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Einfachheit der Wurzeln

Es ist nämlich einfach nicht wahr, dass wir beim Zurückverfolgen der Wortgeschichte auf immer einfachere Formen stoßen und dass wir so durch einen Wahrscheinlichkeitsschluß auf die Wurzeln geführt würden. Beinahe das Gegenteil ist wahr. Unsere indoeuropäischen Kultursprachen streben offenbar einer Vereinfachung der Laute zu und würden, ohne Kenntnis ihrer Vorgeschichte, sehr häufig den Eindruck wurzelhafter Sprachen machen. Das ist am auffallendsten im Englischen. Das springt in die Augen, wenn wir unsere einfachsten deutschen Verbalformen mit dem Altdeutschen vergleichen. Wir sagen in der ersten Person der Mehrzahl liegen, wo man einst ligamasi sagen mußte. Denselben Weg haben die romanischen Sprachen zurückgelegt. Das französische fût (in der Aussprache fü die reinste Sanskritwurzel) ist viel einfacher als seine lateinische Form fuisset, und diese wieder einfacher als die entsprechende Sanskritform wäre. Nie und nirgends stoßen wir beim Nachgraben in der Sprachgeschichte auch nur annähernd auf so einfache Formen, wie unsere Sprachen sie darbieten; denn die Wurzeln des Sanskrit hat niemals ein lebendiger Mensch gehört oder gesehen, es wäre denn als eine Leistung konstruierender Sanskritgrammatiker. Und so unsicher sind alle angeblichen Gesetze der Sprachgeschichte, dass auch dieser Verfall der modernen "analytischen" Sprachformen wieder nicht allgemein zu beobachten ist. Die slawischen Sprachen z. B. übertreffen in Wortbildung und Flexion ganz entschieden die Sprachen der Kömer und Griechen.

Und da wagt es selbst ein Mann wie Whitney von einer Gewißheit zu reden, "dass wir mit unseren Wurzeln" (das heißt mit den Wurzeln der indischen Grammatiker) "den Uranfängen der Sprache mindestens sehr nahe kommen, vielleicht sie schon ganz erreichen". (Sprachwissenschaft, S. 397.)