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Wirkliches Denken

Da wollen wir uns erinnern, daß sich uns zu Beginn unserer Untersuchung die Sprache als etwas Unwirkliches entzogen hat, daß selbst die Einzelsprachen, ja sogar die Individualsprachen der Einzelmenschen sich als unwirklich auswiesen. daß nur der augenblickliche Sprachlaut etwas Wirkliches war, soweit er noch wirklich bleibt, wenn wir ihn als eine Bewegung erkannt haben. Genau so steht es mit dem Denken, was nicht wunderbar ist, wenn Denken und Sprechen identisch sind. Das Denken ist ein wissenschaftlicher Begriff und Wissenschaft gehört bereits zur Sozialpsychologie. Der Einzelmensch weiß mancherlei; Wissenschaft ist eine Konstruktion außerhalb des Einzelmenschen. Der Mensch besitzt kein abstraktes Denkvermögen, sondern er kennt die Tatsache, daß in ihm Denkakte vollzogen werden. Diese Denkakte sind allein wirklich, wobei ich mich dagegen verwahre, "wirklich" in atomistischem Sinne zu verstehen; die Physiologen, welche die hypothetischen molekularen Veränderungen in den Ganglien allein wirklich nennen, rinden den Weg zur Psychologie nicht zurück. Unsere einzelnen Denkakte sind allein wirklich, trotzdem sie weiterhin geistige Vorgänge heißen mögen.

Wir stehen also vor der engeren Frage: gibt es Denkakte ohne Sprachakte? Gewiß, es handelt sich nur um die ganz menschliche, ganz willkürliche Definition der Begriffe Denken und Sprechen. Fast alle Empfindungen und sehr viele Wahrnehmungen haben wir ohne Hilfe der Sprache; und da Empfindungen und Wahrnehmungen uns leicht zu verständigem Handeln veranlassen, was ungenau auch auf Denken zurückgeführt werden kann, so gibt es da so etwas wie Denken ohne Sprechen. Verstehen wir jedoch unter Denken nur diejenigen Prozesse in unserem Gehirn, bei denen sich Empfindungen oder Wahrnehmungen mit Vorstellungen assoziieren, oder Vorstellungen untereinander, so kann von einem Denken ohne Sprechen nicht die Rede sein. Denn die Vorstellung ist ein Erinnerungsbild und unterscheidet sich etwa von der Erinnerung an eine einfache Empfindung gerade dadurch, daß sie ein Bild ist, ein Zeichen für die Beziehungen verschiedener Erinnerungen. Wir kommen da ohne das Bild von Bildern oder Zeichen nicht aus. Gedächtnis ohne Gedächtniszeichen ist nicht möglich; und Zeichen sind im weitesten Sinne sprachliche Akte.

Wiederholte nun jemand den eigenen Einwurf, daß nach unserer instinktiven Empfindung dennoch ein Unterschied bestehe zwischen Sprechen und Denken, so kann ich jetzt darauf erwidern, daß dieser Unterschied nur in unserem Denken oder Sprechen vorhanden ist, weil Denken oder Sprechen die einfache Wirklichkeit nicht einfach sehen kann. So ist für den Menschen ungezählte Jahrtausende lang ein Unterschied gewesen zwischen der Schwere des ruhenden Steines und der Geschwindigkeit des fallenden Steines; vielleicht ersteht uns einmal ein Newton der Psychologie, der die einfache Bewegungserscheinung erkennt, die wir bald Denken, bald Sprechen nennen. Es muß die Bereitschaft in der Ganglienzelle, bevor durch eine Anregung Denken oder Sprechen ausgelöst wird, mit der latenten Gravitation des ruhenden Steines manche Ähnlichkeit haben.

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