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Karl Kraus

Gustav Glück gewidmet

I. Allmensch

Wie laut wird alles.

Worte in Versen II

Alte Stiche haben den Boten, der schreiend, mit gesträubten Haaren, ein Blatt in seinen Händen schwingend, herbeieilt, ein Blatt, das voll von Krieg und Pestilenz, von Mordgeschrei und Weh, von Feuer- und Wassersnot, allerorten die »Neueste Zeitung« verbreitet. Eine Zeitung in solchem Sinn, in der Bedeutung, die das Wort bei Shakespeare hat, ist die »Fackel«. Voll von Verrat, Erdbeben, Gift und Brand aus dem mundus intelligibilis. Der Haß, mit dem sie das unabsehbar wimmelnde Preßgeschlecht verfolgt, ist mehr als ein sittlicher ein vitaler, wie ihn der Urahn auf ein Geschlecht entarteter Zwergenschlingel geworfen hat, die aus seinem Samen gekommen sind. Der Name »Öffentliche Meinung« schon ist ihm ein Greuel. Meinungen sind Privatsache. Die Öffentlichkeit hat ein Interesse nur an Urteilen. Sie ist richtende oder überhaupt keine. Aber das ist ja gerade der Sinn der öffentlichen Meinung, die die Presse herstellt, die Öffentlichkeit unfähig zum Richten zu machen, die Haltung des Unverantwortlichen, Uninformierten ihr zu suggerieren. In der Tat, was sind selbst die präziseren Informationen der Tageszeitungen im Vergleich zu der haarsträubenden Akribie, die die »Fackel« an die Darstellung rechtlicher, sprachlicher und politischer Fakten wendet. Die öffentliche Meinung braucht sie nicht zu kümmern. Denn die bluttriefenden Neuigkeiten dieser »Zeitung« fordern ihren Richtspruch heraus. Und gegen keinen mit ungestümerem Drängen als gegen die Presse selbst.

Ein Haß, wie Kraus ihn auf die Journalisten geworfen hat, kann niemals so schlechthin in dem, was sie tun, fundiert sein – es mag so verwerflich sein wie es will; dieser Haß muß Gründe in ihrem Sein haben, mag es nun dem seinen so entgegengesetzt oder so verwandt sein wie immer. In der Tat ist aber beides der Fall. Die jüngste Darstellung des Journalisten charakterisiert ihn sogleich mit ihrem ersten Satze als »einen Menschen, der für sich selbst und seine Existenz, wie überhaupt für die bloße Existenz der Dinge, wenig Interesse hat, sondern die Dinge erst in ihren Beziehungen spürt, vor allem dort, wo diese in Ereignissen aufeinandertreffen – und der in diesem Moment selbst erst zusammen­geschlosssen, wesenhaft und lebendig wird.« Was man mit diesem Satz in Händen hält, ist nichts anderes als das Negativ des Bildes von Kraus. In der Tat: wer hätte für sich selbst und seine Existenz ein brennenderes Interesse gezeigt als er, der nie von diesem Thema loskommt, wer für die bloße Existenz der Dinge, ihren Ursprung, ein aufmerksameres, wen jenes Aufeinandertreffen des Ereignisses mit dem Datum, dem Augenzeugen oder der Kamera in hellere Verzweiflung versetzt als ihn? Endlich hat er seine gesamten Energien im Kampfe gegen die Phrase zusammengefaßt, die der sprachliche Ausdruck der Willkür ist, mit der die Aktualität im Journalismus sich zur Herrschaft über die Dinge aufwirft.

