Zum Hauptinhalt springen

Der Saturnring oder Etwas vom Eisenbau

Anfangs des neunzehnten Jahrhunderts machte man die ersten Versuche mit dem Eisenbau, dessen Ergebnisse im Verein mit denen der Dampfmaschine am Ende des Jahrhunderts das Bild Europas so gänzlich verwandeln sollten. Anstatt eine geschichtliche Entwicklung dieses Vorganges zu versuchen, wollen wir einige lose Betrachtungen an eine kleine Vignette schließen, die mitten aus dem Jahrhundert heraus (wie aus dem dicken Buche, in dem dies steht,) gegriffen ist und, wenn auch auf groteske Art, andeutet, welch unbegrenzte Möglichkeiten man im Bauen in Eisen eröffnet sah. Das Bild 〈s. Abbildung 16〉 stammt aus einem Werk von 1844 – Grandville: »Eine andere Welt« – und erzählt von den Abenteuern eines kleinen phantastischen Kobolds, der sich hier eben im Weltraum zurechtfinden will: »Eine Brücke, deren beide Enden man nicht zugleich zu überblicken vermochte, und deren Pfeiler sich auf Planeten stützten, führte auf wundervoll geglättetem Asphalt von einer Weltkugel auf die andere. Der dreihundertdreiunddreißigtausendste Pfeiler ruhte auf dem Saturn. Da sah unser Kobold, daß der Ring dieses Planeten nichts anderes war als ein rings um ihn laufender Balkon, auf welchem die Saturnbewohner abends frische Luft schöpften.«

caution

[image]

Grandville (Ignace Isidore Gérard): Le pont des planètes, 1844.

Abbildung 16

Auch Gaskandelaber haben wir auf unserem Bild. Die konnte man damals nicht übersehen, wenn von den Glanzleistungen der Technik die Rede war. Wenn für uns heute Gasbeleuchtung manchmal eher einen trübenden beklemmenden Eindruck macht, so stellte sie jenem Zeitalter den Höhepunkt des Luxus und der Feierlichkeit dar. Als Napoleon im Dom des Invalides beigesetzt wurde, fehlte neben Samt, Seide, Gold und Silber und Immortellenkränzen nicht eine ewige Gaslampe über der Ruhestätte. Als ausgemachtes Wunderwerk betrachteten die Leute die Erfindung eines Ingenieurs in Lencastre, der einen Mechanismus zustande gebracht hatte, mit dem Turmuhren automatisch bei Einbruch der Dämmerung im Gaslicht erglühten und automatisch bei Sonnenaufgang ihre Flammen von selbst löschten.

Im übrigen war man gewohnt, Gas und Gußeisen vereinigt in jenen eleganten Etablissements zu begegnen, die damals eben aufkamen: den Passagen. Für die großen Modewarenhändler, die schicken Restaurants, die guten Konfiserieen usw. war es ein Gebot ihres Ansehens, in diesen Galerien sich Magazine zu sichern. Aus diesen Galerien sind dann später die großen Warenhäuser hervorgegangen, deren bahnbrechendes, das bonmarché, von dem Erbauer des Eiffelturms mit entworfen wurde.

Mit Wintergärten und Passagen, also eigentlichen Luxusetablissements, begann der Eisenbau. Sehr schnell aber fand er seine wahren technischen und industriellen Anwendungsgebiete, und es entstanden jene Konstruktionen, die kein Vorbild in der Vergangenheit hatten und aus völlig neuen Bedürfnissen hervorgingen, Markthallen, Bahnhöfe, Ausstellungen. Bahnbrechend waren die Ingenieure. Aber auch unter den Dichtern gab es solche von erstaunlichem Weitblick. So sagt der französische Romantiker Gautier: »Man wird im gleichen Augenblick eine eigne Architektur schaffen, in dem man sich der neuen Mittel bedient, die die neue Industrie liefert. Die Anwendung des Gußeisens gestattet und erzwingt viele Neuformen, wie man sie an Bahnhöfen, Hängebrücken und in den Gewölben der Wintergärten beobachten kann.« Offenbachs »Pariser Leben« war das erste Theaterstück, das auf einem Bahnhof spielte. »Eisenbahnhöfe« pflegte man damals zu sagen, und man verband mit ihnen die sonderbarsten Vorstellungen. Ein besonders fortschrittlicher belgischer Maler, Antoine Wiertz, hat sich um die Mitte des Jahrhunderts um die Freskoausmalung von Bahnhofshallen beworben.

