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Völkerpsychologie

Besäßen wir nämlich nach dem Wunsche der Gehirnanatomen einen Einblick in die molekularen Veränderungen, deren Wirkungen oder Bewußtseinserscheinungen die Erinnerungsbilder sind, so wüßten wir, was die Gedächtnisakte sind; und "das Gedächtnis" selbst wäre dann ein abgesetztes Wort, oder es wäre das Denken, oder es wäre die Sprache, oder es wäre die Summe aller Gesetze der molekularen Veränderungen in den Gehirnzellen. Dann besäßen wir auch wirklich eine physiologische Psychologie und diese hätte unsere Fragen zu beantworten. Eine solche Wissenschaft besitzen wir jedoch nicht, wenn wir auch Lehrbücher haben, die sich so oder ähnlich nennen. Deutlicher als je zuvor ist es in Wundts "Völkerpsychologie" (L, 1. S. 23), allzu gläubig freilich, ausgesprochen: "Wie experimentelle und Völkerpsychologie die einzigen Teile sind, so sind sie auch die einzigen Hilfsmittel der Psychologie." Nehmen wir die Bezeichnung auf, die Wundt anzuwenden zögert, so gibt es eine Individual- und eine Sozialpsychologie. Die psychischen Erscheinungen (wenn man das Wort so ausdehnen darf) ereignen sich entweder zwischen den Menschen einer weiteren, einer engeren Genossenschaft, oder sie ereignen sich einzig und allein im Kopfe des lebendigen Menschenorganismus.

Nun scheint es mir über jeden Einwurf klar, daß auf dem Gebiete der Sozialpsychologie von einem Unterschiede zwischen Denken und Sprechen nicht die Rede sein kann. Gedächtnis als eine Funktion der organisierten Materie ist nur im Individuum möglich und denkbar. In der Sozialpsychologie, zwischen den Menschen einer Volks- oder Kulturgemeinschaft, sind Gedächtniserscheinungen ohne Gedächtniszeichen ein Nonsens, weil diese Gedächtniserscheinungen doch nicht Bewußtseinserscheinungen sein können, sondern auf Mitteilungen, Wahrnehmungen, Nachahmungen u. s. w. beruhen. Selbst wo Vererbung zu Grunde hegt, bleiben Religion, Sitte und Sprache unbewußte Gedächtniserscheinungen, sind also nicht Erinnerungsakte. Zwischen den Menschen gibt es keine abstrakte Religion ohne bestimmte religiöse Vorstellungen oder Mythen, gibt es keine abstrakte Moral ohne bestimmte Sitten oder Gebräuche, gibt es kein abstraktes Denken ohne Sprache.

Wer nicht den unsinnigen Phantastereien über Okkultismus und insbesondere Telepathie verfallen will, für den ist es ein notwendiges Axiom, daß zwischen den Menschen ein Denken ohne Sprechen unmöglich ist, daß zwischen den Menschen Denken und Sprechen nur die verschiedene Auffassung der gleichen Sache ist. Wenn ein Einzelmensch die Natur verstehen, mit der Natur verkehren will, so bleibt die Natur verhältnismäßig passiv; und es ist eine kühne Metapher, da von einer Sprache der Natur zu reden. Wenn jedoch ein Einzelmensch einen anderen verstehen, mit ihm verkehren will, so bleiben beide nicht passiv (sobald es sich nicht um Beobachtung des anderen wie eines Naturobjekts handelt), so verstehen sie einander durch irgendwelche Ausdrucksbewegungen, so ist es eine ganz gewöhnliche Metapher, alle Ausdrucksbewegungen: Gebärden, Kultusübungen und andere Gebräuche unter dem Gesamtbegriffe Sprache mit zusammen zu fassen.