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Tote Sprachen

Wenn man von toten Sprachen redet, so glaubt man auf irgendeine ehemalige Sprache des Volks oder auf die Sprache eines ehemaligen Volks die bekannteste und volkstümlichste von allen Metaphern anzuwenden. Was könnte den Menschen außer dem Leben vertrauter sein als der Tod? Und doch ist die Übertragung des Todesbegriffs auf die Sprache um so viel schwankender, als auch seine ursprüngliche Bedeutung einer ernsten Frage nicht standhält. Wie sollten wir auch wissen, was der Tod ist, die wir nicht wissen, was das Leben ist. "Leben" ist eine notdürftige Abstraktion für das, was wir an uns selbst als Lebenserscheinungen kennen. Nehmen wir keine Lebenserscheinungen mehr wahr, so nennen wir diesen Mangel an Wahrnehmungen den Tod.

Der Todesbegriff hat noch andere Schwierigkeiten. Er kann nur das Aufhören eines Individuums bedeuten, und wir wissen ja nicht, was ein Individuum sei. Die Hebe, welche auf dem Freundschaftsstück bei Deidesheim 1893 die edelsten Trauben getragen hat, ist nicht ein nachgeborenes Enkelkind der Rebe, welche vor anderthalb Jahrtausenden ein römischer Kaiser am Rhein pflanzte; sie ist vielmehr dieselbe Rebe, weil immer wieder Teile der lebendigen Pflanze weiter grünen. Das individuelle Leben der Rebe des Kaisers Probus hat nicht aufgehört. Auch wo die Fortpflanzung durch Früchte geschieht, wie z. B. beim Getreide und bei entwickelteren Tierarten bis zum Menschen hinauf, auch da geht ein individuelles Leben durch die Jahrtausende. Wollte ich mit apriorischen Gründen bestechen, so würde ich sagen: es ist ja gar nicht anders möglich, als dass das Menschenkind individuell gebunden sei an die endlose Reihe seiner Ahnen, weil sonst seine Existenz, sein organischer Körper, der doch nur ererbtes Artgedächtnis ist, nicht möglich wäre; ich könnte so ein fortgesetztes Individuum nennen, was gewöhnlich eine Art heißt. Auch Leben und Tod sind nur relative Begriffe. Erst wenn eine Tierart ausstirbt, erst wenn eine Familie erlischt, erst dann ist der Tod eingetreten.

Es ist das kein Spiel mit Worten. Im Gegenteil, die schwatzenden Menschen spielen mit dem Worte Tod, wenn sie es alle Tage wie eine Scheidemünze gebrauchen und wenn sie es gar auf wirklichere Dinge anwenden als auf das Aufhören eines in den Registern des Standesamts verzeichneten Individuums. Die Register des Standesamts sind kein philosophisches Werk. Man hat den Todesbegriff metaphorisch in der Mechanik gebraucht und meint eine schlummernde Kraft (z. B. die Schwere des Dachziegels, bevor er herunterfällt), wenn man von einer toten Kraft spricht. Mit unbewußter Weisheit nennt aber die Mechanik auch denjenigen Punkt, an welchem z. B. das Schwungrad der Dampfmaschine sich für die eine oder andere Richtung entscheiden könnte, wenn es nicht bereits eine bestimmte Richtung besäße, den toten Punkt. Auch der Tod eines Menschen ist nur der Punkt, auf welchem die Natur sich entscheidet, ob der Stoff weiterhin die Erscheinungen des Lebens oder die Erscheinungen der "toten" Chemie bieten soll.

Wieder anders sieht man die Dinge, wenn man die Sprache mit dem organischen Leben vergleicht und von toten Sprachen redet. Die landläufige Vorstellung, dass eine tote Sprache diejenige sei, die von keinem Volke mehr gesprochen werde, ist ungenau. Ungelehrte Menschen wissen von solchen Sprachen nur durch Hörensagen, und für die Sachkenner gibt es fast keine toten Sprachen. Vielleicht enthielten die hieroglyphischen Inschriften eine Sprache, die zur Zeit ihrer Niederschrift längst nicht mehr gesprochen wurde. Aber wir haben bekanntere Beispiele von Sprachen, welche keine Volkssprachen mehr waren und dennoch in gewissen Berufskreisen und bei gewissen Lebenserscheinungen fortwirkten. Das alte Sanskrit war zur Zeit der klassischen Dichter und Grammatiker Indiens bereits eine tote Sprache und wird in den dortigen Gelehrtenschulen heute noch zu Zwecken gelehrt, die halb theologisch, halb philosophisch sind. Hebräisch ist seit langer Zeit eine tote Sprache, und doch gewinnt sie täglich Leben, wenn ein orthodoxer Jude am Todestage seines Vaters oder am Versöhnungstage die Formeln in dieser toten Sprache aufsagt. Das Latein hörte vor anderthalb Jahrtausenden auf, eine Volkssprache zu sein, und wurde in Rom selbst von einer Mundart verdrängt; noch tausend Jahre jedoch blieb diese tote Volkssprache lebendig in dem großen Kreise der internationalen europäischen Schreiberwelt; in den letzten Jahrhunderten sind diese Kreise immer mehr zusammengeschmolzen, aber heute noch ergreift die tote lateinische Sprache in der katholischen Messe das Herz orthodoxer Italiener, und heute noch zuckt ein letztes Leben dieser Sprache in den Köpfen römischer Juristen und schönheitstrunkener Dichter.

Mit diesen letzten Zuckungen des Sprachlebens sollen aber nur diejenigen Reste gemeint sein, in denen nicht nur der Wortschatz, sondern auch die Sprachform des alten Latein gewahrt sind. Denn sonst müßte man das Fortleben des Latein nicht nur in den romanischen Sprachen, sondern auch in der englischen Mischsprache und selbst im Deutschen unaufhörlich annehmen. In Wirklichkeit ist eine Grenze zwischen dem Leben und dem Tode einer Sprache nicht zu ziehen. Der Sprachgebrauch wird aber wohl die wissenschaftliche Anschauung ausdrücken wollen, dass es auf den Wortschatz nicht ankomme, dass die Wortformen darüber entscheiden, ob eine Sprache tot heiße. In den romanischen Sprachen ist der größte Teil des lateinischen Wortschatzes durch die Wortstämme erhalten. Trotzdem betrachtet der Franzose das Latein als eine tote Sprache, weil — um es mit einem Worte zu sagen — die Grammatik eine andere geworden ist. Wohl steckt auch in der neufranzösischen Grammatik noch der alte Stoff an Flexions- und Wortbildungsformen, wohl wirkt sogar die alte lateinische Betonung noch nach, aber das Sprachgefühl des Franzosen findet keine Brücke mehr zwischen der französischen und der lateinischen Grammatik und nennt nur darum das Latein eine tote Sprache. Die Entscheidung ob tot oder lebendig ist keine sachliche Frage, sondern eine Gefühlsfrage.