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Fahrende Sänger

Mai 1907
Am Geburtstag des neuen Österreich

Der Fußschweiß des Fortschritts, der jetzt die soziale Atmosphäre dieser Stadt erfüllt hat, wirkt nicht weniger drückend, weil der Wiener Männergesangverein das Stimmrecht in Amerika ausübt. Anschauliche Reiseberichte machen die Entwicklung der Unkultur vom Männergesang zum Männergebrüll fühlbar. Je lauter der Lärm und je schlechter die Luft, desto klarer die Erkenntnis, daß in dem Kampf um das Freiheitsrecht, der Zeit ihre Phrase zu prägen, Bier fließt.

Es ist gleichgültig, ob die Morgenröte besungen oder begrölt wird. Die Phantasie braucht den Siegeszug des demokratischen Gedankens nicht mitzumachen; sie begnügt sich mit dem Sturm auf das Büfett, den der Wiener Männergesangverein in allen Stationen bis Genua unternommen hat, und mit der Kapitulation konservativer Schiffsköche. Wir müssen uns nicht erst die ästhetischen Möglichkeiten der Wahlreform vorstellen: seit Wochen ist unser Horizont mit Schmerbäuchen verhängt. Seit Wochen erleben wir etwas, was bis jetzt noch nicht erlebt ward: den Triumph der Unappetitlichkeit. Denn als der Wiener Männergesangverein Ausflüge in die Wachau unternahm, hatte die Presse des Landes noch Raum für die Betrachtung anderer Ereignisse. Jetzt aber steht man wie betäubt und ahnt den gemeinsamen Zweck der beiden Taten, die die Welt neugestaltet haben: der Entdeckung Amerikas und der Erfindung der Buchdruckerkunst. Was die Wiener Presse jetzt begeht, ist nichts anderes als eine spontane Übertragung der so lange zurückgehaltenen Anerkennung für Kolumbus auf Herrn Schneiderhan, und die Wiener Bevölkerung, die über die Wirkungen einer Schiffs-Table d’hote sozusagen auf dem Laufenden gehalten wird, freut sich der Gelegenheit, eine alte Dankesschuld für Johann Gutenberg an den Korrespondenten der Neuen Freien Presse abzustatten.

Aber müssen nicht auch die Bewohner des Festlands vomieren, wenn die Wogen der journalistischen Begeisterung häuserhoch gehen? Soweit ich alte Teerjacke zurückdenke, kann ich mich eines ähnlichen Sturmes nicht entsinnen. Vielleicht bin ich voreingenommen, weil mir, wie ich offen gestehe, schon übel wird, wenn der Wiener Männergesangverein, statt auf einer Seereise durch vierundzwanzig Stunden im Tag zu »lunchen«, im Lande bleibt und sich redlich von Rindfleisch nährt, oder wenn er etwa nach Potsdam geht und den deutschen Kaiser dazu hinreißt, sich auf den Schenkel zu schlagen. Ist mir doch nichts in der Welt zuwiderer als ein Aufgebot von singenden Männern mit Bärten, Brillen und Bäuchen, als eine Schar von Rechnungsräten und Fabrikanten, die sich plötzlich zusammenfinden, um den Abendstern zu begrüßen, den Schöpfer zu loben oder zu beteuern, daß nur wer die Sehnsucht kennt, wissen könne, was jeder einzelne der Herren leidet, dem das Eingeweide vor Verlangen nach einem Gulasch brennt. Vielleicht bin ich voreingenommen. Aber wer bei der Schilderung der animalischen Vorgänge zwischen Genua und New-York, wer vor einer Berichterstattung standhaft bleibt, die keinen Rülps dieser Wiener Unkulturträger totschweigt, der muß Magennerven haben, die so stark sind wie die Schiffstaue der »Oceana«! Die Wiener Presse gebärdet sich, als ob es die Entdeckung Amerikas durch ein paar kühne Tarockspieler gälte. Mehr als das, es scheint auch die erste Gelegenheit gekommen, den Lesern zu zeigen, wie man auf einem Schiff Hunger und Notdurft befriedigt, und wie man sich in einer Kajüte auszieht. Daß sich die Pariserin