Nachlässigkeit. (Schöne Künste) Es gibt in Bearbeitung der Werke der Kunst eine Nachlässigkeit, die Unvollkommenheit und Mangel zeugt und eine andere von guter Wirkung, die deswegen von Cicero negligentia diligens, die wohl überlegte Nachlässigkeit genannt wird: jene ist wirklich, liegt im Künstler und verstellt sein Werk; diese ist nur scheinbar von guter Wirkung in dem Werke. Die wirkliche, tadelhafte Nachlässigkeit ist Mangel des Fleißes und der Genauigkeit jedem Teile des Werks die in Rücksicht auf das Ganze ihm zukommende Vollkommenheit zu geben; sie entsteht aus dem Nachlassen der Bestrebung richtig zu handeln oder zu verfahren. Es ist nicht Nachlässigkeit, wenn in einer Landschaft entfernte Gegenstände weder mit Fleiß ausgezeichnet, noch durch Licht und Schatten und alle Mittelfarben naher Gegenstände ausgemalt sind. Wenn der Maler die Landschaft so malt, wie sie ihm in der Natur erscheint, so muss man ihn deswegen, dass nicht jedes für sich deutlich und bestimmt ist, keiner Nachlässigkeit beschuldigen. Nachlässig aber ist der, der aus Trägheit oder aus Leichtsinn, entweder dem Ganzen oder einem Teil, nicht alle Vollkommenheit gibt, die sie nach der Absicht haben sollten: auch der Stolz des Schriftstellers, wie einer unserer Kunstrichter wohl anmerkt1, der für seine Leser, nachdem er einmal im Besitz ihrer Bewunderung zu sein glaubt, alles für gut genug achtet, verleitet zur Nachlässigkeit.
Die Nachlässigkeit betrifft entweder die Materie, die Gedanken und Bilder, die der Künstler zu seinem Werk zu erfinden und zu wählen hat oder bloß die Darstellung, den Ausdruck und die Ausbildung derselben. Im ersten Falle kann sie leicht unreife, nur halb richtige, unbestimmte Gedanken, übel gewählte Bilder hervorbringen; im anderen Falle wird der Künstler halb unverständlich oder verworren oder er sagt wohl gar etwas anders als er gedacht hat. Es lässt sich kaum ausmachen, welche der beiden Arten der Nachlässigkeit schlimmer sei; vor beiden soll sich der Künstler so viel immer möglich ist, in Acht nehmen.
Junge, im Denken und Erfinden noch wenig geübte Künstler, sind deswegen in der Wahl oft nachlässig; weil sie ihrem Gefühl und dem ersten Eindruck, den die Sachen auf sie machen, zu viel trauen. Sie halten etwas für wahr, weil sie die Sachen nur einseitig oder aus einem zu eingeschränkten Gesichtspunkte, betrachten; oder für schön, weil sie noch höhere Schönheit in derselben Art, noch nicht gefühlt haben.
Dieses zeugt eine Zuversichtlichkeit aus welcher die Nachlässigkeit in der Wahl entsteht. Das Wahre hat, wie das Schöne und Gute, mehrere Seiten und ändert gar oft seine Natur nach der Verschiedenheit der Gesichtspunkte. Es gehört lange Erfahrung und viel Übung dazu, sich überall in den besten oder eigentlichsten Gesichtspunkt zu setzen, aus dem die Sachen am richtigsten zu beurteilen sind. Darum kann man junge Künstler und Kunstrichter nicht genug vor dem Leichtsinn in Beurteilung, der die Nachlässigkeit in der Wahl hervorbringt, warnen. Mancher gute Künstler und Schriftsteller würde sehr viel dafür hingeben, wenn er seine ersten aus Übereilung hingesetzten Gedanken wieder zurücknehmen könnte. Zuerst ist es ihnen unbegreiflich, wie andere daran etwas aussetzen können; nachher aber, wenn sie erst mehr Kenntnis der Sachen bekommen haben, begreifen sie nicht mehr wie sie selbst so zuversichtlich bei der Sache haben sein können.
Die Nachlässigkeit in Darstellung und Bearbeitung der Gedanken hat oft ein zu großes Feuer der Begeisterung zum Grunde, in welcher man alles bestimmt, lebhaft, schön sieht oder empfindet und sich einbildet, dass man es eben so ausdrücke, obgleich der Ausdruck gar sehr weit hinter der Empfindung zurück bleibt. Dagegen verwahrt man sich durch eine fleißige Ausarbeitung, wovon anderswo gesprochen worden.2
Die Nachlässigkeiten, die sich in einem sonst mit Fleiß und guter Überlegung verfertigten Werke, in wenigen einzelnen Stellen finden, machen zwar allemal um so mehr widrige Flecken, je schöner und vollkommener das Werk überhaupt ist; aber sie verdienen ei nige Nachsicht, weil es schwerlich irgend einem Menschen gegeben worden; nie nachzulassen. So sehr es also gut zu heißen ist, wenn ein Kunstrichter, nachdem er einem guten Werk hat Gerechtigkeit wiederfahren lassen, die nachlässigen Stellen desselben mit Bescheidenheit rügt; so ungerecht und unverständig ist es, wenn er in einem solchen Werk bloß die Nachlässigkeiten aufsucht und sie dermaßen ahndet als wenn das ganze Werk durchaus schlecht wäre. Ein Vergehen, dessen sich viel Kunstrichter, entweder aus Parteilichkeit oder aus Eitelkeit nur gar zu oft schuldig machen.
Die überlegte Nachlässigkeit, deren wir oben erwähnt haben, besteht darin, dass unwichtige, aber doch des Zusammenhanges oder anderer Umstände halber notwendige Teile mit wenig Fleiß oder ohne Genauigkeit hingeworfen werden, damit die Aufmerksamkeit sich nicht darauf verweile. So behandelt der Maler gar oft die Nebensachen etwas nachlässig, damit es ihm nicht gehe, wie dem Gerhard Dow oder dem Franz Mieris, deren Gemälde gar oft die Bewunderung unverständiger Liebhaber in Nebensachen erhalten haben, da die Hauptsachen unbemerkt geblieben sind. Auf eine ähnliche Weise geht es dem ältern Adam, von welchem in Sans-Souci vier Gruppen, die vier Elemente vorstellend, sind. Die meisten Menschen sehen in der Gruppe, die das Wasser vorstellt, bloß das fein und künstlich in Marmor ausgearbeitete Fischernez und werden davon so eingenommen, dass sie auf das Ganze und auf die Erfindung gar nicht achten. Also wäre es viel besser gewesen, das Nez nachlässiger zu bearbeiten. So findet man, dass die alten Bildhauer und Steinschneider gar oft die Nebensachen mit Nachlässigkeit behandelt haben. Der Redner, der in einer Wiederlegung schwache Nebenbeweise seines Gegners mit eben der Genauigkeit zergliedern und wiederlegen würde als die Hauptbeweise, würde seiner Sache sehr schaden.
Eines der größten Geheimnisse der Kunst besteht darin, dass die Gemüter durch die Kraft und Richtigkeit in den Hauptsachen so sehr eingenommen werden, dass die Nachlässigkeit in Nebensachen ihnen nicht merklich werden. Oft stellen wenige Meisterzüge ein Bild mit so großer Lebhaftigkeit vor unser Aug, dass wir selbst, ohne es zu wissen, das übrige, was zur Genauigkeit der Nebensachen nötig ist, hinzudenken und gar nicht merken, dass etwas fehlt.
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1 S. Schlegels Gatteux in den Anmerkungen über das 5 Kap. des 2ten Th.
2 S. Ausarbeitung.