Nachahmung - Nachahmung der Natur
Nach diesen allgemeinen Anmerkungen über die Natur der Nachahmungen, müssen wir sie besonders in der Anwendung auf die schönen Künste betrachten. Nach dem Urteil einiger Kunstrichter ist in diesen Künsten alles Nachahmung; sie sind aus Nachahmung entstanden und ihr Wesen besteht in Nachahmung der Natur, ihre Werke aber gefallen bloß deswegen, weil die Nachahmung glücklich geraten ist und weil wir ein Wohlgefallen an der Ähnlichkeit haben, die wir zwischen dem Original und der Nachahmung entdecken. In diesem Urteil ist etwas wahres, aber noch mehr falsches.
Die zeichnenden Künste scheinen die einzigen zu sein, die aus Nachahmung der Natur entstanden sind. Aber Beredsamkeit, Dichtkunst, Musik und Tanz sind offenbar aus der Fülle lebhafter Empfindungen entstanden und der Begierde sie zu äußern, sich selbst und andere darin zu unterhalten. Die ersten Dichter, Sänger und Tänzer haben unstreitig wirkliche, in ihnen vorhandene, nicht nachgeahmte Empfindungen ausgedrückt. Und wir haben die unsterblichen Werke des Demosthenes oder Ciceros keiner Nachahmung der Natur, sondern der heftigen Begierde Freiheit und Recht zu verteidigen, zu danken. Freilich geschiehet es oft, dass der Künstler, der den Ausdruck seiner Empfindung oder die Erweckung einer Leidenschaft in anderen zum Zweck hat, ihn dadurch zu erreichen sucht, dass er Szenen der Natur schildert: aber darin das Wesen der schönen Künste zu setzen, heißt ein einzeles Mittel, mit der allgemeinen Absicht verwechseln.
Dass die Werke der Kunst wegen der glücklichen Nachahmung gefallen, ist eben so wenig allgemein wahr. Oft zwar entsteht das Vergnügen, das wir an solchen Werken haben, aus der Vollkommenheit der Nachahmung; aber wenn das Stöhnen eines Philocktets oder das Jammern einer Andromache uns Thränen auspreßt, so denken wir an das Elend, das sie fühlen und nicht an die Kunst der Nachahmung. Diese kann gefallen, aber sie macht uns nicht weinen. Das Erstaunen das uns ergreift, wenn wir den Achilles gegen die Elemente selbst streiten sehen, wie sollte dieses aus Bewunderung der Nachahmung entstehen. Die Sache selbst setzt uns in Erstaunen, die Vollkommenheit der Nachahmung aber, erweckt bloß Wohlgefallen. Nicht Raphael, sondern Gerhard Dow oder Teiniers oder ein anderer Holländer, wäre der erste Maler der neueren Zeiten, wenn das Wesen der Kunst in der Nachahmung bestünde und das bloße Vergnügen, das sie uns macht, aus Ähnlichkeit des Nachgeahmten herrührte.
