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Sprachgefühl

Es ist aber von allen Seiten bisher ein Umstand unbeachtet geblieben, der es zweifelhaft erscheinen läßt, ob die morphologische Klassifikation der Sprachen überhaupt auch nur als eine vorläufige Orientierung einen Sinn habe. Man denke sich einen Naturforscher, der diejenigen mineralischen Formen, welche Dendriten heißen, weil sie infolge chemischer Prozesse zarte baum- oder moosartige Gestalten bilden, dem Pflanzenreiche zuweisen wollte. Alle Welt würde lachen und den unglücklichen Botaniker belehren, dass diese Dendriten kein Pflanzenleben führen, dass sie mineralogisch entstanden sind und mineralogisch leben. Nun will es mir scheinen, dass man auch die Verschiedenheiten der morphologischen Form ebenso rein äußerlich verglichen und den psychologischen Vorgang in dem Sprechenden gänzlich übersehen habe. Über diesen Punkt überzeugend zu sprechen ist darum überaus schwierig, weil das Sprachgefühl entscheidend sein müßte. Nun aber hat selbst der begabteste Sprachkenner — geschweige denn ich in meiner Unwissenheit — unmöglich zugleich die Sprachgefühle eines Chinesen, eines Türken, eines Indoeuropäers und eines Indianers. Und wenn einer dieses vierfache Sprachgefühl in sich vereinigte, so müßten wir hinzufügen, dass das Sprachgefühl ein Abstraktum ist, mit welchem wir ehrlicherweise nichts anzufangen wissen. Lassen wir uns für einen Augenblick dazu herbei, solche abstrakte Worte zu verwenden, so kommen wir dennoch zu einem negativen Ergebnis. Das Sprachgefühl entspricht doch nur der negativen Kraft der sogenannten Trägheit, welche z. B. in der Naturgeschichte zur Folge haben würde, dass jedes Tier völlig unverändert die Eigenschaften seines Muttertiers auf die Welt brächte. Das Sprachgefühl kann nur die Unveränderlichkeit zur Folge haben. Es ist keine Ursache zu einer Änderung vorhanden, und so kann diejenige Abstraktion ungestört wirken, welche wir in der Naturgeschichte Erblichkeit, welche wir auf dem Gebiete der Sprachen Gewohnheit nennen. Das Sprachgefühl des einzelnen, das man dann wieder und noch schöner den Geist der Sprache nennt, ist doch nichts anderes als der ganz simple Sprachgebrauch, wie er sich mehr oder weniger bewußt im Gehirn des Einzelmenschen reflektiert. Man könnte mit dem gleichen Rechte in jedem Frauenzimmer, welches sich bewußt oder unbewußt der Mode ihrer Zeit unterwirft, ein besonderes Modegefühl annehmen, jedes könnte sich auf den in ihr mächtigen Geist der Mode berufen.

Weiß ich also für meine Zwecke mit den Abstraktionen Sprachgeist und Sprachgefühl nicht viel anzufangen, so ist doch in meinem Individualbewußtsein irgend etwas vorhanden, was ich mit einem solchen Abstraktum zu benennen geneigt bin. Mein individueller Sprachgebrauch unterscheidet sich — wie wir es ausdrücken müssen — etwa von der individuellen Erscheinung einer Tier- oder Pflanzenart dadurch, dass ich mir bewußt bin, in Übereinstimmung mit meinen Volksgenossen zu sprechen. Wie ich es eben ausdrückte: der allgemeine Gebrauch reflektiert sich in meinem Privatgebrauch. Wie wir aber immer auf das Gedächtnis als die letzte halbwegs begreifliche Form des Bewußtseins gestoßen sind, so auch hier. Wir erinnern uns beim richtigen Sprachgebrauch, dass die von uns angewandten Formen die unserer Volksgenossen sind; wir erinnern uns also, welche Funktion eine jede Form grammatikalisch und syntaktisch hat. In diesem bescheidenen Sinne wird es wohl weiter gestattet sein, von unserem Sprachgefühl zu reden.