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Toter Sprachstoff

Die Sprachgemeinschaft ist zu sparsam, um den alten Wortschatz freiwillig aufzugeben; und sie könnte es nicht, wenn sie auch wollte. Denn die Entwicklung der Sprache schreitet hinter der Entwicklung des menschlichen Geistes einher, das heißt hinter der Erfahrung. Und wie die Erfahrung, seltene Fälle überraschender Entdeckungen abgerechnet, Zug um Zug mikroskopisch der Summe des Menschengedächtnisses hinzufügt, so kann auch, seltene Neubildungen abgerechnet, die Schatzkammer des Gedächtnisses, die Sprache, nicht anders als Zug um Zug mikroskopisch die vorhandenen Worte nach Laut und Bedeutung ändern. So kann eine ältere Sprache als Organismus für unser Sprachgefühl längst tot sein, während unzählige Worte neues Leben gewonnen haben. Muß man nicht an die Rebe des Kaisers Probus denken, wenn man beachtet, dass bekanntlich zur selben Zeit zahlreiche Lateinworte an den Rhein kamen, wie z. B. das Wort Kaiser selbst, und dort von Geschlecht zu Geschlecht auf deutschem Boden neue Formen entwickelten, ebenso wie die alte italische Rebe? Im Deutschen sind solcher lateinischer Lehnworte eine Legion. In vielen Fällen haben sie so starke Wurzeln geschlagen, haben sich so sehr dem deutschen Lautgefühl und der deutschen Grammatik angepaßt, dass unser Sprachgefühl sie nicht mehr als Fremdworte empfindet. Ich nenne nur: Apfel, dichten, Enkel, Esel, Fieber, Gabel, Kalk, Käse, Koch, kurz, Meister, Pflaume, Rettig, Spiegel, Stolz, Straße, Tisch, Ziegel. Bei jüngeren Entlehnungen hat das Sprachgefühl wohl die Neigung, Toter Sprachstoff 333 das Fremdwort als einen Fremdkörper zu empfinden, aber dann unterscheidet das natürliche Sprachgefühl nicht zwischen toten und fremden Sprachen. Und eigentlich besteht ein solcher Unterschied auch nicht. Das Lebensbedürfnis der Sprache greift auf einer gewissen Kulturhöhe ohne zu prüfen nach jedem Sprachstoff, es nimmt Bestandteile fremder wie toter Sprachen in sich auf und kümmert sich so wenig um die Lebensfrage als das Tier oder auch der Mensch darum, ob toter Nahrungsstoff oder lebendiger hinuntergeschluckt wird. Auf den Assimilierungsprozeß kommt es an. Das Wort Käse (aus dem lateinischen caseus) ist vollkommen assimiliert, das Wort Kasus ist trotz des langen Gebrauchs noch nicht assimiliert. Aber wir wissen, dass das Kind den Gebrauch seiner eigenen Gliedmaßen nicht nur sehr langsam kennen lernt, sondern dass es gewissermaßen die Lebensverbindung mit seinen eigenen Gliedmaßen erst langsam erwerben muß.

Im Deutschen sind selbst tote und fremde Bildungssilben in den Sprachstoff aufgenommen worden, als Bildungssilben. Auch sie werden mit der Zeit zu deutschem Sprachgut, aber auch sie werden lange als tote Anhängsel empfunden. Die Endsilben "-ieren" und "-age" werden als tot oder fremd empfunden; das zartere Sprachgefühl empfindet es noch wie leisen Leichengeruch, wenn sie mit deutschen Stämmen verbunden werden; "stolzieren" und "Stellage" sind häßlich.

Viel besser als in den Dokumenten der Vergangenheit können wir die Aufnahme toten Sprachstoffs an dem in der Gegenwart sich vollziehenden Sprachwandel beobachten, nicht nur weil wir Zeugen sind, was die Beobachtung oft erschwert, sondern auch weil die ungeheuere, zielbewußte, fast krankhafte Bereicherung unserer Erfahrungen gegenwärtig eine vermehrte Nahrungsaufnahme der Sprache zur Folge hat. Wir werden bald sehen, welch einen neuen Sinn der Begriff der toten Sprache dadurch für unsere Gegenwart gewinnt, wie nämlich das Wort von gestern tot werden kann für das Sprachgefühl von heute. Vorläufig jedoch soll nur an die alltäglichen Neubildungen erinnert werden, mit welchen die sich überhastende Industrie beinahe zu einer sich überhastenden Sprachindustrie zu führen droht, welche in der Not nach toten Sprachen greift, und zwar oft genug vergessene Worte direkt aus den Wörterbüchern der toten Sprache herbeiholt.