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Deutsche Einverleibung

Die Analyse der Anrede "Herr Oberappellationsgerichtsrat" führt uns aber noch einen Schritt weiter. Man hat den Indianersprachen vorgeworfen, sie hätten die Unterscheidung zwischen Satz und Wort eingebüßt. Nun behaupte ich aber, dass die Anrede "Herr Oberappellationsgerichtsrat" für uns ein einziges Wort und zwar ein einverleibendes Wort ist. Zunächst wird man mir gerne zugeben, dass "Herr" in diesem Falle wie so häufig nur eine Vorsilbe der Höflichkeit ist, wie sie wohl in manchen Negersprachen auch vor dem Verbum zu finden ist. Dieses Heruntersinken eines bedeutsamen Wortes zu einer Vorsilbe der Höflichkeit ist fast noch auffälliger im Französischen, wo monsieur in der gebildeten Rede zu m'siö verkürzt wird und in der Konversation der Straße beinahe zu einer kurzen Silbe von zwei Lauten zusammenfließt.

Zu dieser Vorsilbe der Höflichkeit tritt nun als Hauptteil der Anrede das letzte Glied des Wortungeheuers. Die Anrede hat den Rahmen "Herr Rat". Der Rahmen wird ausgefüllt mit der ausführlichen Beschreibung der Stellung, welche der Herr Rat in der Hierarchie der Justiz einnimmt; diese Beschreibung wird dem Haupttitel einverleibt. Die Tatsache der Einverleibung äußert sich dadurch, dass wie in den Indianersprachen ein entscheidendes Hauptwort in der Mitte stehen kann. Der Ton liegt auf dem einverleibten Worte "Appellation", unter Umständen auf "Ober", wenn z. B. der Anredende dem Angeredeten die Mitteilung machen will, dass er vom bloßen Appellationsgerichtsrat zum Oberappellationsgerichtsrat befördert worden ist, und der letzte Fall erspart mir wieder eine Beantwortung des Einwurfs, dass "Herr Oberappellationsgerichtsrat" nur eine Anrede und kein Satz sei. Das eine Wortungeheuer kann, je nachdem die Betonung bittend, vorwurfsvoll oder drohend ist, vollkommen eindeutig besagen: "Ein Herr in Ihrer Stellung wird doch einen armen Schreiber nicht um ein paar Groschen verkürzen wollen!" oder "Ein älterer Herr in Ihrer Stellung sollte sich doch schämen, eine arme junge Bittstellerin um die Hüfte zu fassen!" oder "Dienstlich bin ich zwar Ihr Untergebener, Herr Oberappellationsgerichtsrat, aber als Mann würde ich für jede Beleidigung Genugtuung fordern."

Einen etwas andern Charakter haben die Wortungeheuer, zu welchen regelmäßig wiederkehrende Formeln, Gebete oder Liturgien im Dienste der sogenannten Religion vereinigt werden. Dahin gehört das sich überhastende Gemurmel, mit welchem katholische Geistliche oft die Messe lesen, mit welchem hungernde Juden am Versöhnungstage das letzte Gebet herunterleiern. Dahin gehört die Art und Weise, wie kleine Schüler die zehn Gebote aufsagen und Luthers "Was ist das" dazu. Dahin gehört die Artikulation des Vater Unser, wie sie Rosegger in seiner Heimat gehört und schriftlich fixiert hat. "Va druns erd bis nim gal werd nam gums reich wilg sche niml al sauf erscht; gims heit ste brod gims un schul alsa mir va gen schul gern fir nit vers an les al nibl, amen."

"Habt Ihr ein Wort verstanden?" fragt der Pfarrer bei Rosegger einen Bauern. — "Verstanden, dasselb just nicht," antwortet dieser, "aber das Vaterunser ist's gewesen, dasselb weiß ich."

Man wird vielleicht sagen, dass diese Zusammenziehung eines langen Gebetes in eine Art von Wortungeheuer eben daher rührt, dass der mechanisch Betende sich nichts dabei denke, sich vielleicht niemals etwas dabei gedacht habe. Wer aber kann uns versichern, dass der Missionar, der die Sprachen der Chinesen und die der Indianer zuerst morphologisch klassifizieren half, das Sprachgefühl der Chinesen oder des Indianers verstand?