3. Psychologie


Wie die Synechologie in die Naturphilosophie, so geht die Eidolologie über in Herbarts Haupt- und Grundwissenschaft, deren Verallgemeinerung ihn offenbar überhaupt erst zu den Abstraktionen seiner Metaphysik gebracht hat: die Psychologie. Auch unser eigenes Ich, die sogenannte »Seele«, ist ein an sich unerkennbares Reale, das bloß den Boden für das Zusammensein der mannigfach wechselnden, einander hemmenden und fördernden Vorstellungen abgibt. Die Psychologie ist demnach die Lehre von den Selbsterhaltungen der Seele oder vielmehr ihrer Vorstellungen. Denn die Seele selbst ist eine absolute einfache Substanz, deren Beschaffenheit uns immer unbekannt bleiben wird; wir merken ihr Vorhandensein nur an ihrer Selbsterhaltung gegen die Störungen von außen, d.h. eben an ihren Vorstellungen. Aufgabe einer wissenschaftlichen, »exakten« Psychologie, wie Herbart sie erstrebt, ist nun eine mathematisch begründete Statik und Mechanik dieser Vorstellungen. Eine solche ist möglich, wem man die Vorstellungen als Kräfte auffaßt, die einander je nachdem hemmen, verdunkeln, im Gleichgewicht halten oder fördern. Keine Vorstellung wird ganz und für immer vernichtet, sondern nur vorübergehend unter die Schwelle des Bewußtseins herabgedrückt, über die sie sich bei gegebener Gelegenheit wieder erhebt. Im Bewußtsein herrschend ist eine Vorstellung, wenn sie durch keine andere gehemmt ist. In der Regel aber findet eine solche Hemmung statt. Gleichartige Vorstellungen verschmelzen, ungleichartige komplizieren sich (z.B. grün und sauer zu dem Bild der Gurke), in beiden Fällen entweder vollkommen oder unvollkommen. Mehr als drei Vorstellungen sind nur selten im Bewußtsein vereinigt. Jede Vorstellung verliert nun um so mehr von ihrer Stärke (Intensität), je stärker die neuauftauchende hemmende Vorstellung ist. So entsteht ein ganzes System von Kräften und Gegenkräften, das den allgemeinen mechanischen und statischen Gesetzen unterliegt, also mathematisch bestimmbar ist. Als »Statik« des Geistes sucht die Psychologie die Gesetze der im Gleichgewicht befindlichen Vorstellungen auf; sie bestimmt z.B. ihre Hemmungssumme, d.h. die Summe dessen, was aus dem Bewußtsein gedrängt wird (= der Summe aller Vorstellungen minus der stärksten), oder das Hemmungsverhältnis, d.h. das Verhältnis, in welchem sich der Verlust auf die verschiedenen Vorstellungen verteilt. Als »Mechanik« des Geistes dagegen erörtert sie den Wechsel oder die Bewegung der Vorstellungen, ihr Aufsteigen und Sinken, ihre Assoziation und Reproduktion, und sucht sie in genaue mathematische Formeln zu kleiden.

Herbart polemisiert gern und oft gegen die im 18. Jahrhundert übliche Lehre von den Seelenvermögen, mit Recht, soweit darunter etwa völlig getrennte Gebiete psychischer Erscheinungen verstanden werden. Denn Vorstellen, Wollen und Fühlen verflechten sich beständig miteinander. Aber ebensowenig darf ihre Eigenart verdunkelt werden. Das vergißt Herbart, indem er alle übrigen seelischen Vorgänge von dem Vorstellungsmechanismus ableitet. Nur die einfachsten Vorstellungen oder Empfindungen (z.B. der Töne, Farben, Gerüche) werden ihm zufolge selbsttätig von der Seele hervorgebracht. Dagegen sind Wille, Gefühl, Begierde, Verstand, Vernunft usw. nur Vorstellungsverhältnisse. »Gefühl und Begierden sind nichts neben und außer den Vorstellungen.« Wird eine Vorstellung zeitweilig unter die Schwelle des Bewußtseins herabgedrückt, so bleibt doch ein Streben vorzustellen zurück. Indem dieses Streben sich gegen Hindernisse »heraufarbeitet«, wird daraus das Begehren (der Trieb), welches Wille heißt, wenn es sich mit der Vorstellung der Erreichbarkeit des Erstrebten verbindet. Der Charakter eines Menschen beruht darauf, dass gewisse Vorstellungsmassen, durch »Apperzeption« (Aufnahme) verwandter herangewachsen, die herrschenden geworden sind und nun die entgegenstehenden niederhalten. Der Wille hängt also von dem Vorstellen ab, Freiheit bedeutet nur Bestimmbarkeit durch verschiedene Motive; Herbart ist entschiedener Determinist. Das Gefühl entsteht, wenn sich eine Vorstellung zwischen zwei gegeneinander wirkenden Kräften im Gleichgewicht erhält, weshalb Gefühle (wie Freude, Trauer u. a.) selten ganz ungemischt sind.

Den physiologischen Sitz der Seele denkt sich Herbart im Gehirn. Hier empfängt sie vermittelst der Zentralnervenbahnen die »Störungen« von außen, d. i. von seiten der in ihrer nächsten Umgebung befindlichen einfachen Realen, gegen die sie, sich selbst erhaltend, in den »Vorstellungen« sich zur Wehr setzt. Neue Vorstellungen üben Reize aus, aber es gibt eine Grenze für deren Stärke, nach dem Gesetze der abnehmenden Empfänglichkeiten. Im übrigen hat sie weder Ort noch Zeit, und ihre Unsterblichkeit »versteht sich«, wegen der Zeitlosigkeit alles Realen, »von selbst« Gegenüber einer unwissenschaftlichen Psychologie, die in gefühlsmäßigen Betrachtungen oder bloßer Beschreibung seelischer Zustände aufging, hat Herbart den verdienstlichen Versuch gemacht, den bunten Wechsel der psychischen Vorgänge als die gesetzmäßige Kombination und Assoziation elementarer Vorgänge (der Empfindungen und Vorstellungen) zu begreifen. Indessen, so sehr auch der Ernst und der Scharfsinn anzuerkennen sind, mit denen er eine streng naturwissenschaftliche Erklärung des geistigen Lebens zu geben versuchte: die Mathematik ist doch nur für bestimmte, eng begrenzte Gebiete der Psychologie - wir erinnern u. a. an ihre schon in Kants Kritik der Urteilskraft hervorgehobene Unentbehrlichkeit zur Bestimmung der musikalischen Tonintervalle - ein nicht zu entbehrendes Hilfsmittel; sie versagt beim heutigen Stand der Erkenntnis, wenn man mit ihr die Probleme der vielgestaltigen Welt der Gefühle zu lösen unternimmt. Herbarts Psychologie ist denn auch in ihrem mathematischen Teile selbst von seinen Anhängern heute fast allgemein aufgegeben worden.


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