§ 46. Leben, Schriften, Charakter.


Johann Gottlieb Fichte ward als Sohn eines Bandwirkers am 19. Mai 1762 zu Rammenau in der sächsischen Oberlausitz geboren. Er half seinem Vater am Webstuhl und hütete die Gänse. Ein Edelmann der Umgegend, der durch Zufall auf die Begabung, namentlich das Predigertalent des Knaben aufmerksam geworden war, ermöglichte ihm den Besuch der Klosterschule Pforta (1774-1780). In Jena und Leipzig, wo der junge Fichte anfangs Theologie studierte, fühlt er den Beruf eines Verkünders der freien Wissenschaft immer stärker in sich erwachen. Die orthodoxe Landeskirche hatte keine Kanzel für ihn frei. Aus peinlicher äußerer Lage durch eine Hauslehrerstelle in Zürich gerettet, lernt er hier Lavater, Pestalozzi und seine spätere, ihn ganz verstehende Frau, eine Nichte Klopstocks, kennen. In Leipzig (1790) erfährt sein Denken eine gänzliche Revolution durch die »ebenso herzerhebende wie kopfzerbrechende« Philosophie Kants, den er im folgenden Jahre in Königsberg aufsuchte. Erlegte ihm das Manuskript seiner in fünf Wochen niedergeschriebenen philosophischen Erstlingsschrift Versuch einer Kritik aller Offenbarung *) vor und gewann dadurch seine Zuneigung. Durch sie wurde er mit einem Schlage berühmt, da man die durch ein Versehen [oder eine Spekulation?] des Verlegers anonym erschienene Schrift allgemein für ein Werk Kants selbst hielt, dessen Religionsphilosophie man damals (1792) gerade mit Spannung erwartete. Von Zürich aus, wo er nun seinen häuslichen Herd gründete, schrieb er im folgenden Jahre, lebhaft angeregt durch die Grundgedanken der Französischen Revolution, seine in »Heliopolis, im letzten Jahre der alten Finsternis (1793)« anonym erschienene Rede: Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas und: Beiträge zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution (ebenfalls anonym). 1794 als Nachfolger Reinholds nach Jena berufen, entfaltete er dort eine glänzende Lehr- und schriftstellerische Tätigkeit, geriet jedoch bald durch seinen energischen, aber heftigen Charakter mit seinen Kollegen, namentlich den theologischen wegen populärer Vorlesungen am Sonntag, wie auch mit einem Teile der Studenten, deren rohe Burschensitten er zu reformieren suchte, in Zwist. Seine Entlassung von der Universität führte der »Atheismusstreit« herbei. Wegen seines 1798 in seiner Zeitschrift, dem gemeinschaftlich mit Niethammer herausgegebenen Philosophischen Journal, veröffentlichten Aufsatzes von Forberg: Entwicklung des Begriffs der Religion, dem er selbst eine Abhandlung Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung vorausgeschickt hatte, in der er Gott mit der sittlichen Weltordnung gleichsetzte, wurde er von der kursächsischen Regierung des Atheismus angeklagt. Er verteidigte seinen Standpunkt mit gewohntem Feuer in zwei Schriften, der Appellation an das Publikum und dem Gerichtlichen Verantwortungsschreiben (1799), und drohte im Falle eines Verweises mit seinem und anderer Amtsgenossen Fortgang von Jena. Dadurch führte er seine Entlassung aus dem Lehramte herbei, zu der auch Goethe seine Zustimmung gab. Er ging nun nach Berlin, wo er nicht bloß Duldung, sondern gute Aufnahme, zahlreiche Zuhörer und in den Romantikern (Schleiermacher, Tieck, den beiden Schlegel) einen Kreis anregender und geistvoller Freunde gewann. Im Sommer 1805 bekleidete er vorübergehend eine Professur in dem damals preußischen Erlangen, 1806-07 kurze Zeit in Königsberg, wo er Pestalozzi studierte. Im Winter 1807-08 hielt er, unter dem Trommelwirbel der französischen Garnison, in der Berliner Akademie seine berühmten Reden an die deutsche Nation, in denen er mit flammender Begeisterung die Wiedererneuerung der Nation durch eine von Grund aus veränderte Erziehung forderte. 1810 wurde er Professor, 1811 der erste gewählte Rektor an der neugegründeten Berliner Universität. 1813 wollte er als religiöser Redner mit ins Feld ziehen, aber es kam nicht dazu. Ein Opfer des Krieges wurde er gleichwohl, indem er am 29. Januar 1814 an einem ansteckenden Fieber starb, das seine Frau sich bei der Pflege Verwundeter in den Lazaretten zugezogen hatte und auf ihn übertrug. Zehn Jahre nach seinem Tode wurde der Wiederabdruck der Reden an die deutsche Nation verboten!

