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Der Biberpelz

Mai 1910

Mein Wiener Dasein ist jetzt wieder reicher geworden, das ewige Sichdiewanddeslebensentlangdrücken, damit man auf dem Trottoir von keinem Trottel angesprochen wird, hat ein Ende, und jeder Tag bringt neue Abenteuer. Durch all die Jahre keine Gesellschaft, kein Theater, kein Blumenkorso — wie hält man das nur aus? Die Zufuhr der wertvollsten Eindrücke abgeschnitten; und wer weiß, wie lange der innere Proviant gereicht hätte. Selbst die Katastrophen der Saison, Komet und Jagdausstellung, schienen an diesem Zustand nichts ändern zu können. Gewiß, ich wills nicht verhehlen, ich erwartete mir einige Anregung vom Weltuntergang. Wenns aber wieder eine Niete wäre? So lebt man dahin auf dem schmalen Pfad, der von immer demselben Schreibtisch in immer dasselbe Lokal führt, wo man immer dieselben Speisen ißt und immer dieselben Menschen meidet. Froher wird man nicht dabei. Die Welt rings ist bunt, und man möchte sich doch an ihr reiben, um zu sehen, ob die Farbe heruntergeht. Man will nicht auf so viel verzichten, ohne zu erfahren, wie wenig man verliert. Nur einmal noch an der vollbesetzten Tafel sitzen, alle Rülpse der Lebensfreude wieder hören, die Schweißhand der Nächstenliebe drücken — ich träumte davon, und eine gütige Fee, wahrscheinlich jene, die den Operettenkomponisten die Lieder an der Wiege singt, hat mich erhört. Ich bin mitten drin, die Erde hat mich wieder — mein Pelz ist mir gestohlen worden!

Nichts hätte mich den Menschen näher bringen können als der Diebstahl meines Pelzes. Ich müßte jetzt schon mit den Mitteln eines Caracalla arbeiten, wenn ich mich ihres Umgangs erwehren wollte. Jetzt gibts kein Zurück mehr in die Lebensflucht, jetzt heißt es in den sauern Apfel beißen und ein Menschenfreund sein! Ich habe mich lange genug verhaßt gemacht; aber nun vergeben sie mir, was sie an mir gesündigt haben. Sie vergeben mir, sie lieben mich, sie bedauern mich, sie bewundern mich, denn es läßt sich nicht mehr verbergen, alles Leugnen hilft nichts — mein Pelz ist mir gestohlen worden! Und in einem unbewachten Augenblick hatte mich da die Geselligkeit beim Wickel. Ich lebte still und harmlos, ich war ein Privatmann, denn ich übte seit vielen Jahren eine literarische Tätigkeit aus. Ich hatte nicht gewußt, daß ich vor allem einen Pelz besaß. Ich schrieb Bücher, aber die Leute verstanden nur den Pelz. Ich brachte mich selbst zum Opfer, und die Leute meinten den Pelz. Als ich ihn nicht mehr hatte, kam die allgemeine Anerkennung. Ich habe durch den Verlust des Pelzes die Aufmerksamkeit des Publikums gerechtfertigt, die ich durch den Besitz des Pelzes erregt hatte. Im Kaffeehaus — wo es geschah — war die erste Wirkung des entdeckten Diebstahls ein chaotisches Durcheinander, worin einige bestürzte Kaffeehausgäste zu zahlen vergaßen, und in dessen Mittelpunkt ich so plötzlich geraten war, daß ich mir erst auf dem Umweg der Überlegung darüber klar werden konnte, daß ich den Pelz bestimmt nicht gestohlen hatte. Man nahm eine Haltung an, als wollte man mir die Kleider, die ich noch hatte, vom Leibe reißen, und von allen Seiten brachen Vorwürfe wegen meiner Sorglosigkeit über mich herein. Auf diese Art schien sich die Empörung über den Dieb, der sich den Folgen seiner Handlungsweise entzogen hatte, Luft zu machen, denn mich hatte man, an mich konnte man sich halten, und wenn ich mich, erschöpft von der Untersuchung des Falles, zurücklehnte, in der rechten geistigen Verfassung, um endlich eine Zeitung zu lesen — dann ging der Chor der Nebenmenschen an mir vorüber und rief: »Nein, so was!« Ich spürte den Stachel des Vorwurfs. Zu spät sah ich ein, daß man, wenn man einen Pelz hat, auch gewisse Pflichten gegen die Welt hat, und es blieb mir nichts übrig, als jetzt jene letzte Pflicht gegen die Welt zu erfüllen, die man noch hat, wenn man keinen Pelz mehr hat: die Pflicht, Rede und Antwort zu stehen. Denn wenn es in solchen Fällen schon nicht mehr möglich ist, zu erfahren, wo der Pelz hingekommen ist, so muß man dem Publikum und der Polizei wenigstens darüber Auskunft geben, wo er hergekommen ist, wieviel er gekostet hat, wieviel er heute wert ist, ob der Kragen lange oder kurze Haare hatte, und ob die Schlinge aus Tuch oder aus Leder war. Die Polizei fragt außerdem noch, ob man einen Verdacht hat. Ein Verdacht wärmt, wenn man keinen Pelz hat, und ein Verdacht, den man hat, ist nach der Ansicht der Polizei immer eine