manchmal zu Bett begibt, wußten wir schon aus kinematographischen Vorführungen. Aber wie das ist, wenn ein Mitglied des Wiener Männergesangvereins seine Hosenträger nicht finden kann: das uns anschaulich darzustellen, blieb der Neuen Freien Presse vorbehalten. Man traut seinen sämtlichen Sinnen nicht. Auch die durch alle Scheußlichkeiten einer detailgierigen Journalistik abgehärtete Wiener Phantasie kann es nicht glauben, daß in einem Blatt, das seit der ersten Entdeckung Amerikas als Weltblatt gilt, folgende Schilderung Platz haben soll: »Nur mit den Getränken, da hat es seine Not. ›Dreher Lager vom Faß‹ steht auf der Karte, und die Kehlen der braven Sänger sind trocken ... ›Hieher, Hieher!‹ schallt es von allen Tischgenossen. ›Ich bediene nur auf dieser Seite‹, wehrt der gegnerische Steward ab. ›Also dann mir! Ich habe zwei Glas bestellte‹ — ›Haben Sie schon ein Ticket ausgestellt?‹ — ›freilich, ich war der erste.‹ ... ›Wir möchten gern rascher bedienen‹, entschuldigt ein Steward, ›aber beim Faß stehen fünfunddreißig Stewards und keiner bekommt etwas.‹ — ›Ja, warum denn nicht?‹ — ›Das Rohr von der Kohlensäurepression ist gebrochen, deshalb müssen wir warten.‹ — ›So, das auch noch! Pression bei dem Absatz‹, ereifert sich ein Sachverständiger, ›unser Schwechater verderben? Da könnt’s es selber trinken — ich gewöhn’ mirs Bier ab! Und deswegen fahr’n wir nach Amerika?‹ ...« Nun, eine Table d’hôte-Unterhaltung, wie sie eben Wiener führen; mögen sich die Stewards, die sonst nicht gewohnt sind, unter ihrem gesellschaftlichen Niveau zu servieren, darüber ihre Meinung bilden. Aber man höre einmal die Kajütengespräche, die der Vertreter der Neuen Freien Presse erlauscht hat. Zuerst die Beratung zweier Sänger, »wer das obere Bett benützen soll«. Dann heißt es wörtlich: »›Da braucht man ja einen Aufzug, um hinauf zu kommen.‹ — ›Bitt’ Sie, trinken S’ und essen S’ nicht zu viel während der Seereise‹, mahnt der untere, ›es ist wegen der Seekrankheit.‹ — ›Ich kann wenigstens auf die Uhr schau’n‹, konstatiert der obere mit Befriedigung, ›hab’ das Licht vor der Nase.‹« Das müssen hunderttausend Leser auf dem Festland mitanhören. Man legt sich mit der Banalität zu Bett. Und, o Grauen, man steht mit der Gemeinheit auf. Denn: »die Nachbarn verlangen vom Badesteward ein Bad. ›Jetzt ist es besetzt.‹ — ›Wie lange wird es dauern?‹ — ›Eine halbe Stunde.‹ ... ›Ja, wann kommen denn wir dran?‹ — ›Wahrscheinlich um zwei Uhr nachmittags‹, eröffnet der Badedirektor, ›es sind noch siebzehn vorgemerkt‹ — ›Warum haben Sie denn das nicht gleich gesagt?‹ fragen gleichzeitig beide Tenoristen. ›Weil Sie sich erst abends vormerken lassen können.‹ ... ›Ich hab’ mich ja eh’ vorige Woche dreimal gebadet, es ist nur, daß der Schwitz ’runter kommt, und so‹, erklärt der untere und geht ans Waschen. ›Wo ist denn mei’ Reibsackl?‹ — ›Verbrauchen S’ nicht ’s ganze Wasser!‹ warnt der obere. — ›Es bleibt Ihnen eh’ noch ein halber Liter; wo haben S’ denn wieder mein’ Hosenträger hinmanipuliert?‹« ... Welch homerische Gegenständlichkeit! Und wie werden Individualitäten, die sonst im Wirbel der Weltgeschichte untergetaucht wären, mit ein paar markanten Strichen hingestellt! Die Stimmung der Reisegesellschaft ist deprimiert. Das Wetter! »Sie regnet«, sagt der launige Wiener in solchem Falle, wenn er daheim ist. Aber auf einer Seefahrt! »Man ist zu nichts aufgelegt. Viele machen es wie Herr Ackerl, legen sich nach dem Frühstück in die Bordstühle und schlafen weiter.