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Robert Walser

Man kann von Robert Walser viel lesen, über ihn aber nichts. Was wissen wir denn überhaupt von den wenigen unter uns, die die feile Glosse auf die rechte Weise zu nehmen wissen: nämlich nicht wie der Schmock, der sie adeln will, indem er sie zu sich »emporhebt«, sondern, ihre verächtliche, unscheinbare Bereitschaft nutzend, um ihr Belebendes, Reinigendes abzugewinnen. Was es mit dieser »kleinen Form«, wie Alfred Polgar sie nannte, auf sich hat und wieviel Hoffnungsfalter von der frechen Felsstirn der sogenannten großen Literatur in ihre bescheidenen Kelche flüchten, wissen eben nur wenige. Und die andern ahnen gar nicht, was sie einem Polgar, einem Hessel, einem Walser an ihren zarten oder stachligen Blüten in der Öde des Blättterwaldes zu danken haben. Sie würden sogar auf Robert Walser zuletzt kommen. Denn die erste Regung ihres kümmerlichen Bildungswissens, das in den Dingen des Schrifttums ihr einziges ist, rät ihnen, für das, was sie die Nichtigkeit des Inhalts nennen, an der »gepflegten«, »edlen« Form sich schadlos zu halten. Und da fällt denn gerade bei Robert Walser zunächst eine ganz ungewöhnliche, schwer zu beschreibende Verwahrlosung auf. Daß diese Nichtigkeit Gewicht, die Zerfahrenheit Ausdauer ist, darauf kommt die Betrachtung von Walsers Sachen zuletzt.

Leicht ist sie nicht. Denn während wir gewohnt sind, die Rätsel des Stils uns aus mehr oder weniger durchgebildeten, absichtsvollen Kunstwerken entgegentreten zu sehen, stehen wir hier vor einer, zumindest scheinbar, völlig absichtslosen und dennoch anziehenden und bannenden Sprachverwilderung. Vor einem Sichgehenlassen dazu, das alle Formen von der Grazie bis zur Bitternis aufweist. Scheinbar, sagten wir, absichtslos. Man hat manchmal darüber gestritten, ob wirklich. Aber das ist ein tauber Disput, und man merkt es, wenn man an das Eingeständnis von Walser denkt, er habe in seinen Sachen nie eine Zeile verbessert. Man braucht ihm das gewiß nicht zu glauben, täte aber doch gut daran. Denn man wird sich dann bei der Einsicht beruhigen: zu schreiben und das Geschriebene niemals zu verbessern, ist eben die vollkommene Durchdringung äußerster Absichtslosigkeit und höchster Absicht.

Soweit gut. Aber gewiß kann das gar nicht hindern, dieser Verwahrlosung auf den Grund zu gehen. Wir sagten schon: sie hat alle Formen. Nun fügen wir hinzu: mit Ausnahme einer einzigen. Nämlich dieser einen geläufigsten, der es auf den Inhalt ankommt, und sonst auf nichts. Waisern ist das Wie der Arbeit so wenig Nebensache, daß ihm alles, was er zu sagen hat, gegen die Bedeutung des Schreibens völlig zurücktritt. Man möchte sagen, daß es beim Schreiben draufgeht. Das will erklärt sein. Und dabei stößt man auf etwas sehr Schweizerisches an diesem Dichter: die Scham. Von Arnold Böcklin, seinem Sohn Carlo und Gottfried Keller erzählt man diese Geschichte: Sie saßen eines Tages wie des öftern im Wirtshaus. Ihr Stammtisch war durch die wortkarge, verschlossene Art seiner Zechgenossen seit langem berühmt. Auch diesmal saß die Gesellschaft schweigend beisammen. Da bemerkte, nach Ablauf einer langen Zeit, der junge Böcklin: »Heiß ist's«, und nachdem eine Viertelstunde vergangen war, der ältere: »Und windstill«. Keller seinerseits wartete eine Weile; dann erhob er sich mit den Worten: »Unter Schwätzern will ich nicht trinken.« Die bäurische Sprachscham, die hier von einem exzentrischen Witzwort getroffen wird, ist Walsers Sache. Kaum hat er die Feder zur Hand genommen, bemächtigt sich seiner eine Desperadostimmung. Alles scheint ihm verloren, ein Wortschwall bricht aus, in dem jeder Satz nur die Aufgabe hat, den vorigen vergessen zu machen. Wenn er in einem Virtuosenstück den Monolog: »Durch diese hohle Gasse muß er kommen« in Prosa verwandelt, so beginnt er mit den klassischen Worten: »Durch diese hohle Gasse«, aber da packt seinen Teil schon der Jammer, da scheint er sich schon haltlos, klein, verloren, und er fährt fort: »Durch diese hohle Gasse, glaube ich, muß er kommen.«

Gewiß war Ähnliches da. Dies keusche, kunstvolle Ungeschick in allen Dingen der Sprache ist Narrenerbteil. Wenn Polonius, das Urbild der Geschwätzigkeit, ein Jongleur ist, kränzt Walser sich bacchisch mit Sprachgirlanden, die ihn zu Fall bringen. Die Girlande ist in der Tat das Bild seiner Sätze. Der Gedanke aber, der in ihnen daherstolpert, ist ein Tagedieb, Strolch und Genie wie die Helden in Walsers Prosa. Er kann übrigens nichts anderes als »Helden« schildern, kommt von den Hauptfiguren nicht los und hat es bei drei frühen Romanen bewenden lassen, um fortan einzig und allein den Brüderschaften mit seinen hundert Lieblingsstrolchen zu leben.