Die für Fichtes Philosophie grundlegenden Schriften sind die in der Jenenser Periode (1794-1799) verfaßten: 1. Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre 1794 (nebst zwei 1797 verfaßten neuen Einleitungen dazu). Eine neue Darstellung erschien im Jahre 1801, wie er denn überhaupt bis ans Ende seines Lebens an der inhaltlichen und formalen Vollendung dieses seines Hauptwerks gearbeitet hat, ohne sie zustande zu bringen. 2. Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der W.-L. 1796. 3. Das System der Sittenlehre nach Prinzipien der W.-L. 1798.

Im Jahre 1800 folgen dann die populäre Darstellung seines Systems in Die Bestimmung des Menschen und die politische Schrift: Der geschlossene Handelsstaat. Eine gewisse Umformung seiner ursprünglichen Lehre enthalten die späteren Schriften: Über das Wesen des Gelehrten 1805, Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters 1806, Anweisung zum seligen Leben 1806, Die Tatsachen des Bewußtseins 1810; noch mehr die nachgelassenen Werke, die er selbst nicht mehr hat drucken lassen. Wir haben uns in erster Linie an die erste Gestalt von Fichtes System, in der es auf die Zeitgenossen gewirkt hat, zu halten. Fichte erscheint als Mensch größer denn als Philosoph. Seine Grundeigenschaft ist die unbeugsame, zuweilen in Starrheit und Eigensinn ausartende Willensenergie. Sie offenbart sich auch in seiner Lehre, entsprechend seinem Worte: Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist. Sein philosophisches System entspringt dem Innersten Kerne seines Wesens. »Zur Philosophie gehört Selbständigkeit, und diese kann man nur sich selbst geben.« Die »Wissenschaftslehre« soll »den ganzen Menschen erschöpfen«, sie läßt sich daher auch nur mit der »Totalität seines ganzen Vermögens« erfassen, und nur durch den »Geist«, nicht nach dem »Buchstab« verstehen, wie er mit verächtlichem Hinblick auf die »buchstabengläubigen« Kantianer sagt. Fichte ist kein Mann des beschaulichen Denkens. »Zu einem Gelehrten von Metier habe ich gar kein Geschick; ich mag nicht bloß denken, ich will handeln.« Sein Vortrag »war vortrefflich, bestimmt, klar; ich wurde ganz von dem Gegenstande hingerissen und mußte gestehen, dass ich nie eine ähnliche Vorlesung gehört hatte« (Steffens). Er predigt seine Philosophie, er dringt auf Überzeugung, oft herrisch und gewaltsam. Eine seiner Schriften, den Sonnenklaren (!) Bericht über das Wesen der neuesten Philosophie (1801), bezeichnet er schon auf dem Titelblatte als einen »Versuch, den Leser zum Verstehen zu zwingen«. Das Wesen, das in seinem trotzigen Gang, seinem strafenden Auge lag, - »Furcht«, sagt er einmal, »bleibt niederträchtig, und diese kommt den rechten Mann wohl nie an« - trägt sich auch in seinen Schriften aus. Wenn man von der Lektüre Kants kommt, muß man sich erst an die ganz andere Art Fichtes gewöhnen, dessen systematische Schriften an die Scholastik oder an Spinoza erinnern mit ihrer rein deduktiven Methode, die aus einem »Grundsatze« in einer oft ermüdenden Kette von Folgerungen, neuen Lehrsätzen, verdeutlichenden Wiederholungen und Zusammenfassungen ein ganzes System herausspinnt. Hinreißende Begeisterung dagegen, verbunden mit schwungvoller, aber verständlicher Sprache, kommt in seinen populären Schriften, wie den Reden oder der Bestimmung des Menschen, zum Ausdruck. Die Hoheit, Reinheit und wuchtige Kraft seiner Persönlichkeit wird auch auf denjenigen, der Fichtes philosophisches System als unhaltbar erkennt, ihren Eindruck heute ebensowenig wie zu den Zeiten seines Urhebers verfehlen.

Zur ersten Einführung in Fichtes Gedankenwelt eignet sich am besten: Die Bestimmung des Menschen (wie seine meisten populären Schriften auch bei Reclam erschienen), zur Einführung in sein System: das System der Sittenlehre. Wir wählen im folgenden den systematischen Gang.

 

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*) In der Philosophischen Bibliothek (Band 30) erschienen.


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