumengalerie des Umgangs erging sich ausgelassene Jugend. Es war eine Wonne!« Die staubige Fata Morgana des Wintergartens, die trübe Perspektive des Bahnhofs mit dem kleinen Altar des Glücks im Schnittpunkt der Gleise, das alles modert unter falschen Konstruktionen, zu früh gekommenem Glas, zu frühem Eisen noch heute. 〈Um die〉 Mitte des vorigen Jahrhunderts ahnte noch keiner, wie mit Glas und Eisen gebaut werden muß. Aber längst hat der Hangar sie eingelöst. Nur steht es mit dem Menschenmaterial im Innern wie mit dem Baumaterial der Passagen. Zuhälter sind die eisernen Naturen dieser Straße und ihre gläsernen Spröden sind Huren. 〈d°, 2〉

Für den Flanierenden geht folgende Verwandlung mit der Straße vor sich: sie leitet ihn durch eine entschwundene Zeit. Er schlendert die Straße entlang; ihm ist eine jede abschüssig. Sie führt hinab, wenn nicht zu den Müttern so doch in eine Vergangenheit, die um so tiefer sein kann, als sie nicht seine eigene, private ist. Dennoch bleibt sie immer Vergangenheit einer Jugend. Warum aber die seines gelebten Lebens? Der Boden, über den er hingeht, der Asphalt ist hohl. Seine Schritte wecken eine erstaunliche Resonanz, das Gas, das auf die Fliesen herunterstrahlt, wirft ein zweideutiges Licht auf diesen doppelten Boden. Die Figur des Flaneurs rückt wie von einem Uhrwerk getrieben über die steinerne Straße mit dem doppelten Boden dahin. Und im Innern, wo dieses Triebwerk steckt, pocht⁠〈?〉 wie bei altem Spielzeug eine Spieluhr. Die spielt das Lied: »Aus der Jugendzeit / aus der Jugendzeit / folgt ein Lied mir immerdar.« Bei dieser Melodie erkennt er wieder, was um ihn ist; nicht als Vergangenheit aus der eigenen, der letzten Jugend, sondern eine vordem gelebte Kindheit spricht ihn an und es gilt ihm gleich: ist 〈es〉 die eines Ahnen, ist es die eigene. – Ein Rausch kommt über den, der lange ohne Ziel durch Straßen marschierte. Das Gehen gewinnt mit jedem Schritte wachsende Gewalt; immer geringer werden die Verführungen der bistros, der Läden, der lächelnden Frauen, immer unwiderstehlicher der Magnetismus der nächsten Straßenecke, eines fernen Platzes im Nebel, des Rückens einer vor ihm schreitenden Frau. Dann kommt der Hunger. Er aber will nichts wissen von den hundert Möglichkeiten, ihn zu stillen; sondern wie ein Tier streicht er durch unbekannte Viertel auf der Suche nach Nahrung, nach einer Frau, bis er in tiefster Erschöpfung auf seinem Zimmer, das ihn entfremdet, kalt zu sich einläßt, zusammensinkt. Diesen Typus erschuf Paris. Daß nicht Rom es war, ist das Sonderbare. Und der Grund? Dieser: Zieht nicht in Rom selbst das Träumen gebahntere Straßen? Und ist die Stadt nicht zu voll von Themen, von Monumenten, umfriedeten Plätzen, Nationalheiligtümern, um ungeteilt, mit jedem Pflasterstein, jedem Ladenschild, jeder Stufe und jeder Torfahrt in den Traum des Passanten eingehen zu können. Auch mag manches im Nationalcharakter der Italiener liegen. Denn Paris haben nicht die Fremden sondern sie selbst: die Pariser zu der gelobten Stadt des Flaneurs, der »Landschaft aus lauter Leben gebaut«, wie Hofmannsthal sie einmal nannte, gemacht. Landschaft, das wird sie in der Tat dem Flanierenden. Oder genauer, ihm tritt die Stadt in ihren dialektischen Polen scharf auseinander: sie eröffnet sich ihm als Landschaft, sie umschließt ihn als Stube. – Noch eines: jener anamnestische Rausch, in dem der Flaneur durch die Stadt zieht, zieht nicht nur Nahrung aus dem, was ihm sinnlich vor Augen kommt, sondern vermag des bloßen Wissens, ja toter Daten wie eines Erfahrenen und Gelebten sich zu bemächtigen. Dieses gefühlte Wissen geht, wie sich von selbst versteht, vor allem als mündliche Kunde vom einen zum ändern. Aber es hat sich im Laufe des 19ten Jahrhunderts doch auch in einer fast unübersehbaren Literatur niedergeschlagen. Schon vor Lefeuve, der die folgende Formel prägnant zum Titel seines fünfbändigen Werkes gemacht hat, ist »Paris rue par rue, maison par maison« mit aller Liebe als die landschaftliche Staffage des träumenden Müßiggängers gemalt worden. Das Studium dieser Bücher war dem Pariser wie ein zweites, schon ganz aufs Träumen präpariertes Dasein, das Wissen, das ihm diese Bücher gaben, nahm auf dem nachmittäglichen Spaziergang vorm Apéritif Bildergestalt 〈an〉. Und mußte er nicht wirklich den sanften Anstieg hinter der Kirche Notre Dame de Lorette eindringlicher unter den Sohlen fühlen, wenn er wußte: hier wurde einmal, als Paris seine ersten Omnibusse bekam, das cheval de renfort als drittes vor den Wagen gespannt? 〈e°, 1〉

