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Sprechen, Denken, Vernunft

Wenn Platons Wort, das Denken sei ein innerliches Sprechen, ein Urteil über zwei klar definierte Begriffe enthielte, so wäre die Identität von Denken und Sprechen eine sehr alte Behauptung; denn auf die relative Qualität des Laut oder Leise kommt es umsoweniger an, seitdem auch beim stummen Sprechen oder artikulierten Denken Bewegungsgefühle nachgewiesen worden sind. Aber die Gleichsetzung von Denken und Sprechen ist immer noch so ein gewagter Gedanke, daß auch in diesem Buche, so oft das Denken mit dem Sprechen identifiziert wurde, das Sprachgewissen hinterher vor dieser Gleichung warnte. Sprachkritik ist selbstmörderisch, weil Kritik aus der Vernunft, also aus der Sprache stammt. Schon 1784 schrieb Hamann an Herder: "Wenn ich auch so beredt wäre wie Demosthenes, so würde ich doch nicht mehr als ein einziges Wort dreimal wiederholen müssen: Vernunft ist Sprache — logos. An diesem Markknochen nage ich und werde mich zu Tode darüber nagen." Es ist nicht bloß Bescheidenheit, wenn Hamann da von seinem "Markknochen" spricht, und dann wieder von seinem "Misthaufen" (im Gegensatz zu Herders "Lustgarten"; bei "Markknochen" denkt er sogar gewiß an den os médullaire aus dem Prologe zum Gargantua und nebenbei an den philosophischen Hund Platons). Es ist mehr. Sprachkritik ist bedenklicher als jede andere wissenschaftliche Disziplin. Das Werkzeug, die Sprache, empört sich, will mitreden. Auch bei dem Satze: Vernunft ist Sprache. Die Sache ist darum so schwierig, weil wir auch heute noch eine klare Definition weder des Sprechens noch des Denkens besitzen. Die Unsicherheit über das Wesen der Sprache möchte noch hingehen, weil man doch wenigstens für praktische Zwecke ungefähr eine Vorstellung beim Gebrauche des Wortes Sprache hat. Das Wesen des Denkens jedoch ist so unfaßbar, daß man sich jedesmal etwas anderes vorstellt, je nachdem man dem Denken dieses oder jenes Prädikat gibt. Sagt man "das Denken ist Sprache," so stellt man sich eben sofort oder unmittelbar vorher unter dem Denken gerade das Sprechen vor.

Eine Zeitlang glaubte ich mit der Wortzusammenstellung auszukommen: die Sprache sei mit der Vernunft identisch, nicht aber mit dem Verstande. Mir schwebte dabei wohl die beliebte Unterscheidung vor, wie sie am schärfsten von Schopenhauer ausgeführt worden ist. Dabei mutet die Erklärung, Vernunft sei ein Denken in Begriffen oder Worten, umsomehr an, als Vernunft von vernehmen hergeleitet wird und vernehmen = hören offenbar auf erfassen durch Sprachmitteilung hinzuweisen scheint. Nun aber bedeutete vernehmen in der älteren Sprache gar nichts anderes als Wahrnehmen, so daß uns diese schöne Etymologie im Stiche läßt.