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Taubstumme

Von einem anderen Punkte aus sind vorsichtigere Forscher dazu gelangt, ein Denken ohne Sprechen bei Kindern und Erwachsenen anzunehmen. Ohne Zweifel denken Taubstumme, auch solche, die nicht in besonderen Anstalten oder durch die Not des Umgangs eine Verständigung mit ihrer Umgebung künstlich erlernt haben. Bevor wir die Psychologie eines Taubstummen genauer kennen, sollten wir freilich nur von einem Denken ohne Hören reden. Ein solches Denken ohne Hören ist keine seltene Erscheinung. Das Denken bei sensorischer Aphasie ist freilich gewiß weniger als ein Denken ohne Hören, weil es ein Denken ohne Sprache ist; die meisten Tiere sind uns gegenüber mit sensorischer Aphasie behaftet. Das Experiment ist zwar noch nicht gemacht worden, ich will aber gern glauben, die allgemeine Meinung treffe das Richtige, wenn sie sagt: Ein vollkommen vereinsamter Mensch verlernt seine Muttersprache; ein einsam aufwachsendes Kind lernt nicht sprechen. Experimente sind in diesem Falle überflüssig, weil der Zustand der Taubstummen uns ausreichend darüber belehrt, wie notwendig das Gehör für den Gebrauch unserer Sprache ist. Die Taubstummen sind stumm, weil sie taub sind. Es sind auch mit genügender wissenschaftlicher Genauigkeit Fälle beobachtet worden, in denen vier- und fünfjährige Kinder nach vollständiger Erlernung ihrer Muttersprache das Gehör verloren und darüber ebenso taubstumm wurden wie taub geborene Kinder. Es ist bekannt, wie undeutlich Leute reden, die auch in späterem Alter taub werden.

Was beweist das für unsere Frage? Doch nur, daß unsere Sprache, die bequeme Lautsprache, aufs innigste mit unserem Gehör zusammenhängt, was wohl nicht erst zu beweisen war. Es gibt im Gehirn vielleicht ein Gebiet, auf welchem sich unsere Gehörempfindungen und die Bewegungsempfindungen unserer Sprache aufs innigste assoziieren, so innig, daß man erst in allerneuester Zeit gelernt hat, diese beiden Empfindungen auseinander zu halten. Durchaus aber nicht bewiesen ist dadurch, daß die Taubstummen, während sie denken, nicht ihre eigene Sprache besitzen. Es ist nachgewiesen, daß die Taubstummen aller Länder, unabhängig von ihrer gelernten Zeichensprache, einander durch instinktive Zeichen verstehen können, durch Gesten, Mienen u. s. w., die ihnen viel ausdrucksvoller sind als den hörenden und redenden Menschen. Unsere Worte sind nur Zeichen für unsere Erinnerungen, bequeme Zeichen sicherlich. Wie aber die Streckenwärter der Eisenbahn anstatt ihrer bequemen sichtbaren Zeichen, die sie bei Tage gebrauchen, bei Nacht und bei Nebel unbequemere Feuerzeichen oder gar Hornsignale gebrauchen müssen, so ersetzen die Taubstummen in dem Nebel und der Nacht ihrer Taubheit die bequeme Lautsprache durch eine andere.