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Selbstmord der Sprache

Man hat unsere Zeit oft und richtig mit dem verfallenden Altertum verglichen. Wie die Gesellschaft der römischen Kaiserzeit keine geschlossene Weltanschauung mehr hatte, weil ihr alle möglichen Anschauungen zu bunter Auswahl gefällig vorlagen, so glaubt auch heute eigentlich keiner mehr an etwas. Religionen und Philosophien werden nebeneinander in Jahrmarktbuden ausgeschrieen, so wie in den Möbelhandlungen die Stoffe und Formen, aller Zeitstile und Stilrevolutionen nebeneinander zu haben sind. Und wie damals die Männer, die aus der Jesuslegende das Christentum schufen, zu groß oder zu klein, um für sich selbst aus der Welt zu gehen, der Weltsehnsucht nach dem Tode Worte liehen, wie der Selbstmord der Weltfreude anfing, die Gedanken der damals Modernen zu beherrschen, so äußert sich die Verrottung unserer Gesellschaft in den Predigten aller unserer Dichter und Denker seit mehr als hundert Jahren. Wer modern ist, sehnt sich nach dem Ende, und wer modern scheinen will, spricht vom Ende.

Kaum aber ist bisher beachtet worden, daß der faulige Zustand der Weltanschauung sich zumeist und für helle Ohren am deutlichsten in der Sprache verrät. Das Latein der Kaiserzeit war eine totkranke Sprache, bevor es eine tote Sprache wurde. Und unsere Kultursprachen von heute sind zerfressen bis auf die Knochen. Nur bei den Ungebildeten, beim Pöbel, gibt es noch gesunde Muskeln und eine gesunde Sprache. Die Sprache der Bildung hat sich metaphorisch entwickelt und mußte kindisch werden, als man den Sinn der Metaphern vergessen hatte. Wie die römische Dame in ihrem Boudoir Fetische oder Götter aller Zeiten und Völker beisammen hatte, und darum in der Not nicht wußte, zu welchem beten, so hat der Dichter und der Denker unserer Zeit alle Wortfetische zweier Jahrtausende in seinem Gehirn beisammen und kann kein Urteil mehr fällen, kann kein Gefühl mehr aus drücken, ohne daß die Worte wie ein gespenstischer Verwandlungskünstler auf dem Drahtseil ein Maskenkostüm nach dem anderen abstreifen und ihn auslachen und unter den Kleidern durch das Rasseln ihrer Knochen verraten, daß sie halbverweste Gerippe sind.

In bunten Farben schimmern unsere Sprachen und scheinen reich geworden. Es ist der falsche Metallglanz der Fäulnis. Die Kultursprachen sind heruntergekommen wie Knochen von Märtyrern, aus denen man Würfel verfertigt hat zum Spielen. Kinder und Dichter, Salondamen und Philosophieprofessoren spielen mit den Sprachen, die wie alte Dirnen unfähig geworden sind zur Lust wie zum Widerstand. Alt und kindisch sind die Kultursprachen geworden, ihre Worte ein Murmelspiel.

Abseits von der Sprache steigert sich der wollüstige Komfort bis zum Blödsinn und glaubt darum an einen Höhepunkt der Menschheit. In der Sprache verrät sich ihr tiefer Stand. Und zum ersten Mal, seitdem Menschen sprechen gelernt haben, wäre es gut, wenn die Sprachen der Gesellschaft vorangingen mit ihrem Schuldbekenntnis, mit dem Eingeständnis ihrer Selbstmordsehnsucht. Um sich zu verständigen, haben die Menschen sprechen gelernt. Die Kultursprachen haben die Fähigkeit verloren, den Menschen über das Gröbste hinaus zur Verständigung zu dienen. Es wäre Zeit, wieder schweigen zu lernen.

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