Das hellste Licht fällt auf diese Seite seines Kampfes gegen die Presse aus dem Lebenswerk seines Mitstreiters Adolf Loos. Loos fand seine providenziellen Gegner in den Kunstgewerblern und Architekten, die sich im Kreise der »Wiener Werkstätten« um eine neue Kunstindustrie bemühten. Seine Parolen hat er in zahlreichen Aufsätzen, in bleibender Formulierung zumal in dem Artikel »Ornament und Verbrechen« niedergelegt, der 1908 in der »Frankfurter Zeitung« erschienen ist. Der leuchtende Blitz, der in diesem Aufsatz gezündet hat, beschrieb den sonderbarsten Zickzackweg. »Beim Lesen der Worte von Goethe, worin die Art der Banausen und so mancher Kunstkenner, Kupferstiche und Reliefs abzutasten, gerügt wird, ist ihm die Erkenntnis aufgestiegen, daß, was berührt werden soll, kein Kunstwerk sein darf, und was ein Kunstwerk ist, dem Zugriff entzogen sein muß.« Das erste Anliegen von Loos war es demnach, Kunstwerk und Gebrauchsgegenstand zu trennen, und so ist es das erste Anliegen von Kraus gewesen, Information und Kunstwerk auseinanderzuhalten. Der Schmock ist im Herzen eins mit dem Ornamentiker. Als Ornamentiker, als Verschleierer der Grenzen zwischen Journalismus und Dichtung, als Schöpfer des Feuilletons in Poesie und Prosa ist Kraus nicht müde geworden, Heine zu denunzieren, ja späterhin, als den Verräter des Aphorismus an die Impression, selbst Nietzsche ihm zur Seite zu stellen. »Meine Auffassung«, heißt es von diesem, »ist, daß er zur Mischung aus Elementen ... der zersetzten europäischen Stile aus dem letzten Halbjahrhundert noch die Psychologie hinzugebracht hat, und daß das neue Niveau der Sprache, das er geschaffen hat, das Niveau des Essayismus ist, wie das Heinesche das des Feuilletonismus.« Beide Formen erscheinen als Symptome der chronischen Krankheit, von welcher alle Einstellungen, alle Standpunkte nur die Fieberkurve bestimmen: der Unechtheit. Die Entlarvung des Unechten ist es, aus der dieser Kampf gegen die Presse entstand. »Wer nur diese große Entschuldigung: zu können, was man nicht ist, in die Welt gebracht hat?«

Die Phrase. Sie ist aber eine Ausgeburt der Technik. »Der Zeitungsapparat verlangt, wie eine Fabrik, Arbeit und Absatzgebiete. Zu bestimmten Zeiten am Tage – zwei- bis dreimal in großen Zeitungen – muß für die Maschinen ein bestimmtes Quantum Arbeit beschafft und vorbereitet sein. Und nicht aus irgendwelchem Material: alles, was in der Zwischenzeit irgendwo und auf irgendeinem Gebiete des Lebens, der Politik, der Wirtschaft, der Kunst usw. geschah, muß inzwischen erreicht und journalistisch verarbeitet sein.« Oder, in großartiger Abbreviatur, bei Kraus: »Es sollte Aufschluß über die Technik geben, daß sie zwar keine neue Phrase bilden kann, aber den Geist der Menschheit in dem Zustand beläßt, die alte nicht entbehren zu können. In diesem Zweierlei eines veränderten Lebens und einer mitgeschleppten Lebensform lebt und wächst das Weltübel.« Mit einem Ruck schürzt Kraus in diesen Worten den Knoten, zu dem Technik und Phrase sich verbunden haben. Die Lösung freilich folgt einer anderen Schlinge: ihr ist der Journalismus durchweg Ausdruck der veränderten Funktion der Sprache in der hochkapitalistischen Welt. Die Phrase in dem von Kraus so unablässig verfolgten Sinne ist das Warenzeichen, das den Gedanken verkehrsfähig macht so wie die Floskel, als Ornament, ihm den Liebhaberwert verleiht. Aber gerade darum ist die Befreiung der Sprache identisch mit der der Phrase – ihrer Verwandlung aus einem Abdruck in ein Instrument der Produktion – geworden. Die »Fackel« selbst enthält davon Modelle, wenn schon nicht die Theorie; ihre Formeln sind von der schürzenden, niemals von der lösenden Art. Die Verschränkung eines biblischen Pathos mit der halsstarrigen Fixierung an die Anstößigkeiten des Wiener Lebens – das ist ihr Weg, sich den Phänomenen zu nähern. Es genügt ihr nicht, die Welt zum Zeugen für das schlechte Benehmen eines Zahlkellners aufzurufen, sie muß die Toten aus ihren Gräbern holen. – Mit Recht. Denn die mesquine, penetrante Fülle dieser Wiener Caféhaus-, Preß- und Gesellschaftsskandale ist nur die unscheinbare Bekundung eines Vorherwissens, das dann plötzlich, schneller als irgendwer es gewärtigen konnte, an seinen eigentlichen, frühesten Gegenstand kam, um zwei Monate nach Kriegsausbruch ihn mit jener Rede »In dieser großen Zeit« beim Namen zu nennen, mit der alle Dämonen, die diesen Besessenen bevölkert hatten, in die Sauherde seiner Zeitgenossenschaft hineinfuhren.