hinreichende Entschädigung für die Gewißheit, die einem abhanden gekommen ist und die sie einem nie wieder verschaffen wird. Wozu diese Einmischung durch eine Amtshandlung? Ich hatte immer geglaubt, daß sich die Polizei um die öffentliche Sittlichkeit kümmere und nicht um Angelegenheiten des Privatlebens, wie einen gestohlenen Pelz. Aber diese Neugierde! Kaum war mir der Pelz gestohlen worden, waren auch schon drei Vertreter der Polizei im Lokal, drängten sich durch die Wucherer, die meinen Tisch umstanden und ihrer Entrüstung über den Diebstahl Ausdruck gaben, und fragten mich, ob ich einen Verdacht habe. Nun war auch die Nachbarschaft auf den Beinen, denn wie ein Lauffeuer hatte sich in der Großstadt das Gerücht verbreitet, und zahlreiche Passanten, unter denen man u.a. Persönlichkeiten bemerkte, die schon von ihrer Anwesenheit bei Premieren und Erdbeben bekannt sind, wohnten der Amtshandlung bei. So taktvoll und würdig nun sich der Pelzdiebstahl vollzogen hatte, in so marktschreierischer Weise äußerte sich das Mitgefühl des Publikums. Denn während die Pelzdiebe kein Aufsehen lieben, legen die Bankdiebe den größten Wert darauf, überall bemerkt und in den Zeitungen genannt zu werden. Hier freilich hatten sie sich einmal verrechnet. Denn die Zeitungen würden auch von einem Kometen keine Notiz nehmen, wenn sein Schweif meinen Kopf berührt hätte. Aus demselben Grunde mußte ich befürchten, daß sich der Chef des Sicherheitsbureaus dieser Sache nicht so energisch annehmen werde, wie er es in Fällen gewohnt ist, wo die Aussicht auf publizistische Unterstützung ihn zu einer fieberhaften Tätigkeit spornt. Natürlich läßt sich das echte fachmännische Interesse durch solche Bedenken nicht abweisen. Während mich nun die Vertreter der Behörde um Alter, Beschäftigung und Vorstrafen befragten, sprachen einige Gäste immer wieder ihr Bedauern aus, daß sie gerade nicht hingesehen hätten, als der Pelz gestohlen wurde, und vertraten die Ansicht, daß der Dieb sich einen Augenblick gewählt haben müsse, wo er sich nicht beobachtet fühlte. Das Personal wurde mit Fragen bestürmt, aber der Zahlmarkör, der Zuträger, der Pikkolo und der Feuerbursch — sie alle hatten bloß den einen Wunsch: »Wann i nur amal so einen derwischen könnt, den derschlaget i!« Ich bat, sich in Gegenwart von Kriminalbeamten nicht zu gefährlichen Drohungen hinreißen zu lassen, richtete noch an diese das Ersuchen, dafür zu sorgen, daß ich nicht vorgeladen würde, weil ich ja doch nichts anderes aussagen könnte, als daß ich keinen Pelz und keinen Verdacht habe, und entzog mich den Ovationen der Menge, indem ich meinen Hut nahm, der noch da war, und mich zum Ausgang wandte, an der Kassierin vorbei, welche die Hände rang. Draußen grüßten mich die Fiaker, die sich von dem Ereignis des Tages irgendwie einen besonderen Vorteil erhofften. Einer der Polizisten aber holte mich ein und machte mir den Vorschlag, mit ihm zu gehen und das Verbrecheralbum durchzusehen. Ich lehnte diesen Vorschlag ab, weil mir jede Vergleichsmöglichkeit fehle, solange ich den Dieb meines Pelzes nicht gesehen hätte. Die Polizei solle ihn erst zur Stelle schaffen, dann wäre ich gern bereit, ihn nach der Photographie zu agnoszieren. Einer der Kellner aber behauptete plötzlich, einen Verdacht zu haben, und schien entschlossen, mitzugehen. Diese Recherche hat, wie ich später erfuhr, meiner Sache nicht wesentlich genützt, dafür aber anderweitige erfreuliche Resultate ergeben. Der Kellner soll nämlich einige frühere Stammgäste des Kaffeehauses erkannt haben, und noch nie zuvor, heißt es, sei in einer Polizeistube eine so freudige Stimmung des Wiedersehens laut geworden. Schließlich mußte man, da diese Rufe »Jessas, der Herr von Kohn!« und »Nein, der Herr von Meier!« nicht aufhören wollten, dem braven Burschen das Bilderbuch aus der Hand reißen. Am nächsten Tag erhielt ich eine Vorladung, der ich aber nicht Folge leistete. Immer hatte ich es bisher streng zu vermeiden gewußt, daß mir etwas gestohlen würde; denn nichts fürchte ich mehr als Unannehmlichkeiten mit der Polizei. Man hat mir auch tatsächlich nie das Geringste nachweisen können. Sollte ich jetzt wegen des einen Fehltrittes mir eine so peinliche Untersuchung auf den Hals laden? Nimmermehr! Ich stellte mich der Polizei nicht! Wenigstens war ich entschlossen, es nicht eher zu tun, als bis sie den Pelz hätte. Ich hoffte übrigens, daß sie den Fall vertuschen und mich ruhig meiner gewohnten Beschäftigung nachgehen lassen werde.

