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Agglutinierende Sprachen

Die wenigen Sprachen, welche der isolierenden und flektierenden Klasse zugerechnet werden, lassen sich immerhin noch deutlich überblicken; bei ihnen erscheinen die Fehler der Klassifikation geringer, weil man sie gar nicht übersehen kann. Die sogenannte Klasse der agglutinierenden Sprachen jedoch bildet eine so ungeordnete Masse unvergleichbarer Sprachen, es ist alles in ihr so sehr nur wie im Ramsch aufgespeichert, dass die ganze Klasse wirklich kaum länger aufrecht erhalten werden sollte. Die Unhaltbarkeit wird immer klarer, je schärfer man versucht hat die Bedeutung dieser Gruppe festzustellen. Die ganze morphologische Klassifikation ist von Wilhelm von Humboldt angeregt worden. Die heutige Auffassung geht zurück auf den verzweifelt energischen Versuch Schleichers, die beiden Größen, die er noch gar nicht kannte, auf einen übersichtlichen algebraischen Ausdruck zu bringen. Jedes Wort der agglutinierenden Sprachen ist ihm R s (bzw. p R oder R i), das heißt die unveränderte Wurzel (R = radix) vermehrt um ein Suffix, bzw. Präfix oder Infix. Jedes Wort einer flektierenden Sprache ist ihm R x s, das heißt die veränderte Wurzel, vermehrt um ein Suffix. Max Müllers leichtfertige Art hat dann die Konfusion vollendet, von welcher ich einzelne Züge nun nachweisen möchte.

Zunächst geht man der einfachen Dreiteilung zuliebe wohl gar zu achtlos an einer Unterscheidung vorüber, welche Wilhelm von Schlegel, indem er die Ideen seines Bruders ausführte, sehr scharfsinnig aufgestellt hat. Ich gebe seine Namengebung vollkommen preis; die Bezeichnung synthetische und analytische Sprachen ist zum mindesten nichtssagend und stützt sich offenbar auf unphilosophischen, französischen Sprachgebrauch. In der Sache selbst jedoch hat er einen der wichtigsten Punkte der modernen Sprachgeschichte berührt; die neuesten Forschungen haben sich hundertfältig mit den einzelnen Erscheinungen dieser Art beschäftigt, ohne jedoch auf den Kern der Frage einzugehen.

Man ist es nämlich gewohnt, außer im Sanskrit, im Griechischen und Latein die vollendeten Muster organischer, flektierender Sprachen anzustaunen, die modernen Sprachen jedoch als die Fortbildungen der antiken anzusehen, ohne zu beachten, dass sie in morphologischer Beziehung mehr und mehr einer ganz andern Klasse sich genähert haben. Wilhelm von Schlegel hat auf einige Erscheinungen hingewiesen, die sich deutlich bei einer Vergleichung zwischen dem Lateinischen und den sogenannten romanischen Tochtersprachen ergeben. Was das Lateinische durch Bildungsformen allein aussprach oder was es unausgesprochen ließ, dazu brauchen die Tochtersprachen besondere Worte; sie setzen z. B. den Artikel vor das Substantiv und das persönliche Fürwort vor das Verbum, sie konjugieren durch Hilfszeitwörter, sie bilden die Kasusform mit Hilfe von Präpositionen, sie steigern die Eigenschaftswörter durch Adverbien usw. Wollen wir diese Erscheinung, die ein wenig anders, zum Teil aber noch auffallender, auch im Deutschen und im Englischen zu beobachten ist, in der Morphologie ausdrücken, so müssen wir sagen, dass die Kultursprachen seit anderthalb Jahrtausenden deutlich das Bestreben haben, sich teils den isolierenden, teils den agglutinierenden Sprachen anzunähern.

Nähert sich nun, wie es scheint, die Formenbildung unserer Kultursprachen mehr und mehr der agglutinierenden Periode oder der agglutinierenden Mangelhaftigkeit, so dürften doch sowohl die historische Stellung als der Wert fraglich sein, die man nachbetend unseren "organischen" Sprachen zuschreibt.

