Reden

Reden. (Dichtkunst) Die Reden der handelnden Personen in der Epopöe und im Drama, die man allgemein Orationes moratas nennt, weil sie die Sitten der Personen und ihre Gesinnungen anzeigen, verdienen eine besondere Betrachtung. Man muss aber nicht jede Rede der handelnden Personen hierher rechnen; denn sonst gehörte das ganze Drama hierher, weil es durchaus aus Reden besteht, sondern nur die, wodurch die Personen ihren Charakter und ihre besondere Sinnesart an den Tag legen, so dass man aus der Rede, wenn man einmal die Personen kennte, abnehmen könnte, welche von den handelnden Personen spricht.

 Diese Reden machen den wichtigsten Teil der Epopöe und des Drama aus; weil dadurch die Personen nach ihren Sitten, ihrer Sinnesart und ihrem ganzen Charakter am besten geschildert werden; weil man aus diesen Reden erkennt, was jeder ist. In der Ilias ist, wie Pope anmerkt, die Anzahl der Verse, da der Dichter spricht oder erzählt, sehr gering; den größten Teil des Gedichts machen die Reden aus. Deswegen sieht Aristoteles sie als einen Hauptteil dieser Gedichte an und hält sich weitläufig bei ihrer Betrachtung auf. Eigentlich zeigt der Dichter sich dadurch als einen Kenner der Menschen, weil das innerste ihres Charakters am besten durch die Reden geschildert wird. Wenn man alle Reden einer der Haupt personen des Gedichtes zusammennimmt, so müssen sie ein sehr genaues Portrait des eigentümlichen Charakters derselben ausmachen. Die Handlungen lassen uns die Menschen nur noch von Außen sehen, ob man gleich auch durch dieses Äußerliche in die Seelen hineinsehen kann: aber durch die Reden kann der Dichter uns unmittelbar das Innere sehen und empfinden lassen.

 Aus diesem Gesichtspunkt müssen wir die Reden der handelnden Personen ansehen. Dann ist offenbar, dass sie den wichtigsten Teil der Epopöe und des Drama ausmachen, auf welchen der Dichter die größte Sorgfalt wenden muss. Die Fabel zu erfinden, verschiedene Verwicklungen, mannigfaltige Begebenheiten und Vorfälle auszudenken, wodurch der Zuhörer oder Zuschauer in beständiger Aufmerksamkeit erhalten, jetzt in große Erwartung gesetzt, denn angenehm überrascht wird; dieses ist nur der geringste Teil dessen, was der Dichter wissen muss und was für uns am wenigsten lehrreich ist. Weit wichtiger für uns und schwerer für den Dichter ist es, bei allen Vorfällen und in jeder Lage der Sachen, die Personen durch das, was sie dabei denken, empfinden und beschließen, auf eine wahrhafte, natürliche Weise, völlig kennbar zu schildern.

Der Philosoph gibt uns allgemeine Kenntnis des Menschen; er entwickelt uns das Genie, alle Eigen schaften, Neigungen, Leidenschaften, zeigt uns jede Triebfeder und entwickelt jede Falte der Seele, in so weit alle diese Dinge den Menschen gemein sind. Der Dichter aber zeigt uns die besondere Beschaffenheit dieser allgemeinen Eigenschaften, wie sie im Achilles, im Hektor, im Ajax sind und wie sie sich bei besonderen Gelegenheiten äußern. Der Dichter der Epopöe und des Drama ist nur insofern groß als er in diesem Teil vorzüglich ist. Schweerlich ist ein Dichter hierin dem Homer zu vergleichen und in diesem Stück ist Virgil, wie Pope bemerkt, erstaunlich weit unter ihm. In der Tat finden wir gar viel Reden bei diesem Dichter, die so wenig besonderes Charakteristisches haben, dass ohngefähr jeder andere Mensch in ähnlichen Umständen so sprechen würde, wie seine Personen.

 Was Aristoteles fordert, dass jede Rede dem Alter, Stand, Rang, den Geschäften und Absichten der Personen angemessen sein müsse und was Horaz sehr lebhaft lehrt, wenn er sagt:

  Si dicentis erunt fortunis absona dicta u.s.w.1 ist noch das wenigste und leichteste. Das schwerste ist bei allem diesem noch das Eigentümliche des Charakters zu treffen. Hierzu gehört nicht nur ein großer Scharfsinn, der jeden Zug der besonderen Charaktere der Menschen bemerkt, sondern auch hinlängli che Erfahrung und Kenntnis der Menschen. Deswegen erkennt man durchgehends die beiden Dichtarten, wo dergleichen Reden vorkommen, für das Höchste der Poesie. Man darf sich gar nicht wundern, dass ein gutes Heldengedicht von einiger Größe das seltenste Werk des menschlichen Genies ist und das die Nationen, die dergleichen in ihrer Sprache besitzen, stolz darauf sind. Das Drama bekommt eben daher seine größte Schwierigkeit, ob sie gleich wegen der weit engern Schranken der Handlung und der geringen Anzahl der Personen, bei weitem so groß nicht ist, wie in der Epopöe. Inzwischen betrügen sich doch diejenigen gar sehr, denen die Verfertigung eines guten Drama, ein Werk von mittelmäßiger Schwierigkeit scheint. Ein guter Dichter, in welcher Art es sei, ist immer ein Mann von Gaben, die eben nicht gemein sind: aber wer darum, dass er in geringern Dichtungsarten glücklich gewesen, sich in die Klasse der Homere und der Sophokles setzen wollte, würde einen gänzlichen Mangel der Urteilskraft verraten.

 

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1 de Art. Poet. vs. 112. seqq.

 


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