Und doch empfehlen alle Kunstrichter vom Aristoteles an bis auf diesen Tag, dem Künstler die Nachahmung der Natur. Sie haben auch recht, aber man muss sie nur recht verstehen. Wer dem Künstler dieses zur Grundregel vorschreiben wollte »er soll jeden Gegenstand, der ihm in der Natur gefällt, nachahmen, damit er durch Ähnlichkeit seines Werks mit dem nachgeahmten Gegenstand gefalle« oder, »er soll deswegen schildern, weil ähnliche Schilderungen gefallen, ohne seine Arbeit auf einen höheren Zweck zu richten« der würde die besten Werke des Genies zu bloßen Spielereien machen, die ersten Künstler würden, in dem sie jenem Grundsatze folgten, mit der Natur spielen, wie Kinder spielen, indem sie ernsthafte Handlungen zum Zeitvertreib nachäffen. Der Grundsatz der Nachahmung der Natur insofern er ein allgemeiner Grundsatz für die schöne Kunst ist, muss also verstanden werden. »Da der Künstler ein Diener der Natur ist [s. Künste], und mit ihr einerlei Absicht hat, so brauche er auch ähnliche Mittel zum Zweck zu gelangen. Da diese erste und vollkommenste Künstlerin zu Erreichung ihrer Absichten so vollkommen richtig verfährt, dass es unmöglich ist, etwas besseres dazu auszudenken, so ahme er ihr darin nach.«
Zu dieser Nachahmung der Natur gelangt man nicht durch unüberlegtes Abschildern einzelner Werke; sie ist die Frucht einer genauen Beobachtung der sittlichen Absichten, die man in der Natur entdeckt und der Mittel, wodurch sie erreicht werden. Dadurch erfährt der Künstler durch was für Mittel die Natur Vergnügen und Missvergnügen in uns erweckt und wie wunderbar sie bald die eine, bald die andere dieser Empfindungen ins Spiel setzt, um auch den sittlichen Menschen auszubilden und ihn dahin zu bringen, wo sie ihn haben will. Aus genauer aber mit scharfem Nachdenken verbundener Beobachtung der Natur lernet der Künstler alle Mittel kennen, auf die Gemüter der Menschen zu wirken; da entdeckt er die wahre Beschaffenheit des Schönen und des Guten, in ihren so mannigfaltigen Gestalten; da lernet er den wahren Gebrauch von allen in den äußerlichen Gegenständen liegenden Kräften zu machen. Kurz, die Natur ist die wahre Schule in der er die Maximen seiner Kunst lernen kann und wo er durch Nachahmung ihres allgemeinen Verfahrens, die Regeln des seinigen zu entdecken hat.
Aber außer dieser allgemeinen Nachahmung der Natur hat der Künstler, nicht immer, aber in mancherlei Fällen, sie in ihren besonderen Werken nachzuahmen. Denn gar oft hat er wirklich vorhandene Gegenstände zu schildern, weil sie zu seinen Zwecke nötig sind. Hier aber muss er sich nicht als ein ängstlicher Kopist, noch als ein Nachäffer, sondern als ein freier und selbstmitwirkender Nachfolger betragen. Er muss nicht jeden in dem Original vorhandenen Umstand, nicht jede Kleinigkeit nachmachen, die zu seinem besonderen Zweck nicht dient. Allgemein vereinigt die Natur in ihren Werken mehrere Absichten und wir treffen in der ganzen Schöpfung schwerlich etwas an, das nur zu einem einzigen Zwecke dient. Der Künstler aber hat einen natürlichen Gegenstand nur zu einem Zwecke gewählt und fehlt, wenn er aus demselben auch das, was ihm nicht dient, nachahmt. Findet er z.B. nötig, eine rührende Szene vorzustellen und trifft er sie in der Natur an, so lasse er alles daraus weg, was nicht rührend ist, wann er es gleich in der Natur findet. Hat er nötig einen von heftigem Schmerz ergriffenen Menschen abzubilden, so wähle er ihn in der Natur; aber das Wiedrige oder gar Ekelhafte, dass sich oft in den Gesichtszügen und Gebärden starkleidender Personen findet, braucht er nicht nachzuahmen; es ist seinem Zweck nicht gemäß.
So hat der große Meister, der den Laocoon verfertigt hat, das Wiedrige dieser grausamen Szene weißlich aus der Nachahmung weggelassen.
Es ist also kein guter Rat den Voltaire gibt, in einem rührenden Drama auch lächerliche Szenen nicht zu verwerfen, aus dem Grunde, weil dergleichen Vermischung bisweilen in der Natur vorkomme. Dieses hieße die Natur knechtisch und unüberlegt nachahmen. Der Künstler hat nie alle Absichten der Natur, sondern nur eine davon und was außer dieser einen liegt, geht ihn nichts an. Wenn man zu diesen Anmerkungen noch das hinzu tut, was in dem Artikel über das Ideal erinnert worden, so wird man sich eine richtige Vorstellung von der freien Nachahmung der Natur machen können, die dem Künstler in seinen Schilderungen empfohlen wird.