Ein anderes Bedenken gegen die Aufstellung einer agglutinierenden Klasse deutlich gemacht zu haben, ist das unfreiwillige Verdienst Max Müllers. Er wollte wieder einmal etwas entdecken, und da entdeckte er die Verwandtschaft der agglutinierenden Sprachen. Wohl gemerkt die leibliche Verwandtschaft auf Grund morphologischer Klassifikation. Die Sprachwissenschaft hatte zur Not Ähnlichkeiten, das heißt stoffliche, lautliche Ähnlichkeiten zwischen einer Anzahl von Sprachen ermittelt, die sie die ural-altaische Gruppe nannte. Dazu gehörten überraschend genug Sprachen der Finnen und der Ungarn, der Samojeden und der Türken, die mongolischen und die Mandschusprachen. Es wäre Arbeit genug gewesen, Arbeit für Generationen von Sprachforschern, die bloßen Vermutungen zur Gewißheit zu erheben und womöglich die Frage zu untersuchen, die selbst in der indoeuropäischen Sprachwissenschaft so gerne umgangen wird: ob die nachweisbaren Ähnlichkeiten auf Erbschaft oder auf Entlehnung beruhen. (Denn da die Sprache ein Besitz ist und nicht auf Zeugung beruht, sollte überall nur von Erbschaft anstatt von Verwandtschaft die Rede sein.) Max Müller jedoch dehnte willkürlich diese Sprachfamilie aus rein morphologischen Gründen fast über ganz Asien und über einige umliegende Gebiete aus, wie z. B. über den Kaukasus und über Polynesien. Er nannte diesen Mischmasch die turanische Sprache. Der Name soll uns nicht weiter aufhalten, da er von der Sprachwissenschaft wieder fallen gelassen worden ist. In einem berühmten Gedichte des persischen Dichters Firdusi kommt der Name Tur vor; so heißt der feindliche Bruder eines Mannes, von welchem man ganz bequem die Perser oder Iranier abstammen lassen kann. Nichts ist wohlfeiler, als nun von Tur alle andern Völker abstammen zu lassen, welche auf einem kleinen Kärtchen von Asien um die Perser herum wohnen, diese Völker für blutsverwandt und ihre Sprachen für sprachverwandt zu erklären. Ich mache nebenbei darauf aufmerksam, dass der Name Arier, welcher die sogenannten indoeuropäischen Völker bezeichnen sollte und eine Wortmacht errang, die bis zu Ohrfeigen in Berliner Kneipen führte, dass der Name Arier genau ebenso legendarisch ist wie der Name Turanier oder Hamiten.

Der Protest gegen die unbewiesene Behauptung Max Müllers führte aber endlich dazu, dass die agglutinierenden Sprachen genauer daraufhin angesehen wurden, ob in dem Schema, das zu ihrer einheitlichen Klassifikation geführt hatte, wirklich auch nur der Grund zu einer Vergleichung liege. Und das Ergebnis dieser genaueren Untersuchung möchte ich allerdings schärfer, als es die verlegenen Gelehrten tun, in dem Satze zusammenfassen: die sogenannte Agglutination ist an sich überhaupt kein Vergleichungsgrund, bietet an sich keine Ähnlichkeit zwischen sonst verschiedenen Sprachen. Whitney sagt, dass man die Grade der Agglutination unberücksichtigt gelassen habe, wie sie z. B. zwischen dem kahlen und nahezu isolierenden Mandschu auf der einen und dem reich gegliederten Türkischen auf der andern Seite bestehen; er fragt, ob die Verwandtschaft zwischen den scythischen (ural-altaischen) Sprachen und den indoeuropäischen nicht näher sei als zwischen den scythischen Sprachen und den ebenfalls agglutinierenden malaiischen. Friedrich Müller (Grundriß I, S. 70) macht besonders darauf aufmerksam, dass die Sprachwissenschaft die verschiedenen kaukasischen Sprachen, die Max Müller allesamt für turanisch erklärt, noch nicht in Zusammenhang bringen konnte.