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März 1916

Shakespeare und die Berliner

»Max Reinhardt brachte im Deutschen Theater den ›Macbeth‹ zur Aufführung .... Die Regie hatte mit ihren Künsten nicht gespart .... Beispielsweise war auf der Bühne eine Dreiteilung geschaffen, bei der dem Mittelstreifen eine Art symbolischer Bedeutung zugewiesen war. Das Hauptthema, über welches die Regie ihre Variationen spielte, war das Blut. Farben und Beleuchtung waren auf Blut gestimmt, und als das Ehepaar Macbeth den Mordplan ausheckte, umringelten den Hals der beiden blutrote Streifen, die von einem Beleuchtungsapparat projiziert wurden. Ein blutbefleckter Vorhang ging herunter, als der Mord ausgeführt war ....«

Die Frage, wann der Herr Reinhardt, nicht aus irgendeinem Bühnenverein, sondern aus jedem besseren Wohnzimmer ausscheiden werde, ist im Weltkrieg leider nicht aktuell. Bis zum Weltkrieg war sie es auch nicht, denn sonst wäre er nicht entstanden. Der Zusammenhang ist klar. Wie es mit den geistigen Aussichten einer Nation bestellt sei, deren Ludimagister von einem verirrten Bankprokuristen dargestellt wird und deren Hochadel auf den Privatbällen des zum Diktator aufgedunsenen Theaterhändlers die Komparserie stellt, das konnte bloß dem politischen Blick verborgen bleiben. Aber wenngleich in dieser mechanischen Wunderwelt, die in ihrer ganzen Auflage ein Generalanzeiger des Weltuntergangs ist, kein Gras mehr wächst, so gibt es doch jene echte Sommernachtstraumwiese, täglich frisch aus der Natur gerupft, durch die Herr Reinhardt sich längst schon um Shakespeare verdient gemacht hat. Es besteht eine Beziehung zwischen den lebendigen Versatzstücken des neudeutschen Theaters und den Surrogaten des neudeutschen Lebens, das um einen Fleischersatz so wenig je verlegen wird wie um eine Stellvertretung des Geistes, und dessen Wissenschaft im Bedarfsfall auch für Homunculus-Reserven sorgen wird. Diese Lebensrichtung hat einen philosophischen Anhalt. Es ist der Bocksbart des Herrn Shaw, des unermüdlichen Schalksnarren, dessen Weisheit dem Geist paradox gegenübersteht und dessen Dienste kein Shakespeare’scher König auch nur eine Stunde lang in Anspruch genommen hätte. Mit dem von Fall zu Fall herübergerufenen Tröste, daß seine Landsleute die wahre Handelsnation seien, gehört er ganz in den Wurstkessel einer Kultur, in deren heilloser, von Reinhardtschen Hexen zubereiteter Mischung demnächst der Gedanke entstehen mag, mit Bomben erfolgreich belegte Brötchen zu erzeugen. Dieser gut ins Englische übersetzte Trebitsch hat neulich den Einfall gehabt, die Würdigkeit, Shakespeares 300. Todestag zu feiern, den Berlinern zuzusprechen. Sie haben sich das nicht zweimal sagen lassen und, m.w., auf den Hals Macbeths blutrote Streifen projiziert. Die Engländer, neidig wie sie sind, glaubten in diesem Warenzeichen jenes bekannte made in Germany zu erkennen, das so lange die englische Provenienz vorgetäuscht hat, ehe es sich zum ehrlichen deutschen Ursprung bekennen mußte. Aber jetzt hat sich auch auf der deutschen Szene, wo man in besseren Zeiten bekanntlich oft mit Wasser gekocht hat, die Erkenntnis durchgesetzt, daß Blut dicker sei. Dekorativ soll se wirken. Das ist nicht so wie bei armen Leuten. Ehedem sind bloß Helden aufgetreten, denen das Wort des Dichters aus dem Hals kam, ohne daß dieser selbst Spuren der dramatischen Absicht verraten hätte. Traten sie von der Szene, so fiel ein Vorhang, auf dem nichts zu sehen war als eine Landschaft mit einer Göttin, die eine Lyra in der Hand hielt, und dennoch war der Zwischenakt voll des Grauens über Macbeths Tat. Herr Reinhardt hat zwar nicht die Kühnheit, die Shakespeare’schen Akteure wie die Offenbachs geradezu durch das Parkett auftreten zu lassen, um jeden einzelnen Kommerzienrat von dem bevorstehenden Mord zu avisieren, aber er läßt immerhin — der intelligentere Teil von Berlin M W wird’s schon merken — einen blutbefleckten Vorhang niedergehen, auf daß der erschütterte Goldberger seiner Mitgenießerin die Worte zuflüstere: »Kolossal, paß mal auf, Trude, jetzt wirste sehn, wie Machbet den Schlaf mordet!« Die Berliner allein sind würdig, Shakespeare zu feiern; wenn sie ihn aufführen, ist er zum dreihundertsten Mal gestorben. »Mir wars, als hört’ ich rufen: Schlaft nicht mehr. Reinhardt mordet den Shakespeare, den heil’gen Shakespeare, den stärksten Nährer bei des Lebens Fest — Es rief im ganzen Hause: Schlaft nicht mehr ...« Solche Avisos und Lichtsignale dem feindlichen Verständnis zu geben, solcher Einfall, den Teufel, den das Völkchen nicht spürt, wenn er sie schon am Kragen hat, an die Wand zu malen, ist gewiß praktisch gegenüber einer Zeitgenossenschaft, deren Phantasie von einem rechtschaffenen Theatervorhang nichts weiter als eine gediegene Fußwohl-Annonce erwartet. Wie war doch stets und in jedem Belang die Bühne ein Wertmesser der Lebenskräfte! Die unheimliche Identität der Aufmachung eines Reinhardt mit der Regie des jetzt wirklich vergossenen Blutes ist keineswegs zu übersehen. Schöpfen nicht beide aus Quantität und Technik, aus Komparserie und Mache den Gedanken? Und nicht ganz ohne Bedeutung dürfte es sein, daß der Schauspieler, solange er noch Vagabund, Jongleur und Persönlichkeit war, von der guten Gesellschaft gemieden wurde, aber der geschminkte Kommis von heute ihr von seinem Triumphsitz Gnaden austeilt. Nein, dies alles ist nur ein Druckfehler der Weltgeschichte, dort wo sie vom Sieg des iudogermanischen Geistes handelt. Nein, es wäre zu schön, wenn wir mit Anstand eines Morgens aus diesem Angsttraum erwachten und sich herausstellte, daß das Ganze nur die Illusion eines Theaterabends war, und in Wahrheit werde vor einem endlich ernüchterten, endlich begeisterten Publikum auf der deutschen Bühne ein echtes Blutbad veranstaltet, und das viele Blut in der Welt war nur von einem Beleuchtungsapparat projiziert.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 418-422, XVIII. Jahr
Wien, 8. April 1916.