»In dieser großen Zeit, die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu noch Zeit bleibt; und die wir, weil im Bereich organischen Wachstums derlei Verwandlung nicht möglich ist, lieber als eine dicke Zeit und wahrlich auch schwere Zeit ansprechen wollen; in dieser Zeit, in der eben das geschieht, was man sich nicht vorstellen konnte, und in der geschehen muß, was man sich nicht mehr vorstellen kann, und könnte man es, es geschähe nicht –; in dieser ernsten Zeit, die sich zu Tode gelacht hat vor der Möglichkeit, daß sie ernst werden könnte; von ihrer Tragik überrascht, nach Zerstreuung langt, und sich selbst auf frischer Tat ertappend nach Worten sucht; in dieser lauten Zeit, die da dröhnt von der schauerlichen Symphonie der Taten, die Berichte hervorbringen, und der Berichte, welche Taten verschulden: in dieser da mögen Sie von mir kein eigenes Wort erwarten. Keines außer diesem, das eben noch Schweigen vor Mißdeutung bewahrt. Zu tief sitzt mir die Ehrfurcht vor der Unabänderlichkeit, Subordination der Sprache vor dem Unglück. In den Reichen der Phantasiearmut, wo der Mensch an seelischer Hungersnot stirbt, ohne den seelischen Hunger zu spüren, wo Federn in Blut tauchen und Schwerter in Tinte, muß das, was nicht gedacht wird, getan werden, aber ist das, was nur gedacht wird, unaussprechlich. Erwarten Sie von mir kein eigenes Wort. Weder vermöchte ich ein neues zu sagen; denn im Zimmer, wo einer schreibt, ist der Lärm so groß, und ob er von Tieren kommt, von Kindern oder nur von Mörsern, man soll es jetzt nicht entscheiden. Wer Taten zuspricht, schändet Wort und Tat und ist zweimal verächtlich. Der Beruf dazu ist nicht ausgestorben. Die jetzt nichts zu sagen haben, weil die Tat das Wort hat, sprechen weiter. Wer etwas zu sagen hat, trete vor und schweige!« Diese Bewandtnis hat es mit allem, was Kraus schrieb: es ist ein gewendetes Schweigen, ein Schweigen, dem der Sturm der Ereignisse in seinen schwarzen Umhang fährt, ihn aufwirft und das grelle Futter nach außen kehrt. Der Fülle seiner Anlässe ungeachtet, scheint jeder einzelne überraschend mit der Plötzlichkeit eines Windstoßes auf ihn hereingebrochen. Alsbald tritt ein präziser Apparat zu seiner Bewältigung in Tätigkeit: mit dem Ineinandergreifen von mündlicher und schriftlicher Ausdrucksform wird jede Situation in ihren polemischen Möglichkeiten bis auf den Grund ausgeschöpft. Mit welchen Kautelen Kraus sich dabei umgibt, ist aus dem Stacheldraht redaktioneller Bekanntmachungen, der jedes Heft der »Fackel« umzäunt, genau so ersichtlich wie aus den messerscharfen Definitionen und Vorbehalten in den Programmen und den Konferencen seiner Vorlesungen »aus eigenen Schriften«. Die Dreiheit: Schweigen, Wissen, Geistesgegenwart konstituiert die Figur des Polemikers Kraus. Sein Schweigen ist ein Stauwerk, vor dem das spiegelnde Bassin seines Wissens sich ständig vertieft. Seine Geistesgegenwart läßt sich keine Frage stellen, sie ist niemals willens, Grundsätzen, die einer ihr entgegenhält, zu entsprechen. Ihr erstes ist vielmehr, die Situation abzumontieren, die wahre Fragestellung, welche sie enthält, zu entdecken und sie statt aller Antwort dem Gegner zu präsentieren. Wenn man bei Johann Peter Hebel die konstruktive, schöpferische Seite des Takts in ihrer höchsten Entfaltung findet, so bei Kraus die destruktive und kritische. Für beide aber ist der Takt moralische Geistesgegenwart – Stoessl sagt »in Dialektik verfeinerte Gesinnung« – und Ausdruck einer unbekannten Konvention, die wichtiger ist als die anerkannte. Kraus lebt in einer Welt, in der die ärgste Schandtat noch ein faux-pas ist; im Monströsen unterscheidet er noch und zwar gerade darum, weil sein Maßstab nie der der bürgerlichen Wohlanständigkeit ist, der oberhalb der Grenzlinie hausbackener Schurkerei so schnell der Atem ausgeht, daß sie zu keiner Auffassung weltgeschichtlicher mehr imstande ist.

