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Innere Sprachform der Chinesen

Steinthal gefällt sich in Abstraktionen, wenn er sagt, dass das Chinesische keine Worte kenne, sondern nur Sätze; wo kein Wort sei, könne darum kein Substantivum und Verbum sein, keine Deklination und Konjugation. Wo ist da die Lehre von der inneren Sprachform geblieben? Auch in unseren Sprachen haben, wie wir aus der Wichtigkeit der Situation für die Sprache erkennen werden, die einzelnen Worte des Satzes nur einen Wörterbuchsinn, bestenfalls einen allgemeinen grammatikalischen Sinn, aber niemals schon die Bedeutung, die sie im sogenannten Zusammenhange gewinnen. Auch bei uns wird das Wort erst durch den Satz erklärt, genau wie bei den Chinesen. Wollen wir dem chinesischen Geiste gerecht werden, so müssen wir nicht nur unsere grammatischen Vorstellungen vom Satze, vom Subjekt, Prädikat usw. aufgeben, sondern auch unsere europäischen Vorurteile vom Urteil und von dem, was man das logische Subjekt genannt hat. Wir werden einsehen lernen, dass das sogenannte logische Subjekt immer das Vorausgehende, die Summe der uns bekannten Vorstellungen in einer bestimmten Situation ist. Das logische Prädikat ist uns das Nachfolgende, die neue Beobachtung, das, was wir neu hinzuerfahren. Auch logisch wird dieser Vorgang nur fälschlich genannt. Er ist nichts weiter als der allgemeinste psychologische Vorgang der Assoziation, der im Chinesengehirn wohl ähnlich aussieht wie in dem unseren, nur dass die Hilfen der Assoziation, die wir in unserer Grammatik nach unserer Gewohnheit auseinanderlegen, dort andere Hilfen sind. Wären die chinesischen Hilfen — was ich für den eigentlichen Gehirnvorgang noch bezweifle — wirklich geringer an Zahl als die unseren, oder — was wahrscheinlicher ist — noch feiner und unmerklicher als unsere Deklinations-, Konjugations- und Steigerungssilben usw., so würde das nur beweisen, dass die Chinesen mit einfacheren Werkzeugen zu arbeiten sich gewöhnt haben. Wir sagen z. B. "Der Indoeuropäer ist der klügste von allen Menschen"; der Chinese würde von seinem Standpunkt ebenso richtig sagen: "Der Chinese ist der klügste von allen Menschen" — und es so ausdrücken: "Der Chinese tausend Menschen klug." Will wirklich jemand glauben, dass für den Chinesen die Lautgruppe "tausendklug" ein weniger deutlicher Superlativ sei als für uns "klügste"? Würden wir doch sogar das Wort "tausendklug" ohne Vorbereitung ebenfalls als absoluten Superlativ verstehen. Gerade im Deutschen (und ähnlich im Griechischen) haben wir in den freien Wortkompositionen etwas, was dem chinesischen Sprachgeiste analog ist. Man prüfe daraufhin Steinthals vortreffliches Beispiel "Klein-Kinder-Bewahr-An-stalt". Sagen wir statt dessen, was genau so verständlich wäre, "Klein-Kind-Bewahr-Anstalt" oder — um auch die Suffixe fortzuschaffen — "Klein-Kind-Schutz-Haus", so haben wir ebenfalls eine ganze Zahl von Begriffen ohne jede Spur von grammatikalischen Formen und doch ohne jede Zweideutigkeit vereinigt. Natürlich mußten wir erst die Sache kennen, um das zusammengesetzte Wort zu verstehen. Bevor es Klein-Kinder-Bewahr-Anstalten gab, wurde das einzelne Teilwort noch nicht durch das Gesamtwort erklärt. So findet der Neuling oder Anfänger auch das Chinesische schwer oder unverständlich. Sprachkenntnis setzt Sachkenntnis voraus. Luther hätte unsere Zeitungen so wenig verstanden, wie ein Anfänger, der zweihundert chinesische Worte sprechen und malen gelernt hat, Chinesisch versteht.

Noch törichter ist die europäische Verwunderung in solchen Fällen, wo eine Form im Chinesischen wirklich besteht und wo überdies gar kein Zweifel daran sein kann, dass der chinesische Begriff sich von dem europäischen durchaus nicht unterscheidet. Ich denke da zumeist an die chinesische Art, die Mehrzahl zu bezeichnen. Die Chinesen haben die Gewohnheit, zwischen das Zahlwort und das gezählte Hauptwort gewissermaßen den Begriff einzuschieben, nach welchem sie zählen. Sie sagen z. B. drei Schwanz Fische, vier Kopf Schafe, fünf Mund Hausgenossen, sechs Griff Messer usw. Man sollte diese Methode geistreich nennen oder doch wenigstens praktisch. Sie gibt sehr anschaulich an, wie am bequemsten zu zählen sei oder was der Grund des Zählens sei. Auch wir sagen drei Laib Brot, vier Blatt Papier; auch sagt wohl ein Familienvater drastisch, er habe fünf Mäuler zu ernähren. Ebenso scheint es mir anschaulich und darum gut, wenn die Chinesen die Mehrzahl "Tugenden", das heißt ihre vier Kardinaltugenden, dadurch ausdrücken, dass sie ihre vier Tugenden konventionell nebeneinander nennen, wenn sie ebenso ihre Lebensfreuden konventionell durch die vier Worte für "Essen-Trinken-Wollust-Spiel" ausdrücken. Zufällig haben die Chinesen, wohl weil sie Menschen sind, dieselben Tugendbegriffe und dieselben Freudenvorstellungen wie wir. Wäre dem aber auch anders, so besäßen sie doch zum mindesten unseren Begriff von der Mehrzahl und unseren Begriff vom Einmaleins.

Wir, die wir selbst unsere Sinne als Zufallssinne erkannt haben, werden uns sicherlich nicht darüber verwundern, dass die Erinnerungszeichen für Sinneseindrücke Zufallszeichen geworden sind, dass nicht nur die Begriffe, sondern auch die Kategorien des Sprachbaus bei den Chinesen anders geworden sind als bei uns. Wir können es nicht ablehnen, den chinesischen Sprachbau mit dem unserigen zu vergleichen, wohl aber müssen wir es ablehnen, in den Formen unseres Sprachbaus einen Maßstab oder gar einen Wertmesser zu sehen für die Formen entlegener Sprachen.

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