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Chinesisch

Es ist so schwer, sich von dem chinesischen Schrifttum aus zweiter und dritter Hand eine richtige Vorstellung zu verschaffen, dass ich den Versuch aufgeben wollte, die chinesische Sprache in den Bereich dieser Kritik zu ziehen. Nur von einem Gesichtspunkt aus ist das chinesische Schrifttum zu merkwürdig, um übergangen werden zu können. Ich werde mich freilich damit begnügen müssen, Fragen anzuregen, deren Beantwortung Leuten überlassen werden muß, die in die Psychologie der chinesischen Sprache und Schrift eingedrungen sind.

Unser Ausgangspunkt erinnerte uns daran, dass wir in einigen modernen Sprachen, besonders im Englischen, die sogenannte Tendenz wahrgenommen haben, alle Flexionen langsam fallen zu lassen und zur einsilbigen flexionslosen Sprache zurückzukehren oder fortzuschreiten. Es gibt aber einen viel weiteren Gesichtspunkt, der in den Kultursprachen, und nicht nur in den modernen, an die Psychologie der Chinesen zu erinnern scheint. Die Kultur beruht überall auf den Schriftsprachen, und diesen ist es weit mehr als der Lautsprache eigentümlich, dass sie beharren, dass sie — um von den Millionen der Volksangehörigen verstanden zu werden — ihren Individualismus einbüßen, dass sie charakterlos werden im Verhältnis etwa zur Familiensprache oder zu der Sprache einer Kinderstube, dass sie sich mehr und mehr von der Wirklichkeit entfernen, um desto besser Literatursprache werden zu können. Zwei glückliche Umstände scheinen es zu verhindern, dass Europa trotzdem in die Chineserei versinke. Einerseits sind die Europäer neuerungssüchtig und bergen jede neue technische Beobachtung in ihrer wissenschaftlichen Literatur, so dass nicht leicht eine neue Erfindung oder Entdeckung wieder verloren gehen kann; anderseits gibt es in Europa gerade seit etwa hundert Jahren, also gerade seit der Zeit, wo die europäische Kultur durch die Entwicklung des Maschinenwesens ihren revolutionären Aufschwung nahm, auch in der schönen Literatur eine sogenannte Tendenz, die Schriftsprache durch Anleihen bei den Individualsprachen und Dialekten neu zu beleben. Wirkliche Kenner der chinesischen Kultur und Sprache mögen uns darüber belehren, inwieweit die Chineserei, welche durch die berüchtigte chinesische Mauer symbolisiert wird, von den Eigentümlichkeiten der chinesischen Schriftsprache abhängig sei oder nicht.