Kraus hat diesen Maßstab schon immer gekannt und im übrigen gibt es für wahren Takt keinen andern. Es ist ein theologischer. Denn Takt ist nicht etwa – wie nach der Vorstellung Befangener – die Gabe, jedem unter Abwägung aller Verhältnisse das ihm gesellschaftlich Gebührende werden zu lassen. Im Gegenteil: Takt ist die Fähigkeit, gesellschaftliche Verhältnisse, doch ohne von ihnen abzugehen, als Naturverhältnisse, ja selbst als paradiesische zu behandeln und so nicht nur dem König, als wäre er mit der Krone auf der Stirne geboren, sondern auch dem Lakaien wie einem livrierten Adam entgegenzukommen. Diese Noblesse hat Hebel in seiner Priesterhaltung besessen, Kraus besitzt sie im Harnisch. Sein Kreaturbegriff enthält die theologische Erbmasse von Spekulationen, die zum letzten Mal im 17. Jahrhundert aktuelle, gesamteuropäische Geltung besessen haben. Am theologischen Kern dieses Begriffs aber hat sich eine Wandlung vollzogen, die ihn ganz zwanglos in dem allmenschlichen Kredo österreichischer Weltlichkeit aufgehen ließ, das die Schöpfung zur Kirche machte, in der man nichts mehr als hin und wieder ein leises Weihraucharoma der Nebel an den Ritus gemahnt. Dieses Kredo hat am gültigsten Stifter geprägt und sein Widerhall wird überall da vernehmlich, wo Kraus mit Tieren, Pflanzen, Kindern sich befaßt. »Das Wehen der Luft,« schreibt Stifter, »das Rieseln des Wassers, das Wachsen der Getreide, das Wogen des Meeres, das Grünen der Erde, das Glänzen des Himmels, das Schimmern der Gestirne halte ich für groß: das prächtig einherziehende Gewitter, den Blitz, welcher Häuser spaltet, den Sturm, der die Brandung treibt, den feuerspeienden Berg, das Erdbeben, welches Länder verschüttet, halte ich nicht für größer als obige Erscheinungen, ja ich halte sie für kleiner, weil sie nur Wirkungen viel höherer Gesetze sind ... Da die Menschen in der Kindheit waren, ihr geistiges Auge von der Wissenschaft noch nicht berührt war, wurden sie von dem Nahestehenden und Auffälligen ergriffen und zu Furcht und Bewunderung hingerissen: aber als ihr Sinn geöffnet wurde, da der Blick sich auf den Zusammenhang zu richten begann, so sanken die einzelnen Erscheinungen immer tiefer, und es erhob sich das Gesetz immer höher, die Wunderbarkeiten hörten auf, das Wunder nahm zu ... So wie in der Natur die allgemeinen Gesetze still und unaufhörlich wirken, und das Auffällige nur eine einzelne Äußerung dieser Gesetze ist, so wirkt das Sittengesetz still und seelenbelebend durch den unendlichen Verkehr der Menschen mit Menschen, und die Wunder des Augenblickes bei vorgefallenen Taten sind nur kleine Merkmale dieser allgemeinen Kraft.« Stillschweigend ist in diesen berühmten Sätzen das Heilige dem bescheidenen, doch bedenklichen Begriff des Gesetzes gewichen. Aber transparent genug ist diese Natur Stifters und seine Sittenwelt, um mit der kantischen ganz unverwechselbar und in ihrem Kern als Kreatur erkennbar zu bleiben. Und jene schnöde säkularisierten Gewitter und Blitze, Stürme, Brandungen und Erdbeben – der Allmensch hat sie der Schöpfung wieder zurückgewonnen, indem er sie zu deren weltgerichtlicher Antwort auf das frevelhafte Dasein der Menschen gemacht hat. Nur daß die Spanne zwischen Schöpfung und Weltgericht hier keine heilsgeschichtliche Erfüllung, geschweige denn geschichtliche Überwindung findet. Denn wie die Landschaft Österreichs schwellenlos die beglückende Breite der stifterschen Prosa erfüllt, so sind ihm, Kraus, die Schreckensjahre seines Lebens nicht Geschichte, sondern Natur, ein Fluß, verurteilt durch eine Höllenlandschaft sich zu winden. Es ist die Landschaft, in der täglich 50 000 Baumstämme für 60 Zeitungen fallen. Kraus hat diese Information unter dem Titel »Das Ende« gebracht. Denn daß die Menschheit im Kampfe gegen die Kreatur den kürzeren zieht, das ist ihm so gewiß wie daß die Technik, einmal gegen die Schöpfung ins Feld geführt, auch vor ihrem Herrn nicht haltmachen wird. Sein Defaitismus ist von übernationaler, nämlich planetarischer Art und die Geschichte für ihn nur die Einöde, die sein Geschlecht von der Schöpfung trennt, deren letzter Aktus der Weltbrand ist. Als Überläufer in das Lager der Kreatur – so durchmißt er diese Einöde. »Und nur das Tier, das Menschlichem erliegt, | ist Held des Lebens«: nie hat das altväterische Kredo Adalbert Stifters eine so finstere, heraldische Prägung erfahren.

