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Gedächtnis und Gewohnheit

Aber zu einer anderen Begriffsvergleichung werden wir durch unsere nüchterne Untersuchung geführt und diese scheint mir von großer Wichtigkeit. Bichat hat irgendwo die Bemerkung gemacht, daß die Gewohnheit die Organe verfeinere, die uns mit der Außenwelt verbinden, daß sie die Organe der Ernährung abstumpfe. Er hat dabei wohl zunächst an die psychologische Tatsache gedacht, daß wiederholte Sinnenreize (Farben, Gerüche, Geschmäcke) uns mit der Zeit gegen sie unempfänglicher machen, während wiederholte Einübung, z. B. einer Kunstfertigkeit, die Hand für sie immer geschickter mache. Die Bemerkung ist nicht ganz richtig. Ich meine, daß auch das Auge und das Ohr durch eine, ich möchte sagen, aktive Einübung sehr verfeinert werden könne; ja sogar Geruch und Geschmack läßt sich, wie beim Teekoster und beim Tabakseinkäufer, in ganz unglaublicher Weise ausbilden. Es scheint mir klar zu sein, daß der Unterschied anderswo liege. Wo die sensiblen Nerven einen Reiz wiederholt dem Gehirn zutragen, da setzt er sich einerseits immer mehr im Gedächtnis fest, anderseits wird seine Wirkung in sehr gut beobachteten Graden abgeschwächt. Die Bahn der sensiblen Nerven wird also vortrefflich eingeübt, wir nennen das: das Gedächtnis; nur der Reiz erscheint uns subjektiv geringer. Dasselbe behaupte ich von der Einübung der motorischen Nerven. Wir nennen es subjektiv Leichtigkeit, wenn auch hier der Reiz geringer wird, und wir nennen die Einübung der Nervenbahnen selbst die Gewohnheit. Und so können wir, was ich nirgends habe finden können, vielleicht weil es zu einfach ist, sagen: wir nennen den Zustand, der in den Bahnen der sensiblen Nerven durch Einübung entsteht, das Gedächtnis; wir nennen den Zustand, der durch Einübung in den motorischen Nerven entsteht, die Gewohnheit. Ich brauche nicht hinzuzufügen, daß ich deshalb nicht an Gedächtnis und an Gewohnheit als besondere Seelenvermögen glaube. Die Sprache zwingt uns alle. Da übrigens das Gedächtnis im Zentrum mündet und von dort die Gewohnheit ausgeht, so würde wohl eine ideale Physiologie Veränderungen im Gehirn beschreiben können, zu denen die Erscheinungen des sogenannten Gedächtnisses und der sogenannten Gewohnheit Unterbegriffe wären. Mit dieser neuen Begriffsvergleichung können wir wieder an die so schwierige Frage der Vererbung und Anpassung herantreten und werden wenigstens in den Grenzen der Sprache begreifen — wenn wir nämlich über Darwin hinaus in den Organen selbst die Produkte aller Gewohnheiten erblicken — daß man recht gut die Vererbung die ältere Gewohnheit, die Anpassung die neuere Gewohnheit nennen könnte. Es wären dann die biologischen Gesetze der Natur die ältesten Gewohnheiten. Und da trifft es sich gut, daß auch die Jurisprudenz, welche doch erst den Gesetzesbegriff geschaffen hat, in ihrer Verlegenheit die wirklich zwingende Ursache menschlichen Handelns, welche vor allen Gesetzen da war, Gewohnheitsrecht, d. h. das Gesetz der Gewohnheit oder des Herkommens zu nennen pflegt.

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