§ 47. Grundlagen. Theoretische Wissenschaftslehre.


1. Stellung zu Kant. Fichte schloß sich zunächst an Kant an, den er auch später - abgesehen von vorübergehenden Momenten des Unmuts - über alle anderen Philosophen stellte. Auch seine Lehre will Kritizismus sein, aber »echter, durchgeführter« Kritizismus. Kant sei bei der Tatsache des Bewußtseins stehen geblieben, ohne bis zu dessen letztem Grunde, dem reinen Ich, vorzudringen. Fichte will deshalb die Prinzipien aufsuchen, die »Kants Lehre offenbar zugrunde liegen«, aber bei ihm nur angedeutet sind, und so die Wissenschaft zur Wissenschaft von der Wissenschaft (Wissenschaftslehre) erheben. Er will das System der Metaphysik ausführen, zu dem jener nach seinen eigenen Worten nur die Propädeutik habe liefern wollen. Statt der bescheideneren Bezeichnung »Kritik« erscheint von Fichte an das anmaßlichere Wort »System« auf den Titelblättern der philosophischen Lehrbücher. Das System aber besteht für ihn in der Ableitung alles Vorhandenen aus einem einzigen, schlechthin unbedingten (absoluten) Prinzip: dem Selbstbewußtsein. Kant hat sein eigenes idealistisches Prinzip, dass die Gegenstände sich nach unseren Vorstellungen richten müssen, nach Fichtes Meinung nicht folgerichtig durchgeführt; noch weniger taten dies seine unselbständigen Anhänger. Fichte will den Idealismus vollenden. Kant hat seine Anschauungsformen und Begriffe im Hinblick auf die »Erfahrung« gewonnen; Fichte will sie aus dem Wesen der Intelligenz ableiten, und zwar so vollständig, dass kein Faktor zurückbleiben soll, der nicht als im Selbstbewußtsein wurzelnd nachgewiesen wäre. Kant geht, so präzisiert der Schluß der Abhandlung Grundriß des Eigentümlichen der W.-L. (1795, 2. Aufl. 1802) den Unterschied, von dem »Gegebensein« des Mannigfaltigen der Anschauung in Raum und Zeit, von ihrem »Vorhandensein« im Ich und für das Ich aus; Fichte »deduziert« sie »a priori«, und »nun sind sie im Ich vorhanden«.

Damit vollzieht sich die Wendung vom kritischen zum absoluten Idealismus, von der wissenschaftlichen, kritischen Philosophie, die sich an den tatsächlichen Bestand der Wissenschaften hält und lediglich deren Voraussetzungen und Bedingungen zu entdecken, zuordnen und nachzuprüfen unternimmt, zu einer Philosophie, die, trotz ihres Titels Wissenschaftslehre ohne näheren Zusammenhang mit den positiven Wissenschaften, aus dem bloßen Selbstbewußtsein die gesamte Erfahrung erzeugen will. Wohl weiß auch Fichte, dass »nichts im Gemüte vor der Erfahrung da ist«, aber »die Wissenschaftslehre als Wissenschaft fragt schlechterdings nicht nach der Erfahrung und nimmt auf sie schlechthin keine Rücksicht«, sondern schafft alles aus dem eigenen Ich heraus. Es konnte nicht ausbleiben, dass der innere Widerspruch beider Standpunkte mit der Zeit auch äußerlich zum Ausdruck kam. Kant bezeichnete in einer öffentlichen Erklärung (7. August 1799) Fichtes Wissenschaftslehre als ein gänzlich verfehltes System, das kein Recht habe, sich auf ihn zu berufen, und Fichte nannte ihn daraufhin einen »Dreiviertelskopf«.

2. Grundlage der Fichteschen »Wissenschaftslehre« Die Welt soll als ein System der Vernunft begriffen, d.h. die gesamte Erfahrung aus einem einzigen, absolut ersten, schlechthin unbedingten Grundsatze abgeleitet werden. Dieser Grundsatz ist ein Setzen im eigentlichen Sinne, keine Behauptung, sondern eine Forderung, keine Tatsache, sondern eine Tathandlung, und diese Tathandlung heißt: Setze (denke) dein Ich! Der notwendige Gedankenzusammenhang, der in dem Satze A = A zwischen dem »Wenn A ist« und dem »so ist A« besteht, liegt im Ich. A ist, insofern es im Ich gesetzt wird; mit anderen Worten: Jeder Gegenstand ist nur dadurch, dass er im Bewußtsein erzeugt wird. [Damit ist richtig der Grundkern alles Idealismus bezeichnet.] Der erste »Grundsatz« der Wissenschaftslehre lautet daher: »Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eigenes Sein.« - Dies ursprünglich und schlechthin gesetzte Ich kann aber nur »gesetzt« werden, indem es von einem Nicht-Ich unterschieden wird. So gewiß - A nicht A ist, so gewiß dünkt Fichte sein zweiter Grundsatz: Dem Ich wird schlechthin ein Nicht-Ich entgegengesetzt. - Aus beiden Grundsätzen, dem Satze (Thesis) und seinem Gegensatze (Antithesis), folgt durch Verbindung beider notwendig der dritte (ihre Synthesis): »Ich setze im Ich dem teilbaren Ich ein teilbares Nicht-Ich entgegen.« In dieser ersten oder Grundsynthesis sind alle weiteren denkbaren Synthesen enthalten. »Über diese Erkenntnis hinaus geht keine Philosophie; aber bis zu ihr zurückgehen soll jede gründliche Philosophie; und soweit sie es tut, wird sie Wissenschaftslehre. Alles, was von nun an im Systeme des menschlichen Geistes vorkommen soll, muß sich aus dem Aufgestellten ableiten lassen.«

