Zum Hauptinhalt springen

Unsere letzte Dankbarkeit gegen die Kunst

107.

Unsere letzte Dankbarkeit gegen die Kunst. — Hätten wir nicht die Künste gut geheißen und diese Art von Kultus des Unwahren erfunden: so wäre die Einsicht in die allgemeine Unwahrheit und Verlogenheit, die uns jetzt durch die Wissenschaft gegeben wird — die Einsicht in den Wahn und Irrtum als in eine Bedingung des erkennenden und empfindenden Daseins —, gar nicht auszuhalten. Die Redlichkeit würde den Ekel und den Selbstmord im Gefolge haben. Nun aber hat unsere Redlichkeit eine Gegenmacht, die uns solchen Konsequenzen ausweichen hilft: die Kunst, als den guten Willen zum Scheine. Wir verwehren es unserm Auge nicht immer, auszurunden, zu Ende zu dichten: und dann ist es nicht mehr die ewige Unvollkommenheit, die wir über den Fluss des Werdens tragen — dann meinen wir, eine Göttin zu tragen und sind stolz und kindlich in dieser Dienstleistung. Als ästhetisches Phänomen ist uns das Dasein immer noch erträglich, und durch die Kunst ist uns Auge und Hand und vor Allem das gute Gewissen dazu gegeben, aus uns selber ein solches Phänomen machen zu können. Wir müssen zeitweilig von uns ausruhen, dadurch, dass wir auf uns hin und hinab sehen und, aus einer künstlerischen Ferne her, über uns lachen oder über uns weinen; wir müssen den Helden und ebenso den Narren entdecken, der in unsrer Leidenschaft der Erkenntnis steckt, wir müssen unsrer Torheit ab und zu froh werden, um unsrer Weisheit froh bleiben zu können! Und gerade weil wir im letzten Grunde schwere und ernsthafte Menschen und mehr Gewichte als Menschen sind, so tut uns Nichts so gut als die Schelmenkappe: wir brauchen sie vor uns selber — wir brauchen alle übermütige, schwebende, tanzende, spottende, kindische und selige Kunst, um jener Freiheit über den Dingen nicht verlustig zu gehen, welche unser Ideal von uns fordert. Es wäre ein Rückfall für uns, gerade mit unsrer reizbaren Redlichkeit ganz in die Moral zu geraten und um der überstrengen Anforderungen willen, die wir hierin an uns stellen, gar noch selber zu tugendhaften Ungeheuern und Vogelscheuchen zu werden. Wir sollen auch über der Moral stehen können: und nicht nur stehen, mit der ängstlichen Steifigkeit eines Solchen, der jeden Augenblick auszugleiten und zu fallen fürchtet, sondern auch über ihr schweben und spielen! Wie könnten wir dazu der Kunst, wie des Narren entbehren? — Und so lange ihr euch noch irgendwie vor euch selber schämt, gehört ihr noch nicht zu uns!