Die Kreatur ist es, in deren Namen Kraus immer wieder dem Tier und »dem Herzen aller Herzen, jenem des Hundes« sich zuneigt, für ihn der wahre Tugendspiegel der Schöpfung, in welchem Treue, Reinheit, Dankbarkeit uns aus verlorener Zeitenferne herüberlächeln. Wie beklagenswert, daß sich Menschen an dessen Stelle setzen! Das sind die Anhänger. Mehr und lieber als um den Meister scharen sie sich mit unschönem Wittern um den zu Tode getroffenen Gegner. Gewiß, der Hund ist nicht umsonst das emblematische Tier dieses Autors: der Hund, der ideale Fall des Anhängers, der nichts ist außer ergebene Kreatur. Und je persönlicher und unbegründeter diese Ergebenheit, um so besser. Kraus hat recht, sie auf die härteste Probe zu stellen. Wenn aber etwas das unendlich Fragwürdige dieser Geschöpfe zum Ausdruck bringt, so ist es, daß sie allein aus denen sich rekrutieren, die Kraus selber geistig erst ins Leben gerufen, die er in ein und demselben Akt zeugte und überzeugte. Bestimmen kann sein Zeugnis nur die, denen es Zeugung nie werden kann.

Höchst folgerecht, wenn der verarmte, reduzierte Mensch dieser Tage, der Zeitgenosse, nur noch in jener verkümmertsten Form: als Privatmann, im Tempel der Kreatur eine Freistatt verlangen darf. Wieviel Verzicht und wieviel Ironie liegt in dem sonderbaren Kampfe für die »Nerven«, die letzten Wurzelfäserchen des Wieners, an denen Kraus noch Muttererde entdecken konnte. »Kraus«, schreibt Robert Scheu, »hatte einen großen Gegenstand entdeckt, der nie zuvor die Feder eines Publizisten in Bewegung gesetzt hat: Die Rechte der Nerven. Er fand, daß sie ein ebenso würdiger Gegenstand einer begeisterten Verteidigung seien wie Eigentum, Haus und Hof, Partei und Staatsgrundgesetz. Er wurde der Anwalt der Nerven und nahm den Kampf gegen die kleinen Belästiger des Alltags auf, aber der Gegenstand wuchs ihm unter den Händen, er wurde zum Problem des Privatlebens. Es ist zu verteidigen gegen Polizei, Presse, Moral und Begriffe, schließlich überhaupt gegen den Nebenmenschen, immer neue Feinde zu entdecken, wurde sein Beruf.« Wenn irgendwo, tritt hier das seltsame Wechselspiel zwischen reaktionärer Theorie und revolutionärer Praxis zutage, dem man bei Kraus allerorten begegnet. In der Tat, das Privatleben gegen Moral und Begriffe zu sichern in einer Gesellschaft, die die politische Durchleuchtung von Sexualität und Familie, von wirtschaftlicher und physischer Existenz unternommen hat, in einer Gesellschaft, die sich anschickt, Häuser mit gläsernen Wänden zu bauen, deren Terrassen sich tief in die Stuben hineinziehen, die nun schon keine Stuben mehr sind – diese Parole wäre die reaktionärste, wäre es nicht gerade dasjenige Privatleben, das im Gegensatze zum bürgerlichen dieser gesellschaftlichen Umwälzung streng entspricht, mit einem Worte, das sich selber abmontierende, sich selber offenkundig gestaltende Privatleben der Armen, wie Peter Altenberg, der Aufwiegler, wie Adolf Loos einer war, dessen Schutz Kraus zu seiner Sache gemacht hat. In diesem Kampfe – und nur in ihm – haben denn auch die Anhänger ihren Nutzen, indem nämlich gerade sie über die Anonymität, in die der Satiriker seine Privatexistenz zu schließen versuchte, am selbstherrlichsten sich hinwegsetzen, und nichts gebietet ihnen Einhalt als der Entschluß, mit dem Kraus selber vor die Schwelle tritt, um die Honneurs der Ruine zu machen, in der er »Privatmann« ist.