Selbstverständlich versteht Fichte unter seinem Ich nicht das persönliche Ich dieses oder jenes Individuums, sondern das reine oder absolute Ich, die »Ichheit«, die allgemeine Vernunft, welche gefunden wird durch die intellektuelle Anschauung, die sich selbst zusieht. So werden denn die drei Grundsätze alsbald auch mit logischen Gesetzen und Begriffen in Zusammenhang gebracht. Aus dem ersten folgt der Satz der Identität, die Kategorie der Realität; aus dem zweiten der Satz des Widerspruchs, die Kategorie der Negation; aus dem dritten der Satz des (zureichenden) Grundes, die Kategorie der Limitation (Bestimmung). Aus dem dritten Grundsatz folgt nämlich, dass Ich und Nicht-Ich sich gegenseitig beschränken oder bestimmen:

1. Das Ich setzt sich als bestimmt durch das Nicht-Ich (die Grundlage aller theoretischen Philosophie).

II. Das Ich setzt sich als bestimmend gegenüber dem Nicht-Ich (die Grundlage aller praktischen Philosophie).

3. Die theoretische Wissenschaftslehre (WL.). Das ganze weitere Verfahren der Wissenschaftslehre besteht nun in dem durch jene erste Entwicklung der drei »Grundsätze« bereits vorgezeichneten »dialektischen« Verfahren. Aus der Thesis wächst jedesmal die Antithesis, aus beiden zusammen die Synthesis hervor.

Die theoretische WL. folgt, wie wir soeben sahen, aus dem Satze, dass das Ich sich als bestimmt durch das Nicht-Ich setzt. In diesem synthetischen Satze liegen aber bereits zwei einander entgegengesetzte, nämlich: 1. Das Ich ist bestimmt, also leidend und abhängig von den Dingen. So sagt der Realismus und Empirismus. Es folgt daraus die Kategorie der Kausalität. 2. Das Ich setzt sich selber als bestimmt. So der Idealismus. Es liegt darin die Kategorie der Substantialität. Fichte will beide Ansichten in einem Ideal-Realismus oder Realidealismus verbinden, indem das Ich, vermittelst einer ihm zunächst nicht bewußten produktiven Einbildungskraft, sich selbst beschränkt, begrenzt, seine an sich unbegrenzte Tätigkeit hemmt. So entstehen Vor»stellungen« von »Gegenständen«, eigentlich nichts als »Brechungen« (daher »Reflexionen«) des tätigen Ichs an irgendeinem unbegreiflichen Anstoß. [Hier meldet sich also doch das von Fichte sonst so schroff bekämpfte Kantische »Ding an sich«] Der Philosoph entwickelt nun weiter die Stufen des »theoretischen Geistes«.

Durch die erste, ihm selbst noch unbewußte Beschränkung der »grundlos freien Tätigkeit« des Ich entsteht 1. die Empfindung, die es »in sich findet«, die ihm jedoch von außen bewirkt erscheint. Indem nun das Ich auf sie reflektiert, sie als etwas außer ihm sich gegenüberstellt, entspringt 2. die Anschauung, und weiter vermittelst der reproduktiven Einbildungskraft 3. ein Bild des Angeschauten in Raum und Zeit, das aber zum Stehen erst durch 4. den Verstand gebracht wird, der die bisherige wandelbare Einbildung und Vorstellung zum festen, unwandelbaren Begriffe fixiert, sodass mit den Kategorien nun das »Objekt« entsteht. Die an das Objekt gebundene Reflexion des Verstandes ist ihrerseits bedingt durch 5. die Urteilskraft, d. i. das Vermögen der freien Reflexion oder Abstraktion, die Kraft, einen bestimmten Inhalt betrachten oder von ihm absehen zu können. Sie weist endlich, als auf ihre letzte Bedingung und ihren Quell, auf 6. die Vernunft oder das Selbstbewußtsein hin, das Einzige, wovon wir niemals abstrahieren können, die Grundlage alles Wissens. Erst auf dieser höchsten Stufe erkennt das Ich sich selbst, erfaßt sich als das Nicht-Ich bestimmend und leitet so über vom theoretischen Bewußtsein zur praktischen Philosophie.

Mit solchen Ausführungen meint Fichte Kants transzendentale Apperzeption oder Einheit des Bewußtseins erst richtig erklärt zu haben. Das ist die »theoretische Philosophie«, die er an die Stelle der Kritik der reinen Vernunft setzt. Gewiß ist der Tiefsinn und die Abstraktionsfähigkeit zu schätzen, mit der Fichte bis zu den letzten Gründen des Denkens vordringt; aber deshalb bleibt sein Verfahren doch, wie schon Hegel bemerkte, »psychologischer Idealismus«, und sein a priori ein metaphysisches, das von den Bedingungen wissenschaftlicher Erfahrung zu der sogenannten Wurzel des Geistes zurücklenkt.


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