Langeweile ist ein warmes graues Tuch, das innen mit dem glühendsten, farbigsten Seidenfutter ausgeschlagen ist. In dieses Tuch wickeln wir uns, wenn wir träumen. Dann sind wir in den Arabesken seines Futters zuhause. Aber der Schläfer sieht grau und gelangweilt darunter aus. Und wenn er dann erwacht und erzählen will, was er träumte, so teilt er meist nur diese Langeweile mit. Denn wer vermöchte mit einem Griff das Futter der Zeit nach außen zu kehren? Und doch heißt Träumeerzählen nichts anderes. Und nicht anders kann man von den Passagen handeln, Architekturen in denen wir traumhaft das Leben unserer Eltern, Großeltern nochmals leben wie der Embryo in der Mutter das Leben der Tiere. Das Dasein in diesen Räumen verfließt denn auch akzentlos wie das Geschehen in Träumen. Flanieren ist die Rhythmik dieses Schlummers. 1839 kam über Paris eine Schildkrötenmode. Man kann sich gut vorstellen, wie die Elegants in den Passagen leichter noch als auf den Boulevards das Tempo dieser Geschöpfe annahmen. Langeweile ist immer die Außenseite des unbewußten Geschehens. Darum ist sie den großen Dandys als vornehm erschienen. 〈e°, 2〉

Hier hat die Mode den dialektischen Umschlageplatz zwischen Weib und Ware eröffnet. Ihr langer flegelhafter Kommis, der Tod, mißt das Jahrhundert nach der Elle, macht wegen der Ersparnis selbst den Mannequin und leitet eigenhändig den Ausverkauf, der auf französisch »Revolution« heißt. Denn nie war Mode anderes als die Parodie der bunten Leiche, die Provokation des Todes durch das Weib, und zwischen lauten, memorierten Jauchzern bittere geflüsterte Zwiesprache mit der Verwesung. Darum wechselt sie so geschwinde: kitzelt den Tod und ist schon wieder eine andere, neue, wenn er sich nach ihr umsieht, um sie zu schlagen. Sie ist ihm hundert Jahre lang nichts schuldig geblieben. Nun endlich ist sie im Begriff, das Feld zu räumen. Er aber stiftet an die Ufer einer neuen Lethe, die den Asphaltstrom durch Passagen rollt, die Armatur der Huren als Trophäe. 〈f°, 1〉

Als Hackländer für eines seiner Märchen diese »neueste Erfindung des industriellen Luxus« sich nutzbar machte, da hat er auch die wunderbaren Puppen in der gefährlichen Passage angesiedelt, die Schwester Tinchen auf Geheiß der Fee Concordia zu durchwandeln hat, um ihre armen Brüder zu erlösen. »Tinchen schritt getrost über die Grenze ins Zauberland, sie dachte nur an ihre Brüder. Anfangs sah sie nichts Besonderes, bald aber führte der Weg sie durch ein weites Zimmer, welches ganz mit Spielsachen angefüllt war. Hier standen kleine Buden mit allem Möglichen ausgestattet, Carroussels mit Pferdchen und Wagen, Schaukeln und Wiegepferde, vor allem aber die herrlichsten Puppenstübchen. An einem kleinen gedeckten Tisch saßen große Puppen auf Lehnstühlen, und die größte und schönste unter ihnen stand bei Tinchens Anblick auf, machte ihr eine zierliche Verbeugung und redete sie mit einem wunderfeinen Stimmchen an.« Das Kind mag vom Geisterspielzeug nichts wissen, aber der böse Zauber dieser glatten Bahn nimmt gerne bis auf den heutigen Tag die Form von großen beweglichen Puppen an. Aber wer weiß denn heute noch, wo im letzten Jahrzehnt des vergangnen Jahrhunderts Frauen ihre verführerischste Gestalt, das intimste Versprechen ihrer Figur an den Mann brachten? In den gedeckten asphaltierten Hallen, in denen man Radeln lernte. Als Radlerin macht sie der Chansonette auf Chérets Plakaten (den Affichen) die Herrschaft streitig und gibt der Mode ihre gewagtesten Linien ein. 〈f°, 2〉

