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Oktober 1916

Die Schönheit im Dienste des Kaufmanns

Lieber Loos!

Sie haben die Absicht, durch einen Vortrag dem nur in Wiener Hirnen existenzfähigen Gedanken der Kreierung einer »Wiener Mode« Schwierigkeiten zu bereiten, diesem dernier cri einer nach Wien zuständigen Dummheit, die sich vom »Joch der Pariser Mode« befreien will, dem bekannten Joch, welches die Eigentümlichkeit hat, daß man so lange unter ihm geseufzt hat und jetzt bloß nach ihm seufzen darf. Sie wissen, diese Heuchelei ist der Treffpunkt eines schlecht sitzenden Patriotismus hochgestellter Modedamen und des aufrechten Erwerbssinns etlicher Schneiderfirmen, und niemand weiß besser als Sie, daß der Vorsatz, eine Mode zu schaffen, bei weitem kühner ist als ehedem der Entschluß zur Erschaffung der Welt, und daß darum auch das Resultat den Schöpfer kaum zu dem Selbstlob berechtigen dürfte, daß es gut war. Freilich dürfte die Wiener Mode sich eben noch mit dem verpfuschten Zustand der heutigen Welt vergleichen lassen, nur mit dem Unterschied, daß jene, die Mode, wenn sie in Ehren bestehen will, die Unehrlichkeit begehen muß, Pariser Modelle unter Wiener Marke einzuschmuggeln, während diese, die Welt, ihr elendes Original unter dem alten Namen auf den Markt bringt und noch vom heutigen Menschen zu behaupten wagt, er sei nach dem Ebenbild Gottes geschaffen. Die Welt, mit der wir jetzt vorlieb nehmen müssen, ist nämlich, wie Sie wohl schon einsehen dürften, nichts anderes als die Ihnen bekannte deutsche Pofelware, die ehedem unter ausländischen Bezeichnungen den Weltmarkt zu erobern suchte, bis sie gezwungen wurde, sich als made in Germany zu deklarieren; die Mode aber dreht den Spieß um, behauptet mit freier Stirn, sie sei deutsch, da sie noch immer französisch ist, und wenn man ihr hinter den Schwindel kommt, so wird sie ehrlich und macht den aussichtslosen Versuch, als Wiener Produkt die Welt zu erobern. Nun dürfte es aber noch immer eher glücken, einen deutschen Gott der Welt als den garantiert echten einzureden, als eine Wiener Mode zu beschließen, was eben annähernd so unmöglich ist wie ein Kornfeld in der flachen Hand wachsen zu lassen, während der Versuch, Armeen aus der Erde zu stampfen, bekanntlich über alles Erwarten gelingt. Zu dem Kapitel des Irrsinns, wo die Entwicklung so organischer Dinge wie es die Mode ist, als nationale Forderung betrieben, ja unter ein Kriegsleistungsgesetz gestellt wird, muß ich Ihnen wohl nichts weiter sagen. Sie werden auch wissen, daß dieses Symptom einer dementia heroica nicht zu trennen ist von dem Gesamtbild jener Wiener Gemütskrankheit, die vom fieberhaft ersehnten Fremdenverkehr zwar den Verkehr haben, aber die Fremden durch Beschimpfung entfernen möchte. Ihr Vortrag nun will einem der tollsten Wiener Faschingsscherze zuvorkommen, die sich je bei Krieg, Hunger und Pestilenz hervorgewagt haben. Ein Komitee — dieses noch immer nicht abgeschaffte Fremdwort dürfte hier von »komisch« kommen und deshalb beliebt sein — hat die Idee gehabt, sich zur Förderung des heimischen Schneidergewerbes ein Stück anfertigen zu lassen, in welchem die engrockige Wiener Mode über die weitrockige Pariser Mode »siegt«, die in Gestalt eines besser gekleideten Aschenbrödels einen Achtungserfolg erzielen wird. Zum Dichter des Stückes, das ebenso apart ausfallen dürfte wie die Wiener Mode, wurde ein versierter Wiener Gerichtssaalreporter ausersehen, dessen Beziehungen zur Muse nicht weniger legitim sind als seine Beziehungen zur Mode und der schon darum kompetent ist, speziell bei der Hebung des heimischen Gewerbes mitzusprechen, weil er selbst, wiewohl er eigentlich nur Feigl heißt, sich unter dem präsentableren Namen Melbourn auf dem Markt eingeführt hat. Wohl mag er nun erkennen, daß die Zeiten für die Inkognitos vorbei sind und daß die Wiener Mode in diesem Punkte immer bescheidener war als die