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Übersetzungen

83.

Übersetzungen. — Man kann den Grad des historischen Sinnes, welchen eine Zeit besitzt, daran abschätzen, wie diese Zeit Übersetzungen macht und vergangene Zeiten und Bücher sich einzuverleiben sucht. Die Franzosen Corneille’s, und auch noch die der Revolution, bemächtigten sich des römischen Altertums in einer Weise, zu der wir nicht den Mut mehr hätten — Dank unserem höheren historischen Sinne. Und das römische Altertum selbst: wie gewaltsam und naiv zugleich legte es seine Hand auf alles Gute und Hohe des griechischen älteren Altertums! Wie übersetzten sie in die römische Gegenwart hinein! Wie verwischten sie absichtlich und unbekümmert den Flügelstaub des Schmetterlings Augenblick! So übersetzte Horaz hier und da den Alcäus oder den Archilochus, so Properz den Callimachus und Philetas (Dichter gleichen Ranges mit Theokrit, wenn wir urteilen dürfen): was lag ihnen daran, dass der eigentliche Schöpfer Dies und Jenes erlebt und die Zeichen davon in sein Gedicht hineingeschrieben hatte! — als Dichter waren sie dem antiquarischen Spürgeiste, der dem historischen Sinne voranläuft, abhold, als Dichter ließen sie diese ganz persönlichen Dinge und Namen und Alles, was einer Stadt, einer Küste, einem Jahrhundert als seine Tracht und Maske zu eigen war, nicht gelten, sondern stellten flugs das Gegenwärtige und das Römische an seine Stelle. Sie scheinen uns zu fragen: „Sollen wir das Alte nicht für uns neu machen und uns in ihm zurechtlegen? Sollen wir nicht unsere Seele diesem todten Leibe einblasen dürfen? denn todt ist er nun einmal: wie hässlich ist alles Tode!“ — Sie kannten den Genuss des historischen Sinnes nicht; das Vergangene und Fremde war ihnen peinlich, und als Römern ein Anreiz zu einer römischen Eroberung. In der Tat, man eroberte damals, wenn man übersetzte, — nicht nur so, dass man das Historische wegließ: nein, man fügte die Anspielung auf das Gegenwärtige hinzu, man strich vor Allem den Namen des Dichters hinweg und setzte den eigenen an seine Stelle — nicht im Gefühl des Diebstahls, sondern mit dem allerbesten Gewissen des imperium Romanum.