Es gibt weniges in der Geschichte der Menschheit, wovon wir soviel wissen wie von der Geschichte der Stadt Paris. Tausende und Zehntausende von Bänden sind einzig der Erforschung dieses winzigen Fleckens Erde gewidmet. In manchen Straßen kennt man durch Jahrhunderte hindurch das Schicksal fast jedes einzelnen Hauses. Mit einem schönen Worte nannte Hofmannsthal diese Stadt »eine Landschaft aus lauter Leben gebaut«. Und in der Attraktion, die sie über Menschen ausübt, wirkt eine Art von Schönheit, wie sie großer Landschaft eignet, genauer gesagt: der vulkanischen. Paris ist in der sozialen Ordnung ein Gegenbild von dem, was in der geographischen der Vesuv ist. Ein drohendes gefährliches Massiv, ein immer tätiger Juni der Revolution. Wie aber die Abhänge des Vesuvs dank der sie deckenden Lavaschichten zu paradiesischen Fruchtgärten wurden, so blühen aus der Lava der Revolution Kunst, das festliche Leben, die Mode wie nirgends sonst. 〈f°, 3〉

Ist er’s von seinen standhaften Irrgängen her nicht gewohnt, das Bild der Stadt sich allerorten umzudeuten? Verwandelt er nicht die Passage in ein Casino, in einen Spielsaal, wo er die roten, blauen, gelben Jetons der Gefühle auf Frauen setzt, auf ein Gesicht, das auftaucht – wird es seinen Blick erwidern? – auf einen stummen Mund – wird er reden? Was auf dem grünen Tuch aus jeder Nummer den Spieler ansieht – das Glück – blinzelt ihm hier aus allen Frauenkörpern als die Chimäre der Geschlechtlichkeit entgegen: als sein Typ. Der ist nichts anderes als die Nummer, als die Chiffre, in welcher gerad in diesem Augenblick das Glück beim Namen will gerufen sein, um gleich darauf in eine andere umzuspringen. Der Typ – das ist das Fach des sechsunddreißigfachen Segens, in das das Auge des Lüstlings ohne sein Zutun fällt wie die elfenbeinerne Kugel in die rote oder schwarze Kassette. Er tritt mit prallen Taschen aus dem Palais Royal, ruft eine Hure heran und findet noch einmal in ihren Armen den Akt mit der Nummer, in welchem Geld und Gut, sonst das Beschwerteste, Massivste, vom Schicksal wie die Erwiderung einer völlig geglückten Umarmung ihm kommen. Denn in Bordell und Spielsaal ist es die gleiche, die sündigste, die sträflichste Wonne: In der Lust das Schicksal zu stellen. Daß Sinnenlust, von welcher Art immer, den theologischen Begriff der Sünde bestimmen könnte, kann nur der ahnungslose Idealismus glauben. Den Begriff der Unzucht im Sinne der Theologie bestimmt nichts andres als gerade diese Entwindung der Lust aus dem Verlaufe des Lebens mit Gott, dessen Bindung an ihn im Namen wohnt. Der Name selber ist der Schrei der nackten Lust. Dies Heilige, Nüchterne, Schicksalslose an sich – der Name – kennt keinen größeren Gegner als das Schicksal, welcher in der Hurerei an seine Stelle tritt und sich im Aberglauben sein Arsenal schafft. Daher im Spieler und in der Hure der Aberglaube, der die Figuren des Schicksals stellt, der alle buhlerische Unterhaltung mit Schicksalsvorwitz, Schicksalslüsternheit erfüllt und selbst die Lust zu dessen Thron erniedrigt. 〈g°, 1〉

Der Vater des Surrealismus war Dada; seine Mutter war eine Passage. Dada war, als er ihre Bekanntschaft machte, schon alt. Ende 1919 verlegten Aragon und Breton aus Abneigung gegen Montparnasse und Montmartre ihre Zusammenkünfte mit Freunden in ein Café der Passage de l’Opéra. Der Durchbruch des Boulevard Haussmann hat ihr ein Ende gemacht. Louis Aragon hat über sie 135 Seiten geschrieben, in deren Quersumme die Neunzahl der Musen 〈sich〉 versteckt hält, die an dem kleinen Surrealismus Wehmutterdienste geleistet haben. Diese handfesten Musen heißen: Ballhorn, Lenin, Luna, Freud, Mors, Marlitt und Citroen. Ein vorsichtiger Leser wird ihnen allen, wo er im Laufe dieser Zeilen auf sie stößt, so unauffällig wie möglich ausweichen. Auf diese Passage hält im »Paysan de Paris« Aragon den bewegtesten Nachruf, der je von einem Mann der Mutter seines Sohnes ist gehalten worden. Dort soll man ihn nachlesen, hier aber nicht mehr als eine Physiologie, und, um es rund heraus zu sagen, einen Sektionsbefund dieser geheimnisvollsten abgestorbensten Partien der Hauptstadt Europas erwarten. 〈h°, 1〉