« Man wird sich den Namen Ackerl merken müssen. Oder wie anschaulich wirkt es, wenn wir lesen: »Da schlängelt sich Herr Dworaczek von einer Gruppe zur anderen, die Verlegung der nachmittägigen Probe auf elf Uhr vormittags ankündigend, weil abends das Kapitänsdiner stattfindet«. Und nun das Entsetzen, das sich mit dem Gerücht verbreitet, man werde zum Essen den Frack anziehen müssen. Da sich dieses Entsetzen aller Betroffenen bemächtigt, unterbleibt die Aufzählung von Namen. »Was, den Frack soll ich auspacken? — da geh’ ich gar nicht nunter, hab’ keinen Platz zum Einpacken.« — »Dieser Gedanke«, sagt der Vertreter der Neuen Freien Presse, »ist in allen Variationen zu hören, und mancher fährt aus seinem Schlummer mit dem Schreckenswort: ›Was? Frack?‹« Die Gedankentätigkeit der Wiener Sänger läßt sich indes durch solche Zumutungen von der Hauptsache, dem Essen, nicht ablenken. Und einem Schiff, das elftausend Kilo Rindfleisch mitführt, können sie sich beruhigt anvertrauen ... Damit man aber nicht glaube, daß die Mitglieder eines Männergesangvereins sich außer der Verdauung nur noch mit Tarockspiel und die gebildeteren etwa mit dem Schreiben von Ansichtskarten beschäftigen, versichert der Korrespondent, daß sie sich auch für Delphine interessieren, die sich aber ihrerseits für den Chorgesang durchaus nicht zu begeistern scheinen. Ungemein plastisch ist die folgende Schilderung: »Der Ruf: ›Delphine!‹ wirkt wie ein Alarmsignal. — ›Wo? Wo?‹ — ›Hier, dort, aha, hier auch einer, o, viele!‹ — ›Singen wir etwas, vielleicht kommen sie näher!‹« Aber sie denken nicht daran, sie sind weit entfernt näherzukommen, sie suchen nicht mehr Anschluß in Zeiten, da Gesangsvereine die Meere bevölkern und statt der picksüßen Weisen eines Arion die Schrammeln und das Hallodriquartett locken ...

Doch wo Männer und Frauen auf einem Deck versammelt sind, darf ein intelligenter Berichterstatter nie versäumen, neben dem Appetit auch der zarteren Triebe zu gedenken, galante Spiele zu beobachten und aufzupassen, wann der Schneiderhan balzt. Im Nu entwickelt sich jene erotische Stimmung, die der Dichter so unvergleichlich in dem Liede festgehalten hat: »Weibi, Weibi, sei doch nicht so hart! — Bist so spröde, wart’ nur, Schlimme, wart’! — Denk’, mein süßes Zuckerkanderl — Jedes Weiberl braucht ein Manderl!« »Geh’n S’ weg, Sie Schlimmer!« antwortet ein Chor von Frauenstimmen. Und nachdem wir erfahren haben, daß in Genua außer den selbstverständlichen elftausend Kilo Rindfleisch auch ein ebenso großer Proviant an Schöpsernem, Kälbernem, Lämmernem, Schweinernem usw., usw. aufgeladen wurde, wirkt es erst sinnig, wenn der Vertreter der Neuen Freien Presse zur nachfolgenden Schilderung ausholt: »Schwerer ist es, die Zerstreuungen der Damen zu schematisieren. Nur in einem Pläsierchen sind fast alle ausnahmslos zu beobachten. Hingegossen auf die Deckchaiselongues, kokettieren sie mit ihren eigenen Füßchen, deren Zierlichkeit selbst von den verschämtesten Bässen nicht übersehen wird. Dabei wird übrigens das Schöne mit dem Nützlichen verbunden. Ein Buch, eine Handarbeit vervollständigen — allerdings sehr selten — den Reiz der Attitude. Zumeist frönen die Äuglein in Bewunderung der Natur. Die Damen — — (acht Namen) und andere fehlen bei keinem Sonnenuntergang, dessen Stadien Frau F. (Name) skizziert, während Fräulein H. (Name) ihre Empfindungen dem Tagebuch anvertraut. Bei diesem unvergleichlichen Schauspiele unterbricht auch Frau Schneck die Stickerei der Autogramme hervorragender Mitglieder der Reisegesellschaft, und selbst die Häklerei der nie untätigen Frau S. (Name) sinkt in den Schoß.