Wiener Dichtkunst, indem sie ja umgekehrt den Melbourn hinter dem Feigl verbergen wollte und jetzt gar darangeht, den Melbourn zu überwinden und nichts anderes sein und scheinen zu wollen als ein Feigl, der bisher im Verborgenen geblüht hat, aber nun die Welt auf sich aufmerksam machen möchte. Wie dem immer nun sei und wenn man auch glauben sollte, daß jene Welt Österreich nicht mehr mit Australien, Feigl nicht mehr mit Melbourn verwechseln wird, Tatsache ist und bleibt, daß ein Mann berufen wurde, den Sieg der Wiener Mode dramatisch zu feiern, der den Toilettenluxus aus den Entwürfen des Extrablatt-Zeichners kennt und das mondäne Leben aus jenen bezirksgerichtlichen Verhandlungen, in denen sogenannte »Lebedamen« überwiesen werden, einen Lebenswandel geführt zu haben und hierauf zum Zweck der Veranstaltung unerlaubter Zusammenkünfte durch eine sogenannte »Private« in einer Lasterhöhle ein- und ausgegangen zu sein und sich sodann im Sumpf der Großstadt die Türklinke gereicht zu haben. Es bleibt nicht mir, der bloß das Material für den künftigen Kulturhistoriker herbeischafft, sondern diesem selbst vorbehalten, die rätselvolle Möglichkeit zu ergründen, daß im Wien des Kriegsjahres 1915 zu Affenkomödien Zeit und Lust genug vorhanden war, wenn die Parkettsitze nur 30 Kronen kosteten, und daß »84 Damen der Hocharistokratie und der Wiener Gesellschaft« mit den im Stück des Herrn Feigl auftretenden Schauspielerinnen »sich geeinigt haben, einzig und allein Wiener Erfindungen und Wiener Schöpfungen zu tragen, so daß man an diesem Tage im Deutschen Volkstheater einen Überblick über die Wiener Mode erhalten wird«. Aber nicht einmal die groteske Tatsache, daß die Damen der Hocharistokratie sich von der Krankenpflege nicht anders zu erholen wissen als bei der Gelegenheit, Mannequins des Ungeschmacks, ja sandwich-women für den Geist des Feigl-Melbourn zu sein, will ich Ihrer Aufmerksamkeit empfehlen. Was mich bestimmt, Ihrer Rede mein Wort zu überlassen, ist die Einsicht in eine Erscheinung, welche die jetzt ausgebrochene Diskussion über die Frage, ob man im Krieg Mode machen darf, mir offenbart hat. Diese Frage wird ernstlich gestellt, ohne daß die Interessenten sich in der Antwort einigten, daß man weder einen Krieg noch eine Mode machen darf. Die Anregerin ist die Infantin Maria de las Nieves de Braganza de Borbon. Diese höchst wohltätige Dame, die sich von der Forderung, Gold für Eisen zu geben, nicht bis zu dem Opfer hinreißen läßt, auch durch das Gold, welches Schweigen heißt, mit gutem Beispiel voranzugehen, hat verlangt, daß die Modedamen jetzt die Wolle, die sie für Toiletten brauchen, lieber den Soldaten geben und dem Luxus das Scherflein vorziehen sollen. Die Frage, ob die ästhetische Fortsetzung des Frauenlebens, also das Überflüssige, nicht in einem tieferen Sinne für die Menschheit notwendiger ist als die einmal gegebene Notwendigkeit, führt auf ein philosophisches Gebiet, auf das die Infantin von Braganza und den von ihr vertretenen Patriotismus mitzuführen ziemlich undankbar sein dürfte. Man würde auf wenig Verständnis und viel Entrüstung stoßen, wenn man behaupten wollte, daß eine schöne Frau, die sich auch in der größten Zeit noch schön zu kleiden wagt und darum dem Fluch der Infantin verfällt, für die »Allgemeinheit«, um die sich die glückliche Naivetät der Schönheit gar nicht kümmert, mehr leistet als durch das Opfer, ihre Toilette zu Scharpie zu zerzupfen. Selbst der rein logische Einwand, daß die opferwilligste Infantin noch immer zu wenig leistet, wenn sie bloß ein Spitalskleid trägt und nicht ihr ganzes Hab und Gut dem patriotischen Zweck überläßt, bleibe der Anregerin erspart. Dagegen hat ihr die öffentliche Dummheit die Replik nicht ersparen können, daß es unpatriotisch wäre, gerade jetzt auf den Luxus zu verzichten, da ja die Schneiderfirmen auch leben wollen. Darauf hat die Infantin die einzig zutreffende Antwort