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März 1916

Zum ewigen Gedächtnis

Zwei Züge

Das Leid und Elend, das die serbische Bevölkerung, vor dem Feinde fliehend, ertragen mußte, ist schwer in Worten zu schildern. Schweren Herzens, ihre einzige Hoffnung auf Gott setzend, verließen die armen Flüchtlinge ihre Heimstätten. Greise, Frauen, Kinder — alle flohen! Unabsehbare Menschenmassen bewegten sich vorwärts — weiter und immer weiter ... Mit wieviel Schmerz und Mitleid gedenke ich der Kinder, die diesem Zuge folgten. Halbnackt, mit zerrissenen Sohlen, beschmutzt, gingen sie an der Hand der Mutter, die oft noch einen wimmernden Säugling am Arme trug. Tränen der Rührung stiegen mir ins Auge beim Anblick eines zehnjährigen Kindes, das sein kleines Brüderchen auf die Arme hob und ihm sein letztes Stückchen Brot in das weinende Mäulchen steckte. In der Menge, die sich müde und schwerfällig gegen Mitrowitza und Ipek schob, fiel mir eine hohe, kräftige Bäuerin aus dem Morawatal auf. Sie trug die schöne und farbenfreudige Kleidung der Frauen jener Gegend, dazu einen kleinen Sack auf dem Rücken und ein Körbchen in der Hand. Ihr zur Seite trippelte ihr Söhnchen, ein gesundes, gutgepflegtes Bauernkind, wie man sie in den gebirgigen Gegenden Serbiens findet. »Wissen Sie, wo die Morawadivision ist?« Diese Frage richtete die Bäuerin fast an jeden Vorübergehenden. In jener Division diente ihr Mann; ihm brachte sie das Bündel Wäsche, das sie auf dem Rücken trug ... Der Vater, der seit vier Jahren im Felde steht, sollte den Kleinen endlich wieder einmal sehen und herzen können. Mit schmeichelnder Stimme, die großen Augen voll Kinderunschuld zu mir hebend, streckte das Kind sein Händchen aus und bat: »Tschitscha, daj mi hleba.« (Onkel, gib mir Brot.) Und die Mitgehenden, statt des Brotes, das sie selbst nicht hatten, legten eine Geldmünze in das bittende Händchen ... Hie und da überrascht ein schönes Haus: große Kasernen, viele Moscheen fallen auf ... In der Stadt Tausende von erschöpften, blassen Flüchtlingen ... So schlief man denn unter freiem Himmel, bei 15 Grad Kälte, ohne Feuer, denn es gab kein Holz. Die mitgeführten Nahrungsmittel waren fast ganz aufgezehrt. Das mitgeführte Vieh, von den furchtbaren Strapazen aufgerieben, blieb größtenteils am Wege liegen ... Angst und Verzweiflung erfüllte sie bei dem Gedanken an das Kommende. Wie sollten sie mit den zarten Kindern in grimmiger Kälte, ohne Brot, über den drohenden steinernen Wall, der sich vor ihren Augen emporreckte, hinüberkommen? ... Es war Sonntag. In der Kirche des Patriarchats feierte man den Gottesdienst. Der serbische und montenegrinische Metropolit zelebrierten die Messe ... Totenstille herrschte in dem großen Raum; dann tönte traurig das Gebet des alten Metropoliten von den hohen Wölbungen wieder ... »Tschitscha, daj mi hleba«, unterbrach meinen Gedankengang ein zartes Stimmlein. Vor mir stand wieder der kleine Knabe, der uns unterwegs schon mit den nämlichen Worten angefleht hatte ... Die Zeit zur Flucht drängte ... Alles Gepäck wurde zurückgelassen. Doch Brot — Brot mußte