Schritt für Schritt eroberte sich damals die Technik gegen Schwierigkeiten und Einwände, von denen wir uns heut nicht mehr leicht einen Begriff machen, 〈neue Gebiete.〉 So entbrannte in den dreißiger Jahren in England ein erbitterter Kampf um die Eisenbahnschienen. Unter keinen Umständen, so behauptete man, könne man je für das (damals doch nur im kleinsten Maßstab geplante) englische Schienennetz Eisen genug auftreiben. Man müsse die »Dampfwagen« auf Granitstraßen laufen lassen.

Neben den theoretischen Kämpfen liefen die praktischen mit der Materie einher. Die Baugeschichte der Brücke über den Firth of Tay ist dafür ein ganz besonders eindrückliches Beispiel. Sechs Jahre, von 1872-78, dauerte die Arbeit an ihr. Und kurz vor der Vollendung, am 2. Februar 1877, riß ein Orkan (wie sie mit unerhörter Gewalt gerade an der Tay-Mündung toben und auch die Katastrophe von 1879 herbeiführten) zwei der gewaltigsten Träger nieder. Und nicht nur Brückenkonstruktionen stellten derartige Anforderungen an die Ausdauer der Konstrukteure; nicht anders war es mit den Tunneln. Als man im Jahre 1858 den 12 km langen Tunnel durch den Mont Cenis projektierte, machte man sich auf eine Arbeitsdauer von sieben Jahren gefaßt.

Während so im Großen eine heroische Arbeit auf beispielgebende, bahnbrechende Leistungen verwendet wurde, herrscht sonderbarerweise im Kleinen noch oft ein spielerisches Durcheinander. Es ist, als wagten die Menschen und die »Künstler« insbesondere nicht ganz, sich zu diesem neuen Material mit allen seinen Möglichkeiten zu bekennen. Während wir unsere heutigen Stahlmöbel blank und sauber als das hinstellen, was sie sind, quälte man vor hundert Jahren sich ab, Eisenmöbeln, die man damals schon herstellte, durch raffinierten Anstrich das Aussehen zu geben, als seien sie aus den kostbarsten Hölzern verfertigt. Damals begann man seine Ehre darein zu setzen, Gläser gleich Porzellan, Goldschmuck gleich Lederriemen, Eisentische von Rohrgeflecht und ähnliches zustande zu bringen.

Das alles waren unzulängliche Versuche, die Kluft zu verdecken, die die Entwicklung der Technik zwischen dem Konstrukteur der neuen Schule und dem Künstler alten Schlages aufgerissen hatte. Unterirdisch aber tobte der Kampf zwischen dem akademischen Architekten, dem es um Stilformen, und dem Konstrukteur, dem es um Formeln ging. Noch 1805 veröffentlichte ein Führer der alten Schule eine Schrift mit dem Titel: »Über die Untauglichkeit der Mathematik, die Stabilität von Bauten zu gewährleisten.« Als jener Kampf endlich gegen Ende des Jahrhunderts zugunsten der Ingenieure entschieden war, kam der Umschwung: der Versuch, die Kunst vom Formenschatze der Technik her zu erneuern, und das war der Jugendstil. Gleichzeitig aber fand diese heroische Epoche der Technik ihr Denkmal in dem unvergleichlichen Eiffelturm, von dem der erste Historiker des Eisenbaus schrieb: »So schweigt hier die plastische Bildkraft zu gunsten einer ungeheuren Spannung geistiger Energie … Jedes der 12 000 Metallstücke ist auf Millimeter genau bestimmt, jeder der 2 ½ Millionen Niete … Auf diesem Werkplatz ertönte kein Meißelschlag, der dem Stein die Form entringt; selbst dort herrschte der Gedanke über die Muskelkraft, die er auf sichere Gerüste und Krane übertrug.«