« Von diesem Anblick gebannt, taucht die Sonne nur langsam ins Meer. Und wenn dann der Korrespondent der ›Zeit‹, der sich darüber beklagt, daß er auf dem Schiffe so oft baden muß und sobald er nur vom Steward geweckt wird, schon die Vorempfindungen »peinlicher Sauberkeit« hat; wenn Herr Bendiener den verfluchten Kerl spielt, von heimlicher Augensprache und stummen Händedrücken diskret berichtet und zugleich die »Hüterin seines eigenen Hauses« aus der Ferne neckisch beruhigt, so sind wir allmählich in die Stimmung eines Sommernachtstraums gerückt, die bloß durch die Nennung der Firma Jensen & Schwidernoch, welche das Reisetagebuch geliefert hat, ein wenig beeinträchtigt wird. Das macht aber nichts: wir nähern uns ja schon der so anzüglichen Küste von Tarifa ... Und der eintönige Ruf der in ihrer Art auch beziehungsvollen »Mastwache« klingt durch die Stille, »unten aber schlafen Hunderte in Sicherheit und träumen von Liebem, Süßem«, von der Heimat und deren Zeitungen, in denen sie alle ihre Namen gedruckt finden werden.

Daß auf solch einer Fahrt »der Humor nicht zu kurz kommt«, versteht sich von selbst. Der Vertreter des Neuen Wiener Tagblatts hatte Gelegenheit, Zeuge einer originellen Szene zu sein. Ein erwachsener Oberrechnungsrat »nimmt eine Prüfung aus den Reisemitteilungen vor. Mit großer Strenge fragt er den Kandidaten: ›Wie ist das Klima der Vereinigten Staaten?‹ Jede Antwort ist natürlich ungenügend. Sie lautet richtig: ›Das Klima ist keineswegs.‹ Der betreffende Satz in den Reisemitteilungen lautet nämlich in Wirklichkeit: ›Das Klima an der Ostküste der Vereinigten Staaten ist keineswegs, wie vermutet werden könnte, ein ozeanisches ...‹ Zweite Frage: ›Was ist der Amerikaner?‹ Antwort: ›Er ist stolz‹ ... ›auf sein Land und seine kulturelle Entwicklung‹ heißt es natürlich in den Mitteilungen weiter. Diese und ähnliche Fragen erwecken stürmische Heiterkeit.« Wie denn auch nicht? Aber was ist das alles gegen die gute Laune der Frau des Vereinskassiers, die »ein über das andere Mal ausruft: ›Das heutige Tagblatt möcht i haben!‹ oder: ›Bitt schön, wie komm i denn auf den Franziskanerplatz?‹« Natürlich bleibt die Seekrankheit, mit ihren Indizien, mit ihrem Ausbruch, mit ihrem Verlauf, das weitaus beliebteste humoristische Motiv, wird aber von den mitreisenden Ästhetikern in die Kategorie des »Tragikomischen« eingereiht. »Wohl dem«, sagt der Ironiker der Neuen Freien Presse in kaustischer Umschreibung, »der ein verläßliches Vis-à-vis mit gutem Magen und festen Nerven hat, sonst ist es um den Frack geschehen, eine Gefahr, die durch Languste mit Remoulade, Freibier und Sekt nicht gemildert wird«. Aber leider muß er melden, daß sich einige Reisegefährten »bereits in unauffälliger Weise mit dem bekannten Seeheiligen ins Einvernehmen gesetzt haben«. Der resolute Vertreter des demokratischen Organs hingegen spricht gradezu von der »Anrufung des heiligen Ulrich«. Die Neue Freie Presse ist dafür wieder das besser informierte Blatt. Wo die anderen bloß ein Stimmungsbild entwerfen, gibt sie eine Statistik. Und es dürfte wohl zum erstenmal der Fall sein, daß jene Herren und Damen, die auf einer Seefahrt ihren Mageninhalt entleeren mußten, in einer Zeitung genannt, wie in einer Liste repräsentativer Persönlichkeiten »u.a.« angeführt werden, »u.a.