So entschieden er dann, wenn der Kampf es fordert, sein eigenes Dasein zur öffentlichen Sache zu machen weiß, so rücksichtslos ist er seit jeher jener Unterscheidung persönlicher von sachlicher Kritik entgegengetreten, mit deren Hilfe die Polemik diskreditiert wird und die ein Hauptinstrument der Korruption in unseren literarischen und politischen Verhältnissen ist. Daß Kraus sich an Personen, dem, was sie sind mehr als was sie tun, dem, was sie sagen mehr als dem, was sie schreiben und an ihren Büchern am wenigsten ausrichtet, das ist die Voraussetzung seiner polemischen Autorität, die die Geisteswelt eines Autors, und je nichtiger diese ist um so sicherer, im Vertrauen auf eine wahrhaft prästabilierte, versöhnende Harmonie voll und intakt aus einem einzigen Satzstück, einem einzigen Worte, einer einzigen Intonation zu heben versteht. Wie aber Persönliches und Sachliches nicht nur im Gegner, sondern vor allem in ihm selber zusammenfällt, beweist am besten, daß er nie eine Meinung vertritt. Denn Meinung ist die falsche Subjektivität, die sich von der Person abheben, dem Warenumlauf einverleiben läßt. Nie hat Kraus eine Argumentation gegeben, die ihn nicht mit seiner ganzen Person engagiert hätte. So verkörpert er das Geheimnis der Autorität: nie zu enttäuschen. Es gibt kein Ende der Autorität als dieses: sie stirbt oder sie enttäuscht. Ganz und gar nicht wird sie von dem, was alle anderen meiden müssen, angefochten: der eigenen Willkür, Ungerechtigkeit, Inkonsequenz. Im Gegenteil, enttäuschend wäre, feststellen zu können, wie sie zu ihren Sprüchen kommt – etwa durch Billigkeit oder gar Konsequenz. »Für den Mann«, hat Kraus einmal gesagt, »ist das Rechthaben keine erotische Angelegenheit, und er zieht das fremde Recht dem eigenen Unrecht gut und gern vor.« Darin sich männlich zu bewähren, ist Kraus versagt; sein Dasein will es, daß bestenfalls die fremde Rechthaberei sich seinem eigenen Unrecht entgegensetzt, und wie recht hat er dann, an ihm festzuhalten. »Viele werden einst Recht haben. Es wird aber Recht von dem Unrecht sein, das ich heute habe.« Das ist die Sprache echter Autorität. Der Einblick in ihr Wirken darf nur auf Eines stoßen: den Befund, daß sie sich selbst im gleichen Grad verbindlich, gnadenlos verbindlich ist wie den andern, daß sie nicht müde wird, vor sich – vor andern niemals – zu zittern, daß sie kein Ende findet, sich selbst zu genügen, vor sich selber sich zu verantworten und daß diese Verantwortung niemals aus der privaten Konstitution, ja selbst den Grenzen menschlichen Vermögens ihre Gründe nimmt, sondern immer nur aus der Sache, sie mag so ungerecht, privat betrachtet sein, wie sie wolle.