gegeben, man möge für dasselbe Geld bei der Schneiderfirma Soldatenhosen bestellen, und ähnlich sollten die Konditorsachen anstatt wie bisher »in den Magen einer schönen Dame in den eines armen Soldaten wandern«. Die Infantin hatte ganz recht, zu sagen, daß man auf diese Art beiden Interessen gerecht werden könne, und daß die Damen dadurch Gelegenheit bekommen, sich sowohl für das Vaterland wie für die Industrie aufzuopfern. Im allgemeinen läßt sich nicht bestreiten, daß die Infantin, wo sie recht hat, recht hat und daß man tatsächlich für das Geld, das man zur Erhaltung der Schneiderfirmen und der Konditorfirmen zahlt, solche Waren kaufen könnte, die einem Zweck zugute kommen, für den, wie die Infantin wieder mit Recht sagt, »die Regierung denn doch nicht alles Vorsorgen kann«. Trotz dieser in die Augen springenden Richtigkeit bleibt die Gräfin Berchtold bei ihrer Ansicht, daß es ein Verbrechen wäre, auf den Luxus zu verzichten, weil die Schneiderfirmen doch auch leben wollen. »Ich und gleich mir viele andere Damen«, sagt die Gräfin Berchtold, »wir fühlen uns verpflichtet, unsere Schneiderinnen und sonstigen Lieferanten nicht in einer Zeit im Stiche zu lassen, wo sie doch ganz besonders der Aufträge bedürfen, damit sie ihre Arbeiter und Arbeiterinnen beschäftigen können. Denn es wäre doch eine große Verantwortung, wenn man sich der Einsicht verschließen wollte, daß man nicht nur seinem eigenen Geschmack und seiner eigenen Einsicht nach leben darf, sondern auch auf die Allgemeinheit Rücksicht zu nehmen hat.« Den weiten Rock verschmähe sie in der großen Zeit, weil sie ihn für »inopportun« halte; sie würde »absolut keine Pariser Modelle tragen«, aber sie lasse sich nicht abhalten, Toiletten nach Herzenslust zu bestellen, nicht weil sie gut aussehen will, sondern damit es den Wiener Schneiderinnen nicht schlecht gehe. Die Gräfin Berchtold und im ganzen 84 Damen der Hocharistokratie sind also keineswegs geneigt, aus Patriotismus auf Toiletten zu verzichten, aber sie tragen sie aus Sozialpolitik. Sie fragen sich nicht: wie steht mir das? Sondern: wie gehts meiner Schneiderin? Patriotinnen sind sie ja ohnedies, wenn sie die heimischen und nicht die ausländischen notleidenden Firmen unterstützen — »denn es ist das erste Gebot jedes Patrioten«, sagt sich die Gräfin Berchtold bei der Anprobe, »nur das zu fördern, was dem Vaterlande frommt«. Übersehen Sie nun, wenn Sie sich mit der geistigen Unzulänglichkeit, die eine Mode beschließt, in eine Polemik einlassen, das eine nicht: daß dieser Mangel nur ein Teil von jener großen Leere ist, aus der die ganze neudeutsche, deutsch-christliche Lebensauffassung entspringt. Wir essen, damit unsere Gastwirte zu essen haben. Wir trinken, damit die Weinhändler einen Rausch bekommen. Wir kleiden uns, damit die Schneider es warm haben. Wir ziehen vor unseren Hutfabrikanten den Hut. Wir lassen unsere Lieferanten bei uns die Waren bestellen. Wir fahren, weil der Kutscher heut noch keine Fuhr gehabt hat. Wir dienen den Instrumenten. Wir sind die Subalternen unserer Beamten. Wir rauchen, damit wir dem Raucher Feuer geben können. Wir sind in einem Maß die Opfer unserer Nächstenliebe, das weit über die Forderungen der Infantin hinausgeht. Wir konsumieren, damit der Produzent konsumieren könne. Wir essen nicht, um zu leben, sondern wir leben, um zu essen; wir leben nicht, um zu essen, sondern wir leben, damit die andern essen; wir sterben, um zu essen; wir essen nicht, damit die zu essen haben, die sterben müssen, damit wir zu essen haben; wir kleiden uns, damit die sich kleiden, die uns kleiden; wir verzichten auf Wolle, um für Wolle zu leben und damit jene Wolle haben, die für Wolle sterben müssen. Nun gut, es mag Mannespflicht sein, den Schneider zu kleiden und den Wirt zu nähren. Aber könnte es ein unsozialeres Ding geben als die Schönheit, die vor dem Spiegel steht? Nichts vor sich hat als wieder sich, und der