Es gibt bekanntlich gerade im germanischen Schrifttum einige große Prägungen des windbeutligen, nichtsnutzigen, tagediebischen und verkommenen Helden. Ein Meister solcher Figuren, Knut Hamsun, ist erst kürzlich gefeiert worden. Eichendorff, der den Taugenichts, Hebel, der den Zundelfrieder geschaffen hat, sind andere. Wie machen sich Walsers Figuren in dieser Gesellschaft? Und wo stammen sie her? Woher der Taugenichts, das wissen wir. Aus den Wäldern und Tälern des romantischen Deutschland. Der Zundelfrieder aus dem rebellischen, aufgeklärten Kleinbürgertum rheinischer Städte um die Jahrhundertwende. Hamsuns Figuren aus der Urwelt der Fjorde — es sind Menschen, die ihr Heimweh zu Trollen zieht. Walsers? Vielleicht aus den Glarner Bergen? Den Matten von Appenzell, wo er herstammt? Nichts weniger. Sie kommen aus der Nacht, wo sie am schwärzesten ist, einer venezianischen, wenn man will, von dürftigen Lampions der Hoffnung erhellten, mit etwas Festglanz im Auge, aber verstört und zum Weinen traurig. Was sie weinen, ist Prosa. Denn das Schluchzen ist die Melodie von Walsers Geschwätzigkeit. Es verrät uns, woher seine Lieben kommen. Aus dem Wahnsinn nämlich und nirgendher sonst. Es sind Figuren, die den Wahnsinn hinter sich haben und darum von einer so zerreißenden, so ganz unmenschlichen, unbeirrbaren Oberflächlichkeit bleiben. Will man das Beglückende und Unheimliche, das an ihnen ist, mit einem Worte nennen, so darf man sagen: sie sind alle geheilt. Den Prozeß dieser Heilung erfahren wir freilich nie, es sei denn, wir wagen uns an sein »Schneewittchen« — eines der tiefsinnigsten Gebilde der neueren Dichtung —, das allein hinreichen würde, verständlich zu machen, warum dieser scheinbar verspielteste aller Dichter ein Lieblingsautor des unerbittlichen Franz Kafka gewesen ist.

Ganz ungewöhnlich zart sind diese Geschichten, das begreift jeder. Nicht jeder sieht, daß nicht die Nervenspannung des dekadenten, sondern die reine und rege Stimmung des genesenden Lebens in ihnen liegt. »Mich entsetzt der Gedanke, ich könnte Erfolg in der Welt haben«, heißt es bei Walser in einer Paraphrase von Franz Moors Dialog. All seine Helden teilen dies Entsetzen. Warum aber? Durchaus nicht aus Abscheu vor der Welt, sittlichem Ressentiment oder Pathos, sondern aus ganz epikuräischen Gründen. Sie wollen sich selber genießen. Und dazu haben sie ein ganz ungewöhnliches Geschick. Sie haben auch darin einen ganz ungewöhnlichen Adel. Sie haben auch dazu ein ganz ungewöhnliches Recht. Denn niemand genießt wie der Genesende. Alles Orgiastische ist ihm fern: das Strömen seines erneuerten Blutes klingt ihm aus Bächen und der reinere Atem der Lippen aus Wipfeln entgegen. Diesen kindlichen Adel teilen die Menschen Walsers mit den Märchenfiguren, die ja auch der Nacht und dem Wahnsinn, dem des Mythos nämlich, enttauchen. Man meint gewöhnlich, es habe sich dies Erwachen in den positiven Religionen vollzogen. Wenn das der Fall ist, dann jedenfalls in keiner sehr einfachen und eindeutigen Form. Die hat man in der großen profanen Auseinandersetzung mit dem Mythos zu suchen, die das Märchen darstellt. Natürlich haben seine Figuren nicht einfach Ähnlichkeit mit den Walserschen. Sie kämpfen noch, sich von dem Leiden zu befreien. Walser setzt ein, wo die Märchen aufhören. »Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch.« Walser zeigt, wie sie leben. Seine Sachen, und hiermit will ich schließen wie er beginnt, heißen: Geschichten, Aufsätze, Dichtungen, kleine Prosa und ähnlich.