Die kopernikanische Wendung in der geschichtlichen Anschauung ist dies: man hielt für den fixen Punkt das »Gewesene« und sah die Gegenwart bemüht, an dieses Feste die Erkenntnis tastend heranzuführen. Nun soll sich dieses Verhältnis umkehren und das Gewesene seine dialektische Fixierung von der Synthesis erhalten, die das Erwachen mit den gegensätzlichen Traumbildern vollzieht. Politik erhält den Primat über die Geschichte. Und zwar werden die historischen »Fakten« zu einem uns soeben Zugestoßenen: sie festzustellen ist die Sache der Erinnerung. Und Erwachen ist der exemplarische Fall des Erinnerns. Jener Fall, in dem es uns gelingt, des Nächsten, Naheliegendsten (des Ich) uns zu erinnern. Was Proust mit dem experimentierenden Umstellen der Möbel meint, Bloch als das Dunkel des gelebten Augenblicks erkennt, ist nichts anderes als was hier in der Ebene des Geschichtlichen und kollektiv gesichert wird. Es gibt »noch nicht bewußtes Wissen« vom Gewesenen, dessen Förderung die Struktur des Erwachens hat. 〈h°, 2〉

In diesem historischen und kollektiven Fixierungsprozeß spielt das Sammeln eine gewisse Rolle. Sammeln ist eine Form des praktischen Erinnerns und unter den profanen Manifestationen der Durchdringung des »Gewesenen« (unter den profanen Manifestationen der »Nähe«) die bündigste. Und jeder kleinste Akt der politischen Besinnung macht also gewissermaßen im Antiquitätenhandel Epoche. Wir konstruieren hier einen Wecker, der den Kitsch des vorigen Jahrhunderts zur »Versammlung« aufstört. Diese echte Ablösung von einer Epoche hat die Struktur des Erwachens auch darin, daß sie durchaus von der List regiert wird. Denn das Erwachen operiert mit der List. Mit List, nicht ohne sie, lösen wir uns vom Traumbereich los. Es gibt aber auch eine falsche Ablösung, deren Zeichen ist die Gewaltsamkeit. Auch hier gilt das Gesetz von der das Gegenteil bewirkenden Anstrengung. Diese fruchtlose Anstrengung repräsentiert für die Zeit, die hier in Frage steht, der Jugendstil. 〈h°, 3〉

Dialektische Struktur des Erwachens: Erinnerung und Erwachen sind aufs engste verwandt. Erwachen ist nämlich die dialektische, kopernikanische Wendung des Eingedenkens. Es ist ein eminent durchkomponierter Umschlag der Welt des Träumers in die Welt der Wachen. Für den dialektischen Schematismus, der diesem physiologischen Vorgang zugrunde liegt, haben die Chinesen in ihrer Märchen- und Novellenliteratur den radikalsten Ausdruck gefunden. Die neue dialektische Methode der Historik lehrt mit der Schnelligkeit und Intensität von Träumen im Geiste das Gewesene durchzumachen, um so die Gegenwart als Wachwelt zu erfahren, auf die zuletzt sich jeder Traum bezieht. 〈h°, 4〉

Diese Niederschrift, die von den pariser Passagen handelt, ist unter einem freien Himmel begonnen worden, wolkenloser Bläue, die über Laube sich wölbte und doch von den Millionen Blättern bestaubt war, vor denen die frische Brise des Fleißes, der schwerfällige Atem des Forschens, der Sturm des jungen Eifers und das träge Lüftchen der Neugier 〈mit〉 vielhundertjährigem Staube bedeckt ward. Der gemalte Sommerhimmel, der aus Arkaden in den Arbeitssaal der pariser Nationalbibliothek hinuntersieht, hat seine träumerische, lichtlose Decke über die Erstgeburt ihrer Einsicht geworfen. Und wenn er vor den Augen dieser jungen Einsicht sich öffnete, standen darinnen nicht die Gottheiten des Olymp, nicht Zeus, Hephaistos, Hermes oder Hera, Artemis und Athen sondern im Vordergrunde die Dioskuren. 〈h°, 5〉