die »Allgemeinheit« nichts anderes bedeutet als die vorgestellte Reihe jener, die sie bewundern werden? Nein, sie tut es aus Nächstenliebe; sie schmückt sich aus Sozialpolitik; sie muß den Lieferanten beschäftigen, dessen Arbeiter sonst brotlos werden. Wohl, man verkenne aus strategischen Gründen den Sinn des Lebens; man sage getrost, eine Frau dürfe nicht schön sein, so lange es Schützengräben gibt. Aber zu verlangen, daß sie vor dem Spiegel eine Patriotin sei, ist Hochverrat an der Schönheit und macht den Patriotismus häßlich. Ist es nicht wahrhaft trostlos, daß selbst hier meine Erkenntnis, daß das Lebensmittel den Lebenszweck unterjocht habe, ein Beispiel findet? Schnell noch etwas Schminke aufgelegt, damit die Rosa Schaffer gut aussieht! Aber haben Sie mich, als ich vor Ihnen diese Ideen entwickelte, bei der hochherzigen Regung ertappt, daß ich mir noch einen Kaffee bestellte, damit der Kaffeesieder eine Freud’ habe? In keiner der vielen jetzt entzweiten Kulturwelten erhebt der Mensch so die Prämissen des Lebens zum Inhalt, dient er so dem, der ihn bedient, macht er sich so zum Sklaven seines Sklaven, stürzt er sich so kopfüber in die Leibeigenschaft, und hat sich dennoch die intellektuelle Freiheit bewahrt, die Kultur des Moskowitertums gering zu achten. Aber gibt es eine schmählichere Leibeigenschaft als die, in der wir leben, wenn sie selbst den Frauenleib, anstatt ihn unter das Joch der Pariser Mode zu beugen, unter den Bedarf der Wiener Modistin stellt? Ich wäre ja Gott sei Dank nicht imstande, es nationalökonomisch nachzuweisen; aber mein Glaube ist es, daß die Schneiderinnen nicht in Not wären, wenn die Damen nicht für sie zu sorgen hätten. Hier steht »die Kunst im Dienste des Kaufmanns«, das heißt, sie ist das verächtliche Ornament seines Geschäfts. Hier steht die Schönheit im Dienste des Schneiders. Nein, hier steht das Leben selbst im Dienste des Lebensmittels, und wir Esser sind seine Nahrung. Wir decken nicht unseren Bedarf beim Händler, sondern seinen an uns. Aus solcher Geistesformation entsteht ein Weltkrieg, aus solch tiefer Unsittlichkeit eines Lebens, das in heilloser Mischung von Gefühl und Gebrauch vergeht, ohne Mut zum eigenen Bedürfnis: nur daraus und nicht aus den Problemen Elsaß oder Galizien — glauben Sie das endlich, und wenige sind berufener, es zu glauben, als Sie! An dieser Debatte, die Sie zu Ihrem Vortrag veranlaßt, empfehle ich die Konkurrenz dreifachen Irrsinns Ihrer Beachtung. Wir sollen eine Mode erfinden: das ist nur die nationale Forderung eines Ungeschmacks, der den Größenwahn bekommen hat. Wir sollen nichts anziehen, damit die Soldaten, die für Baumwolle geopfert werden, es warm haben: das ist das Postulat einer von der großen Zeit bedingten schweren Nervenüberreizung. Wir sollen schöne Kleider kaufen, damit sich die Schneider gut anziehen können: das ist ein unheilbarer Fall, das ist der Zustand unseres Denkens! Daß sich die Aussprache solch bunten Wahnwitzes unter der Patronanz adeliger Damen vollzieht, mag Ihnen beweisen, daß die heutige und hiesige Gesellschaft auch an ihrer unnahbarsten Front keine Sicherung gegen den Feind bietet, der Instinkt und Kultur mit der Vernichtung bedroht. Ich kann den Bestrebungen der Sklaverei keinen Geschmack abgewinnen. Ich werde so frei sein, 84 opferwilligen, patriotischen oder gewerbefreundlichen Damen, deren Geburt sie nicht davor bewahrt hat, der Produktion des Herrn Feigl beizuwohnen, eine Einzige vorzuziehen, die es offen nach einem Pariser Modell gelüstet, die es stolz verweigert, eine Toiletteprobe auf ihre Selbstlosigkeit zu bestehen, und die weder von der Frage, ob ein Staat, der Krieg führen will, hinreichend für seine Soldaten Vorsorgen kann, noch von dem Wohlbefinden ihrer Lieferanten die Entscheidung abhängig macht, schön zu sein!

Ihr

K.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 413-417, XVII. Jahr
Wien, 10. Dezember 1915.