man haben ... Die Kälte und das Schneegestöber nahmen zu ... Müden Schrittes setzte sich der traurige Zug gegen das berüchtigte Zljeb in Bewegung ... Plötzlich stockte der Zug. Tausende von Karren, die auseinander genommenen Batterien, Automobile, verwirrten sich ineinander. Es ging unmöglich weiter. Der Befehl wurde gegeben, die Wagen zu verbrennen, die Kanonen und die Munition zu vernichten. Alles, was man nicht mittragen konnte, sollte zerstört, einzig die Tiere gerettet werden ... Wieder mußte die Nacht unter freiem Himmel zugebracht werden, an der Stelle, auf der man sich eben befand, am Feuer, zu dem die Reste der zertrümmerten Wagen herhalten mußten ... man schleppte Räder und Holzteile herbei, um nicht auf den eisbedeckten Steinen rasten zu müssen. Leise, traurig floß das Gespräch dahin, bis die Müdigkeit das ihre tat. Stärker wurde der Frost, immer kleiner das Feuer. Das erste Morgenlicht fiel auf eingefallene, blasse Gesichter, in denen noch das Grauen der verbrachten Nacht stand. Die frierenden Kleinen äußerten wimmernd ihren einzigen, bescheidenen Wunsch. Ein Stückchen Brot nur, der schwarzen Erde gleich, eine kalte Kartoffel, mußten das Verlangen der bedauernswerten Kleinen stillen ... Kanonen, Karren, Ausrüstung — alles wurde in den Abgrund geschleudert. Dann ging es weiter, einer hinter dem andern; über vereiste Felsen und Geröll, mehr gebückt als aufrecht, rutschend und strauchelnd. Da, plötzlich ein Schrei — ein Pferd stürzte von dem schmalen Pfade in die Tiefe; und wieder ein Schrei, noch verzweifelter und gellender als der erste: sein Führer war ihm nachgestürzt. Die Stunden verrannen unter mühseligem Wandern, von allen Seiten starrten Tod und Vernichtung den Flüchtenden entgegen. Da lag am Wegesrand ein zu Tode erschöpftes Pferd, dort ein Ochse mit heraushängenden Eingeweiden, weiter unten ein Mensch mit zertrümmertem Schädel ... Dort blieb eine Menge entkräfteter, müder Tiere zurück. Sie standen unbeweglich, nur ihre todtraurigen Blicke begleiteten uns ... Und wieder umgab uns tiefe Nacht: Mit Händen und Füßen scharrten wir den Schnee beiseite, um einen Herd zu errichten. Aber, wie sollte die wärmende Flamme entstehen, da alles ringsum feucht oder gefroren war? ... Ein Schluchzen drang an unser Ohr; ein leises, nicht endenwollendes Weinen. Wir gingen hin. Bei dem schwachen Lichtschein erkannten wir jene Bäuerin aus dem Morawatale wieder, die uns mit ihrem Knaben bis hierher begleitet hatte. Mit totenblassem Antlitz saß sie an einen Tannenbaum gelehnt da, in den Armen einen leblosen kleinen Körper haltend, zu dessen Häupten, mit zitterndem Lichte, eine kleine Wachskerze brannte. »Mein Kind ist gestorben und ich weiß nicht, wie ich es begraben soll«, sagte die arme Mutter mit bebenden Lippen. Der Atem stockte uns — wir erschauerten. Kälte, Hunger und Krankheit hatten dieses blühende Leben vernichtet, noch ehe ihn der geliebte Vater, den er suchen gegangen, in seine Arme geschlossen und geküßt hatte. Unter der Tanne, wo er verschieden, wurde ihm das Grab bereitet, und in den rauhen Stamm schnitten wir seinen Namen:

»Slobodan Ljubinkovits,

aus Morawa 1908-1915.«

Entblößten Hauptes, den Blick voll Trauer auf das kleine Grab geheftet, bezeugten wir dem unglücklichen Kinde die letzte Ehre. Sein trauriges Schicksal wird für uns ewig verflochten sein mit der Erinnerung an den Leidenszug nach dem schrecklichen Zljeb. Uns Glücklichen aber, denen der Allmächtige Kraft gab, so viel Mühsal und Not zu ertragen und das Leben zu retten, tönt heute noch das traurige: »Tschitscha, daj mi hleba« des armen Knaben nach.

Der Zug hatte die Halle des Wiener Nordbahnhofes verlassen. Die Lichter der Residenz verglühen in der Ferne; der Train donnert der ungarischen Grenze zu. Das Handgepäck ist untergebracht. Dann beginnt das Abendessen erster Serie in dem Speisewagen, der uns bis Budapest begleitet. Man bummelt durch die Waggons, man ist neugierig. Wer fährt mit dem Zuge. Die Übersicht ist rasch vorhanden. Vielleicht hat man sich’s ein wenig anders vorgestellt, mehr würdenträgerartig, mehr repräsentativ; aber zu guter Letzt ist man zufrieden. Um die Bedeutung der Fahrt der großen Öffentlichkeit zu vermitteln, sind zwei Dutzend Männer von der Presse da. Wir vier Österreicher, zu denen sich in Budapest vier Ungarn gesellten, haben uns gleichfalls organisiert, und es war zu unserem Besten. Ein anderes Coupé hat ein Herr, der auch in diplomatischen Diensten reist, begleitet von seiner liebenswürdigen Gemahlin und ihrem hübschen Hündchen; »Pucki« ist der erste Hund, der mit dem Balkanzug fuhr, und fühlt sich heute bereits wie ein Pfau ... Ich teilte mein Coupé mit dem Schriftsteller Felix Salten. Nach dem Abendessen machte uns Ludwig Ganghofer, der von München gekommen war und nach Nisch reiste, den ersten Besuch. Es war eine Visite um Mitternacht, denn Budapest hatten wir einige Minuten vor 12 Uhr nachts verlassen. Man hatte uns dort mit magyarischer Glut empfangen. Die Zigeunermusik freilich fehlte; die fiedelt jetzt eins den Russen zum blutigen Tanz, und das ist wichtiger. Ganghofer war frisch, lustig und herzlich bewegt von der tiefen Bedeutung des Ereignisses, dessen Teilnehmer wir waren. Er erzählte wie der Jüngste und wir tauschten Kriegserinnerungen aus. Man mag noch soviel gesehen und erlebt haben, man hört ihm mit inniger Freude zu. Der Kehrreim aller seiner Worte aber ist das Lob der Schönheit des Krieges. Er plaudert von dem Humor, der selbst in den tragischsten Momenten des Kampfes aufblitzt; der große Shakespeare des Welttheaters weiß eben Ernst und Scherz auch auf der Kriegsbühne richtig zusammenzuschütteln. Ein Straßenkampf tobt; Reserven dringen über die Leichen der Gefallenen vor — ein junger Unteroffizier springt um die Ecke — auf einen Toten. Ein rascher Blick zurück, ein Stammeln: »Pardon ... Bitte um Entschuldigung ...« und er ist verschwunden. So erzählt Ganghofer, und wir fahren durch die dunkle Einsamkeit der Puszta, in der arme Hirtenfrauen von ihren »roten Teufeln« träumen, die in Wolhynien kämpfen. Der Belgrader Wagen, der von München kam, wird abgekuppelt; dafür ist der Schrei nach einem Morgenkaffee oder einem Speisewagen vergeblich. Es ist noch keine Restauration im Betrieb, und der Speisewagen erwartet uns erst wieder um 2 Uhr nachmittags in Nisch. Das müssen Passagiere des Balkanzuges zur Notiz nehmen. An sanften Waldbergen vorbei führt der Schienenstrang nach Jagodina. Die zierliche Moschee mit dem maurischen Tore und dem schlanken Minarett interessiert heute alle weniger als die kleine Hütte im Bahnhof, in der ein deutscher Soldat heißen Tee schenkte. Ich hatte mich schon früher gestärkt; Ganghofer, der an Erfahrungen Reiche, hatte im Coupé Tee gebraut, ein Hühnchen aus dem Eßkoffer ausgepackt, den ihm seine fürsorgliche Frau ans Herz gelegt hatte, und Saiten und mich zum Frühstück geladen. Ganghofers Frühstück war gewiß eine Spezialität des ersten Balkanzuges. Der Speisewagen, der heißersehnte, wird angekoppelt — ein Sturm auf ihn erfolgt.

Hirsch.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 418-422, XVIII. Jahr
Wien, 8. April 1916.