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Tönung der Begriffe

Analysiert man aufmerksam allgemeine, und wie man sagt, gedankenreiche Sätze, in denen vom Denken und Sprecher, die Rede ist, so wird man immer solche Begriffsnüancen finden, welche den Sätzen vorausgehen, oder welche durch die Sätze in die Worte hineingelegt werden. Hören wir z. B. das Aphorisma: "Sprechen ist leicht, Denken ist schwer" — so erzeugt die Antithese in unserer Vorstellung sofort für das Sprechen und für das Denken kleine Begriffsnüancen. Und das Geistreiche des Satzes besteht eben nur darin, daß diese Nuancen nicht besonders ausgedrückt, sondern mitverstanden werden. Es wäre sonst gar keine Antithese. Es wäre banal, zu sagen: "Nachsprechen ist leicht, Selbstdenken ist schwer". Und doch liegt in jedem der beiden Begriffe die Nuance drin, wenn wir sie so verbinden. Der Gegensatz erzeugt sich die Nuance. Es ist das ein feiner psychologischer Vorgang, den wir in seiner größten Ausdehnung als den Einfluß der gesamten Gegenwart, der Seelenstimmung oder des augenblicklich vorhandenen Gedankeninhalts auf den jeweilig gesprochenen Begriff kennen lernen werden. Wenn ich den Satz beginne: "Sprechen ist leicht, Denken ist schwer", so ist der Inhalt dieses Satzes bei mir schon beisammen, und ich stelle mir unter dem ersten Worte "Sprechen" schon ungefähr ein Nachsprechen vor. Dem Hörer gibt das erste Wort "Sprechen" die Begriffsnuance noch nicht. Die folgenden Worte können noch jede andere Nuance hineinlegen. Ich könnte fortfahren "Sprechen Sie französisch" oder "Sprechen Sie lauter" oder "Sprechen Sie mit meinen Eltern!" oder "Sprechen Sie im Parlament!" Erst wenn ich meinen Satz beendet habe, legt der Hörer in das noch nachklingende "Sprechen" die Nuance des Nachsprechens hinein.

Doch selbst dieses Aphorisma, in welchem Sprechen und Denken geradezu als Gegensätze auftreten, stimmt mit unserer Auffassung vom Sprechen und Denken überein. Das Selbstdenken, das im Verhältnis zum Nachplappern so schwer, das heißt so wenig Menschen möglich ist, ist nämlich eigentlich immer ein Neudenken und dieses ein Verlassen der hergebrachten Sprache, eine Bereicherung der Sprache, die Bildung eines neuen Begriffs, der nicht immer ein neues Wort zu sein braucht. Schwer, das heißt für die allermeisten Menschen unmöglich, ist das Denken eines Spinoza, der zum ersten Male mit voller Klarheit den Begriff der Notwendigkeit auf das Naturgeschehen anwendet, Natur und Gott identifiziert und so den Begriff dieser drei Worte verändert; schwer ist das Denken eines Newton, der den Begriff der Schwere auf die Planeten anwendet und so diesen Begriff vermehrt; schwer ist das Denken eines Berkeler oder Kant, die den Begriff der Vorstellung auf die vorgestellten Dinge anwenden und so das alte Wort um einen neuen Begriff bereichern. Das Aphorisma sinkt also zu der wenig geistreichen Behauptung herunter, daß es leicht sei, etwas Altes zu denken oder zu sprechen, daß es schwer sei, etwas Neues zu denken oder zu sprechen.