« war zwar immer ein Brechlaut; aber es scheint vielleicht doch des Guten zu viel getan, wenn auch solche Leistungen der Nachwelt übergeben werden. Denn so stark hier der produktive Anteil der Persönlichkeit im Vergleich zu der bloßen Anwesenheit bei einem Sonnenuntergang sein mag, so ist es doch eine trostlose Vorstellung, daß noch Kinder und Kindeskinder von solchen Verdiensten unserer Zeitgenossen erzählen werden. Darüber macht sich aber die Neue Freie Presse keine Gedanken; ihr ist das Leben ein ununterbrochener Concordiaball, und schon notiert der Toiletteberichterstatter: »Das natürliche Weiß kleidet manche Damen umso besser, als es verläßlich unverfälscht ist.« Wörtlich wird dann, im Tone der Verherrlichung eines Bahnbrechers, gemeldet: »Der erste Seekranke war Herr Sild schon in den ersten Tagen der Reise und laboriert seither noch immer daran.« Folgt wirklich und wahrhaftig die Aufzählung der »Leidensgenossen leichteren Genres«, eine Serie speiender Notabilitäten, kotzender Kommerzialräte, vomierender Hoflieferanten. »Man wird vornehmer, feiner auf hoher See«, meint ein anderer Berichterstatter, »darüber ist kein Zweifel. Man sieht tiefer in die Geheimnisse des Lebens.« Ach ja, Männer und Frauen werden bis in jene Winkel ihres Privatlebens verfolgt, in die sie streng separiert flüchten mußten. Hätte einer die rechte Tür verfehlt, der Vertreter der Neuen Freien Presse hätte gewiß nicht verfehlt, in besonderer Kabeldepesche von einem »lustigen Quiproquo« zu sprechen ... Der Ekel beginnt selbst den Leser eines Weltblattes zu würgen, und auch er muß dorthin, wo der Journalist sein Interview verrichtet. Wenn sich aber das Meer über so schamlosen Mißbrauch von Druckerschwärze endlich beruhigt hat, wenden sich Sänger und Schmöcke wieder heiteren Spielen zu, und die Gefälligkeit der Berichterstattung fließt mit dem Humor dieses Künstlertums zu einer Symphonie der Gehirnerweichung zusammen, in der Anklänge an die »Lustige Witwe« — man nennt launig eine »vielumworbene« Mitreisende nach ihr — natürlich nicht fehlen dürfen. Kein Mißton aus jenen Gegenden, in die der Vertreter der Neuen Freien Presse soeben gekrochen war, stört mehr die Lebensfreude dieser Schlaraffen, zwischen Wimpeln und Wampeln geht froh die Fahrt, die Magenwinde sind günstig, und ungetrübte Heiterkeit weckt ein Advokat, der mit offenem Munde schläft und in dieser »überwältigenden« Situation selbstverständlich photographiert wird. Überhaupt ist das Vergnügen an den »Tücken« des photographischen Apparates unbändig. »Man fordert sich auf Apparate, trägt Händel mit Apparaten aus, aber auch die Damen«, versichert der galante Vertreter der Neuen Freien Presse, »gewähren die höchste Gunst nur mit ihren Apparaten.« Und wehe dem Herrn, setzt er schalkhaft hinzu, »der sich, endlich einmal unbemerkt wähnend, dort kratzt, wo es ihn ausnahmsweise einmal beißt!« Mitglieder des Männergesangvereins kratzen sich nämlich immer, wenn es keiner sieht, und diejenigen unter ihnen, die es dann doch sehen, finden es humoristisch. Es ist also ganz harmlos aufzufassen, wenn der Korrespondent sagt, daß es in der Reisegesellschaft Damen gebe, »die nur auf Spezialmomente männlicher Natürlichkeit lauern«, um dann eben mit ihren Apparaten die höchste Gunst zu gewähren ... Aber der Humor des Kratzens, die Komik verschwitzter Socken und verlegter Reibsackeln, ja selbst der Spott, den eine zerstörte Damenfrisur oder die Unbequemlichkeit des Frackanziehens in der Kajüte hervorruft, kann mit jener tief satirischen Erfassung menschlicher Schwächen, die sich in dem befreienden Lachen über die Seekrankheit ausdrückt, nicht wetteifern! Der Abdominalwitz ist und bleibt die eigentliche Domäne singender Vereinsbrüder.