Als ich somit wieder ins Kaffeehaus kam und meine Leseecke aufsuchen wollte, standen einige Herren davor, die sich sonst nur für Trabrennen interessierten, aber diesmal eine Wette abgeschlossen hatten, ob ich den Pelz bekommen würde oder nicht. Die der Meinung waren, daß ich ihn bekommen werde, sagten: »Nicht wird er ihn bekommen!«; während die andern, die der Meinung waren, daß ich ihn nicht bekommen werde, ein über das andere Mal riefen: »Ja wird er ihn bekommen!« So vermochte ich die beiden Gruppen zu unterscheiden, ohne doch im Meritorischen eine Entscheidung treffen zu können. Ich setzte mich nieder und hörte aus dem Billardzimmer Rufe wie: »Echter Biber, sag ich Ihnen!« »Und ich sag Ihnen, Nerz!«, worauf ein dritter mit einem derben »Astrachan, Ihnen gesagt!« in die Debatte fuhr. Ich ließ fragen, ob es die Herren störe, wenn ich Zeitungen lese. Sie verneinten und gingen auf ein anderes Thema über, indem nämlich einer behauptete, sich noch an den Fall zu erinnern, wie dem alten Löw ein Pelz um tausend, sage tausend Gulden gestohlen wurde; und da ein anderer die Frage einwarf: »Welchem Löw?« und die zurechtweisende Antwort bekam: »No, der später in Konkurs gegangen ist!«, fühlte ich, daß die Aufmerksamkeit von mir abgelenkt sei, und war dessen froh. Ich nahm jene Zeitung zur Hand, die seit Jahren das Publikum dadurch zu interessieren weiß, daß sie meinen Namen nicht nennt, und suchte nach einer Notiz, in der davon die Rede wäre, daß einem Privaten ein Pelz gestohlen wurde und daß einer unserer Mitarbeiter Gelegenheit hatte, mit dem in den weitesten Kreisen bekannten Dieb zu sprechen. Da trat eine fremde Dame auf mich zu, tadelte mich wegen meiner Unachtsamkeit und fragte mich, ob ich noch mit der Familie T. verkehre. Ich antwortete, daß ich mit gar niemand verkehre, und bezahlte meine Zeche. Draußen grüßten mich die Fiaker, wiesen verheißend auf ihre Wagen, und riefen etwas wie »Verkühlns Ihna nur net« hinter mir.

