3. Nachwirkung der Schopenhauerschen Philosophie
Goethe hatte schon 1813 in dem jungen Schopenhauer einen »merkwürdigen« und »geistreichen« Mann erkannt, aber zugleich den Zweifel ausgesprochen, ob »die Herren vom Metier ihn in ihrer Gilde passieren lassen« würden. Bereits unser Überblick über das Leben des Philosophen hat gezeigt, dass Goethes Zweifel einer richtigen Voraussicht entsprang. Bis zu seinem 67. Lebensjahre (1854) hatte Schopenhauer nur ganz vereinzelte, freilich um so wärmere Anhänger gefunden. Zu den frühesten gehören, außer dem bereits genannten von Doß, der Magdeburger Oberlandesgerichtsrat Dorguth (seit 1843), der Journalist E. O. Lindner (• 1867 als Redakteur der Vossischen Zeitung), der Leipziger Sprachlehrer David Asher (• 1890), der junge Jurist K. Bähr in Dresden (Preisarbeit von 1857); namentlich aber der Berliner Privatgelehrte Julius Frauenstädt (1813 - 1879), der durch seine Briefe über die Schopenhauersche Philosophie (1854) in ähnlicher Weise zu deren Verbreitung beitrug, wie seinerzeit Reinhold zu der der Kantischen, übrigens in einzelnen Punkten von ihm abweicht, besonders in den Neuen Briefen über die Schopenhauersche Philosophie (1876). Nachdem so das Eis gebrochen war, haben Schopenhauers Lehren längere Zeit einen ziemlich bedeutenden Einfluß auf die deutsche Kultur und Literatur ausgeübt und die pessimistische Weltanschauung in zahlreichen Gemütern befördern helfen. Er wurde verstärkt durch die großen schriftstellerischen Vorzüge Schopenhauers: durchsichtige Klarheit der Darstellung, möglichste Vermeidung schwieriger Systematik und Terminologie, gewandte Verwendung seiner Belesenheit in der gesamten Weltliteratur, und nicht zum wenigsten durch das Persönliche seines Stils und die Invektiven gegen die philosophischen »Größen« Aus den gleichen Gründen war der Eindruck auf die philosophisch interessierte Laienwelt weit stärker als auf die Philosophen von Fach. Soweit die letzteren »Schopenhauerianer« wurden, sind sie es entweder nicht geblieben oder sie haben die Schopenhauersche Lehre mit anderen Elementen versetzt.
Von diesen Jüngeren nennen wir: den Gymnasiallehrer J. Bahnsen (1830 - 1881), der sie in eigenartiger Weise zu einer individualistischen »Realdialektik« umbildete (Beiträge zur Charakterologie 1867, Der Widersprach im Wissen und Wesen der Welt 1880, Wie ich wurde, was ich ward, nebst neuen Stücken aus dem Nachlaß, herausg. von R. Louis, München 1905), von Gwinner (1825 - 1917), den Mediziner Alfons Bilharz (geb. 1836 in Sigmaringen), den bekannten Afrikareisenden Karl Peters (Willenswelt und Weltwille 1883), der sie mit Hartmannschen Elementen verband. Auch Richard Wagner (1813 - 1883), anfangs Feuerbachianer (Kunstwerk der Zukunft 1850, Oper und Drama 1851), hat sich später zu Schopenhauer bekannt, dem er schon 1854 seinen Ring der Nibelungen zusandte (ohne übrigens Gegenliebe bei ihm zu finden), und dessen Lehre er dann zur »Grundlage aller ferneren geistigen und sittlichen Kultur« gemacht wissen wollte. Der bedeutendste unter den Anhängern Schopenhauers jedoch war der einzige Universitätsprofessor unter ihnen, Paul Deussen (1845 bis 1919), zugleich derjenige, der sich am meisten von Extremen frei gehalten hat. Seine Elemente der Metaphysik (1877, 5. Aufl. 1913) versuchen eine Synthese von Schopenhauer, Vedanta - Philosophie (zu deren besten Kennern Deussen zählte, vgl. I S. 10), Kantianismus, den er im Sinne Schopenhauers auffaßt, und vergeistigtem Christentum; vgl. auch seine Philosophie der Bibel (Lpz. 1913). Noch über Schopenhauer hinaus ging Ph. Mainländer (eigentlich Philipp Batz, 1841 - 1876, Kaufmann in Offenbach) in seiner Philosophie der Erlösung (1876, 2. Aufl. 1894). Danach ist die Welt der Ausdruck eines - sterbenden Gottes, ihr ganzes Ziel das Streben zum Nichtsein, welches wir unterstützen müssen durch geschlechtliche Enthaltsamkeit oder freiwilligen Tod. Letzteren hat Mainländer denn auch selbst konsequenterweise gewählt, ebenso wie ungefähr drei Jahrzehnte nach ihm der junge Wiener Otto Weininger (1880 - 1903), der mit seinem antifeministischen Buche Geschlecht und Charakter (14. Aufl. 1913) vorübergehend großes Aufsehen erregte. Von Schopenhauer stark berührt sind endlich auch Eduard von Hartmann und Friedrich Nietzsche, die jedoch ihrer Eigenart wegen im Laufe der nun folgenden letzten Abteilung unseres Buches besonders behandelt werden sollen.