Doch neben dem Vergnügen an der Aufnahme und Widergabe des täglichen Brotes soll auf einem Dampfer die Andacht, die dafür dankt, nicht fehlen, und eine Sonntagspredigt, der die Reisegesellschaft »ohne Rücksicht der Konfession« beiwohnen darf, versetzt die anwesenden Schmöcke in gerührte Stimmung. Aber wenn »Friede« durch solche Seelen zieht, wird die Luft nicht besser. Ja man sehnt sich nach den verschlagenen Winden des Humors zurück, wenn einmal die Vertreter der Wiener Presse den Zusammenhang mit dem Weltganzen zu ahnen beginnen, wenn Rezensenten, die nicht wissen, wo Gott wohnt, ihn loben, als ob er der Chormeister selber wäre. »Eine Probe Kremsers hat den Wert einer akademischen Demonstration, sie ist nicht einpaukend für ein Lied, sondern bildend für die Kunst des Vortrages.« So wie etwa eine Probe des journalistischen Deutsch nicht beibringend für eine Reklame ist, sondern bildend für die Kunst des Ausdrucks. Und Gott? Und was ist mit dem Weltganzen? Gott über die Welt, beinah hätten wir vergessen: »In dem weiten Kreise, den das Auge aus dem Mittelpunkte überblickt, ein einziges Gebilde von Menschenhand, ein auf dem wogenden tückischen Elemente schwankendes Schiff, das winzige Stück festen Bodens zwischen dem Leben von Hunderten und den unerforschten Tiefen des Ozeans!« Ein wahres Glück, daß wenigstens die Menukarte erforscht ist und man mit einiger Sicherheit nach Wien berichten kann, daß es heut Rebhendeln gibt ... Das Tafelleben entschädigt die journalistischen Mitesser für manche Enttäuschung. Sie durften auf Madeira nicht landen, weil dort die Pocken herrschen. Journalistische Tantalusqualen: »Wir sahen das Ganze zum Greifen nahe, aber die Barkasse durfte nicht in unsere unmittelbare Nähe kommen« ...

Da ich diese pietätvolle Reiseschilderung vom Standpunkt des in Wien zurückgebliebenen Lesers entwerfe, sind die Berichte über die Landung und über das Benehmen der Wiener in Amerika noch nicht eingetroffen. Gigantisches steht uns bevor. Die furchtbare Plastik, mit der das begleitende Schmocktum jeden Rülps auf dieser Banausenfahrt verewigt hat, wird amerikanische Dimensionen annehmen. Die Sentimentalität des Bauches wird in die Höhen der Wolkenkratzer emporfahren und das Motiv der Heimatssehnsucht, das schon in St. Pölten losgelassen wurde, bis in die Zelte der Indianer dringen. Aber diese Rindfleischbewußten, denen eine Schiffahrt eine Mastkur bedeutet, sie werden sich schließlich auf die Eindrücke einer fremden Kultur ausreden, wenn ihnen der sogenannte Gesichtskreis erweitert wurde, und behaupten, daß ihnen das deutsche Wams zu enge sei. Gemütliche Wiener, lebend und leben lassend, fröhliche Sänger, fahrend und fahren lassend!

... Diese triumphalen Ausschreitungen eines öden Genießertums, die einem die Freude an der Lebensfreude benehmen könnten, geschehen in den Tagen, in denen ein ebenso stimmkräftiger Männerchor die Geburt eines neuen Österreich verkündet. Ich bekenne aus tiefstem Unglauben die Überzeugung, daß keine Wahlreform der Welt jenen Geschmack verändern wird, der einen Transport von Spießbürgern zum Ereignis macht! Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser; Österreich ist ein Männergesangverein. Hier, in der stimmberechtigten Gemeinheit, sind die starken Wurzeln seiner Kraft. Österreichs politische Repräsentanz wird auf sein Schicksal weniger Einfluß haben, als ein Leichenkutscher auf die Unsterblichkeit der Seele.