Noch habe ich aber nicht erzählt, wie sich am Tage nach der Tat das Wiedersehen mit meiner Bedienerin gestaltet hat. Sie war eigentlich schuld, denn sie hatte mir, weil wir gerade im strengsten Mai einen Schneefall gehabt hatten, zugeredet, den Pelz anzuziehen, der Winters über beim Kürschner in Aufbewahrung gelegen war. Ich hatte mich gesträubt, denn ein unbestimmtes Gefühl sagte mir, daß bei Neuschnee die Pelzdiebe aus der Erde schießen, während die Schneeschaufler nichts zu tun bekommen, weil die Kommune die Konkurrenz des Tauwetters begünstigt. Aber wiewohl dieses schon eingetreten war, setzte die Frau ihren Willen durch, und richtig, eine halbe Stunde später war der Pelz gestohlen. Nun ist mir nichts peinlicher als Auseinandersetzungen über Dinge, die mit der Wirtschaft zusammenhängen, und so hatte ich, nachdem das Unglück geschehn war, nur die eine Sorge: Wie sage ich’s meiner Bedienerin? Es gab eine lebhafte Szene, und ich bekam allerlei zu hören. Denn das Herz der Frauen hängt an irdischem Tand, und sie können sich auch von fremdem Besitz nur schwer trennen, während ich mich erleichtert fühlte, als ich bei Tauwetter ohne Pelz das Kaffeehaus verlassen konnte. Überhaupt hatte mich der Verlust des Pelzes kalt gelassen, und was mir naheging, war nur der Verlust meiner Ruhe. Daß ich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, daß ich in Wien über Nacht berühmt war, und daß die Leute mit Fingern auf mich zeigten: »Dort geht er«, »Kennst’ ihn?«, »Aber ja, Biber«, »Er hat ihn effektiv nicht gekriegt« — das härmte mich, das fraß an mir wie Motten an einem Pelz, der einem nicht gestohlen wurde. Ich beschloß, die Straße zu meiden, bis ich das Gras über die Sache wachsen hörte. Aber als ich nach einer Woche mich behutsam in das Stammlokal wagte und den Weg von hinten nahm, da trat mir die Toilettefrau entgegen und sagte: »Mir hat’s furchtbar leid getan!« Da ich hineinkam, waren aller Augen auf mich und meinen Überrock gerichtet, und da ich ihn an den Kleiderstock hängte, rief s aus einem Winkel: »Aber jetzt heißt’s doppelt vorsichtig sein!« und aus dem andern Winkel: »Ja, durch Schaden wird man klug.« Als ein Kellner dazwischentrat und sagte: »Aber der Herr gibt ja so wie so acht«, rief eine Stimme aus dem Spielzimmer: »A gebrenntes Kind fürchtet das Feuer!« Der Kellner sagte: »Wann i nur amal so einen derwischen könnt, den —« Ich zahlte sofort und nahm mir vor, das Lokal nur des Nachts zu besuchen, wenn ein anderes Publikum da wäre. Kaum hatte ich unter veränderten Umständen Platz genommen, drehte sich ein englischer Trainer zu mir herum, schob seinen Sessel vor und begann, die Arme auf die Lehne gestützt: »Einmal mir ist gestohlen ein Pferdedecke ...« Ich sah, daß mein Erlebnis über das Mitteilungsbedürfnis der Wiener Bevölkerung hinaus dem internationalen Interesse entgegenkam. Ich fürchtete, daß hier die Hebung des Fremdenverkehrs ansetzen könnte. Ich schloß mich ein, und ich zeigte mich nicht eher, als bis mir die heiße Jahreszeit jede Gedankenverbindung mit einem Pelz auszubrennen schien. Da aber mußte ich es erleben, daß ein Mohr auf mich zutrat, der so perfekt Deutsch sprach, daß er mich fragen konnte, ob ich damals meinen Pelz wiederbekommen hätte. Ich suchte ein anderes Lokal auf — dessen Besitzer mich aber nicht nur durch seinen Gruß belästigte, sondern auch mit den Worten ansprach: »Bei uns wird Ihnen das nicht passieren!«

Ich erkannte, daß es kein Zurück mehr gab. Denn hier war ein Wiener Problem geboren. Hier war einmal eine Tatsache, die einen so plausiblen Reiz, eine so unmittelbare Popularität hatte, daß keine Rücksicht auf den Menschen, der von ihr betroffen wurde, die Leute fernhalten konnte. Hier war eine Solidarität hergestellt durch die in ihrer Einfachheit verblüffende Erkenntnis: daß das jedem von uns passieren kann! Ich war in den Ring einer Gemeinsamkeit einbezogen, die mir den Pelz bewachte, der mir gestohlen war, und die mir mit ihren Blicken das Maß für einen neuen zu nehmen schien, ohne mir ihn zu spenden. Jetzt mußte sich nur noch die Steuerbehörde für den Fall interessieren, die ja bald erhoben haben könnte, daß ich in den Verhältnissen bin, einen Pelz besessen zu haben. Ich begann den Dieb zu beneiden. Nicht weil er den Pelz hatte, sondern weil man ihm nicht draufgekommen war. Weil er auf freiem Fuße leben konnte, während es hinter mir »Aufhalten!« schrie und ich wie ein erwischter Bestohlener von der Dummheit eskortiert wurde ... Ich beschloß, mich aus dem Privatleben zurückzuziehen. Mir war eine Hoffnung geblieben. Daß es mir durch die Herausgabe eines neuen Buches gelingen werde, mich den Wienern in Vergessenheit zu bringen.