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Gehirnpsychologie

Von der physiologischen Psychologie wollen wir die Kritik der älteren psychologischen Begriffe gern annehmen; ihrer Führung wollen wir uns jedoch nicht anvertrauen, am wenigsten der neuerdings so emsigen Gehirnphysiologie. Die Herren, welche nach physiologischen Schätzen graben, geben auf wirklich psychologischem Gebiete ihren ganzen Scharfsinn in der Negation gegen die ältere Psychologie aus und behalten vielleicht darum so wenig für Selbstkritik übrig. Ein so verdienstvoller Forscher wie Wernicke kennt Wundts Fehler besser als die eigenen. Er sagt gelegentlich, wo er sich mit der Erscheinung des Bewußtseins beschäftigt und darum Messer und Mikroskop beiseite legen muß: "Fragen wir nach dem Aufschluß, den uns die Sektionen von Geisteskranken über den uns beschäftigenden Gegenstand geben, so ist bekanntlich der Befund meist negativ." Aber in seiner sehr geschätzten Arbeit über den aphasischen Symptomenkomplex verrät sich plötzlich der heimliche Wortaberglaube der materialistischen Schulen, welche sich so frei von jedem Aberglauben wähnen. Er spricht es da (S. 30) ganz unbefangen aus, daß die typischen klinischen Bilder, aus welchen man Schlüsse auf die Lokalisation im Gehirn ziehen könnte, zahlreicher beobachtet würden, wenn man nur die Aufmerksamkeit darauf gelenkt hätte. Jeder forschende Arzt wird das in gutem Glauben hinnehmen und wirklich recht viele einschlägige Krankengeschichten mit Sektionsbefundeu veröffentlichen, nachdem er sich die Begriffe für die verschiedenen Assoziationszentren geläufig gemacht hat. Ich meine aber, die gegenwärtige Gehirnphysiologie verfällt da (gar viel feiner freilich) in den gleichen Fehler wie die alte Phrenologie, die brutal und makroskopisch den Sitz der vermeintlichen geistigen Eigenschaften Großmut, Liebe, Geiz u. s. w. suchte. Eine konsequente Physiologie dürfte gar nicht die Faserbahnen für psychologische Vorgänge suchen, die nur Hypothesen unseres Selbstbewußtseins sind. Der Mann am Mikroskop findet nur zu leicht, was er sucht. So ist es in der Gehirnanatomie gegangen, so in der Bakteriologie. Gewiß kann die naturwissenschaftliche Forschung nicht vorwärts kommen, wenn sie sich nicht Fragen stellt, die über bereits bekannte Tatsachen hinausgehen. Aber die Fragen müssen aus reiner Wissenschaft hervorgehen. Der Mathematiker darf nicht die Fragen eines Astrologen beantworten wollen, sonst wird er wie Kepler gelegentlich (und nicht nur da, wo der Arme wie ein gefälliger Journalist für Kalender oder für Wallenstein arbeitete) selbst zum Astrologen. Für den konsequenten Physiologen dürfen die alten Fragen der metaphysischen Psychologie nicht existieren, solange er im Gehirn nicht Korrelate zu den alten Begriffen gefunden hat. Und davon sind wir weit entfernt. Was etwa an Lokalisationen festgestellt worden ist, das bezieht sich ausschließlich auf die Zentralstellen der Sinnesorgane. Das Denken ist vorläufig von der alten Psychologie immer noch besser analysiert worden als von der Gehirnanatomie. Die verschiedenen Zentralstellen für das Denken sind bislang schematische Hypothesen. Die neuen Begriffe der motorischen und der sensorischen Aphasie geben keine Beschreibung der Tatsache, sondern nur die schematische Hypothese einer Erklärung; die Asymbolie ist nur ein schematisches Bild für die seit Kant geläufige Annahme, daß auch zum Zustandekommen von Wahrnehmungen Verstand nötig sei.

Auch wir können die Daten der Gehirnphysiologie nur benutzen für unsere Frage, die sich mit den Mitteln unserer Sprache gar nicht fassen läßt, etwas passendere Wortbilder zu wählen. Wir wissen, daß zwischen den Menschen, in der Sozialpsychologie, ein Denken ohne Sprechen unausdenkbar und unsagbar ist. Wir wissen, daß der Individualmensch ein Sprechen ohne Denken nicht besitzt. Gibt es aber im Individualgehirn dennoch ein Denken ohne Sprechen?