Kennzeichen solcher unumschränkten Autorität ist seit jeher die Vereinigung legislativer und exekutiver Gewalt. Sie ist aber nirgends inniger als in der »Sprachlehre«. Daher ist diese bei Kraus der entschiedenste Ausdruck seiner Autorität. Unerkannt wie Harun al Raschid durchstreift er bei Nacht die Satzbauten der Journale und hinter der starren Fassade der Phrasen späht er ins Innere, entdeckt er in den Orgien der »schwarzen Magie« die Schändung, das Martyrium der Worte: »Ist die Presse ein Bote? Nein: das Ereignis. Eine Rede? Nein, das Leben. Sie erhebt nicht nur den Anspruch, daß die wahren Ereignisse ihre Nachrichten über die Ereignisse seien, sie bewirkt auch diese unheimliche Identität, durch welche immer der Schein entsteht, daß Taten zuerst berichtet werden, ehe sie verrichtet werden, oft auch die Möglichkeit davon, und jedenfalls der Zustand, daß zwar Kriegsberichterstatter nicht zuschauen dürfen, aber Krieger zu Berichterstattern werden. In diesem Sinne lasse ich mir gern nachsagen, daß ich mein Lebtag die Presse überschätzt habe. Sie ist kein Dienstmann – wie könnte ein Dienstmann auch so viel verlangen und bekommen —, sie ist das Ereignis. Wieder ist uns das Instrument über den Kopf gewachsen. Wir haben den Menschen, der die Feuersbrunst zu melden hat und der wohl die untergeordnetste Rolle im Staat spielen müßte, über die Welt gesetzt, über den Brand und über das Haus, über die Tatsache und über unsere Phantasie.« Autorität und Wort gegen Korruption und Magie – so sind in diesem Kampf die Parolen verteilt. Es ist nicht müßig, ihm die Prognose zu stellen. Niemand, und Kraus am wenigsten, kann der Utopie einer »sach­lichen« Zeitung, dem Hirngespinst einer »unparteiischen Nachrichten­übermittlung« sich überlassen. Die Zeitung ist ein Instrument der Macht. Sie kann ihren Wert nur von dem Charakter der Macht haben, die sie bedient; nicht nur in dem, was sie vertritt, auch in dem, wie sie es tut, ist sie ihr Ausdruck. Wenn aber der Hochkapitalismus nicht nur ihre Zwecke, sondern auch ihre Mittel entwürdigt, so ist eine neue Blüte paradiesischer Allmenschlichkeit von einer ihm obsiegenden Macht so wenig zu gewärtigen, wie eine Nachblüte goethescher oder claudiusscher Sprache. Von der herrschenden wird sie zu allererst darin sich unterscheiden, daß sie Ideale, die jene entwürdigte, außer Kurs setzt. Genug, um zu ermessen, wie wenig Kraus bei solchem Kampf zu gewinnen oder zu verlieren, wie unbeirrt die »Fackel« ihn zu erleuchten hätte. Den immer gleichen Sensationen, mit denen die Tagespresse ihrem Publikum dient, stellt er die ewig neue »Zeitung« gegenüber, die von der Geschichte der Schöpfung zu melden ist: die ewig neue, die unausgesetzte Klage.