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Bedeutungswandel

Im Zählen hätten wir also den einfachsten Fall, wo der leiseste Zuwachs in der Bedeutung (ein Millionstel seines Wertes und noch weniger) ganz mechanisch von einer Änderung des Wortzeichens begleitet wird. Der zweite Fall liegt vor im Bedeutungswandel der Worte: die Vorstellung eines Menschen erfährt einen Zuwachs, ohne daß das Zeichen dieser Vorstellung sich ändert. Das Wort "Erde" ist seit Jahrhunderten unverändert geblieben, der Begriff ist aber von Geschlecht zu Geschlecht reicher geworden. In der deutschen Sprache ist das Denken dieses Wortes gewachsen, ohne daß das Wort zugenommen hätte. Ebenso in der Individualsprache etwa eines Menschen, der im Alter von drei Jahren zu wissen glaubte, was Erde bedeutet, und der später ein Geologe oder ein Astronom geworden ist. So verhält es sich mit den meisten Ding werten unserer Sprache, da die kleinen Lautveränderungen, die oft Jahrhunderte brauchen, gegen die rasche Vermehrung des Wissens kaum in Betracht kommen. Der Bedeutungswandel ist in seinen intimen Wirkungen viel verbreiteter, als aufzuzeigen der Sprachwissenschaft bequem ist. Man spricht von Bedeutungswandel fast nur, wenn eine grobe Verschiebung der Vorstellungen sich vollzogen hat. Erst H. Paul und nach ihm Wundt haben an den Bedeutungswandel durch Kulturwandel erinnert, aber den Begriff doch nicht energisch genug ausgedehnt. Im Griechischen hieß lampas Fackel, konnte metaphorisch von der Sonne gebraucht werden. Wir haben (über Frankreich) daher das Wort "Lampe". Seit Jahrhunderten. Ist es nun nicht Bedeutungswandel im strengsten Sinne, wenn ich mir bei "Lampe" vor 40 Jahren eine Öllampe vorstellte, dann eine Petroleumlampe, jetzt Glühlicht oder elektrisches Licht? Für den Namen ist bald die Form des Geräts wichtiger, bald der geleistete Dienst. Was die neue Beleuchtungsart ausmacht, das nennen wir eher Licht: Glühlicht, Bogenlicht, Auerlicht. Den Apparat, besonders wenn er körperlich an die alte Öllampe erinnert, nennen wir Lampe: Nernstlampe, Bogenlampe. Die Helligkeit wird dabei immer stärker. Die Öllampe konnte man nicht mit der Sonne vergleichen. Die neuen Lampen nennt man schon Sonnenbrenner. Erinnern wir uns nun, welche Rolle dabei das Gedächtnis spielt.

Beim Zählen, wo die minimalste Änderung der Vorstellung eine entsprechende und so starke Veränderung des Ausdrucks zur Folge hat, hat das Gedächtnis eigentlich außerden ersten zehn Zahlworten und etwa noch einem Dutzend anderer nichts zu merken, als die Bezeichnungen des Dezimalsystems. Die außerordentliche Bequemlichkeit dieses Systems besteht gerade darin, daß diese wenigen Zeichen durch Kombinationen und Permutationen zur vollkommen sicheren Darstellung unendlich vieler Möglichkeiten genügen. Das Gedächtnis merkt sich die Ausdrucksmittel der Kategorien ähnlich, wie es sich in der gewöhnlichen Sprache die Kategorien der Grammatik merkt, die Silben, mit deren Hilfe die Fälle des Substantivs, die Konjugationsformen des Verbums und andere Wortzusammensetzungen gebildet werden. Diese Kategorien des Zählens sind uns so geläufig, daß wir für den momentanen Zweck einer besonderen Zahl sofort auch ihren besonderen Ausdruck bei der Hand haben. Die oben genannte sechszifferige Zahl 756318 gehört dem Sprachschatz nicht mehr und nicht weniger an als irgend eine Tempusform des Verbums "zählen", z. B. "ihr würdet gezählt haben". Weder diese Tempusform noch die Zahl sind darum in einem Wörterbuche zu finden. Beide gehören der Momentsprache an. Das Gedächtnis braucht mit den unzähligen Zahlen so wenig belastet zu werden, wie mit den zahlreichen Wortformen.